Es waren beklemmende und eindrückliche Bilder am Samstag auf dem Rhein: 135 „Stumme Zeugen“ an Bord eines Ausflugsdampfers. 135 „Seelen aus dem Ahrtal“, die stumm und mahnend von Bord in Richtung Land schauten. Mit an Bord: Inka und Ralph Orth, Eltern am am 14. Juli 2021 in den Fluten der Ahr ertrunkenen Johanna Orth. Von Remagen bis Mainz fuhren die Eltern mit dem Schiff, nach zwölf Stunden Fahrt übergaben sie in Mainz einen Brief an Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in der Staatskanzlei. Ihr Appell: „Dass sich etwas tut in diesem Justizskandal“, sagte Inka Orth: „Wir hoffen, dass wir auf ein offenes Ohr stoßen.“ Es ist ein Schrei um Gehör und Gerechtigkeit der Toten aus dem Ahrtal und vor allem ihrer Angehörigen.

"Stumme Zeugen", verstummte Seelen: Bootsfahrt der Angehörigen von 135 Toten im Ahrtal am Samstag auf dem Rhein nach Mainz. - Foto: gik
„Stumme Zeugen“, verstummte Seelen: Bootsfahrt der Angehörigen von 135 Toten im Ahrtal am Samstag auf dem Rhein nach Mainz. – Foto: gik

Die 135 „Stummen Zeugen“ sind eine Kunstaktion des Wesselinger Künstlers Dennis Meseg, der sie erstmals Mitte Februar 2024 vor dem Landtag in Mainz platzierte. Die 135 weiß gewickelten Schaufensterfiguren stehen stellvertretend für die 135 Toten im Ahrtal, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 in der meterhohen Flutwelle ihr Leben rissen. Eigentlich waren es 136 Tote in jener Nacht, eine Person ist bis heute nicht gefunden worden, ihr Tod deshalb bis heute offiziell nicht bestätigt.

Die 135 „Stummen Zeugen“ gingen am Samstagfrüh in Remagen an Bord der „Willy Schneider“, ein kleiner Ausflugsdampfer. Von Remagen aus startete die Fahrt um 6.00 Uhr morgens den Rhein hinauf, wegen der starken Strömung des Flusses ging die Fahrt nur langsam voran. Entlang des Ufers habe es immer wieder Gruppen von Menschen gegeben die mit weißen Betttüchern, Schals oder T-Shirts dem Schiff zuwinkten, und so ihre Solidarität bekundeten, berichtete Ralph Orth am Abend in Mainz gegenüber Mainz&.

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Bootsfahrt „Stumme Zeugen“ nach Mainz: Anklage von 135 Seelen

Es war die Idee von Inka Orth, Mutter der in den Fluten der Ahrkatastrophe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 in ihrer Erdgeschosswohnungen umgekommenen Johanna Orth, die die Idee zu der Bootsfahrt hatte. Der Anlass: die jüngste Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz, nach 2,5 Jahren Ermittlungsarbeit keine Anklage gegen irgendeinen Verantwortlichen zu erheben – werde gegen den damaligen Landrat Jürgen Pföhler (CDU) noch gegen seinen Kreisbrandmeister.

Stumme Zeugen an Bord der "Willy Schneider" mit Transparent Justizskandal. - Foto: gik
Stumme Zeugen an Bord der „Willy Schneider“ mit Transparent „Justizskandal“. – Foto: gik

Die Entscheidung hat weithin Empörung ausgelöst, nicht nur, aber vor allem natürlich im Ahrtal. Die Eltern von Johanna Orth sprechen von einem Justizskandal: Wenn man den Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft lese, finde man unsägliche Begründungen, in denen Dinge zu Unrecht so konstruiert würden, dass man angeblich keine Anklage habe erheben können, sagte Ralph Orth, und betonte in einem Video-Interview: „Lasst Euch nicht verschaukeln von der Justiz, die Argumente, die eindeutig dafür sprechen, dass hier Menschen hätten gerettet werden können, ignoriert.“

Ralph und Inka Orth kämpfen längst stellvertretend für die vielen Angehörigen der Toten der Flutnacht, sie haben Einspruch gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft erhoben und wollen auch eine Klageerzwingungsverfahren angestrebt. „Wir müssen unsere Stimmen erheben für die ‚Stummen Zeugen‘, sie können es selbst nicht mehr“, sagte Inka Orth vergangenen Freitag: „Dieser Justizskandal muss ein Ende haben.“

Brief an Malu Dreyer in Staatskanzlei übergeben: Schrei nach Gehör

Und genau zu diesem Zweck sollte die Bootsfahrt den Rhein hinauf dienen: Man wolle aufrütteln und „Wellen schlagen“, teilten de Orths mit. An Bord der „Willy Schneider“ drängten sich nun am Samstag 135 stumme Puppen, die ihren Blick aufs Land richteten und ihre stumme Anklage so in die Welt trugen. „135 Tote, 700 Verletzte, 9000 zerstörte Häuser“, stand auf einem Plakat an der Seite. „Justizskandal. +Steve 15.7.2021“ auf einem zweiten. Zwei Figuren im Bug umarmten einander, dazu wurde von Bord klassische Musik gespeilt.

Ralph und Inka Orth mit einer Puppe, die ihre Tochter Johanna symbolisiert, am Samstag vor der Staatskanzlei in Mainz. - Foto: gik
Ralph und Inka Orth mit einer Puppe, die ihre Tochter Johanna symbolisiert, am Samstag vor der Staatskanzlei in Mainz. – Foto: gik

Genau um 18.00 Uhr traf die „Willy Schneider“ am Samstag in Mainz an und ging am Fischtorplatz vor Anker – mitten zwischen Besuchern des Weinstands am Rheinufer. Von der Anlegestelle setzte sich dann ein kleiner Trauermarsch in Bewegung in Richtung Staatskanzlei, dorthin hatten Ralph und Inka Orth eine der Schaufensterpuppen mitgebracht – sie steht stellvertretend für die gerade einmal 22 Jahre junge Johanna. „Wir hoffen, dass wir auf ein offenes Ohr stoßen“, sagte Mutter Inka vor der Pforte der Staatskanzlei, „dass sich einfach etwas tut in diesem Justizskandal, der so nicht bleiben kann.“

Innen übergab Inka Orth dann einen Brief an Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), der von Regierungssprecherin Andrea Bähner in Empfang genommen wurde. Die Petition der Eltern „bedeutet mir sehr viel“, sagte Bähner. Wann  und ob es eine Antwort geben wird, sagte sie nicht. In dem Schreiben fordert die Familie Orth erneut eine öffentliche Aufarbeitung der in und vor der Flutnacht gemachten Fehler der Verantwortlichen vor Gericht.

Angehörige fordern Gerichtsverfahren, Rücktritt des Jusitzministers

Die Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft Koblenz habe jeden „notwendigen Respekt gegenüber den Opfer der Flutkatastrophe 2021, gegenüber den Hinterbliebenen und gegenüber jedermann, der in den Rechtstaat vertraut, vermissen“ lassen, heißt es in dem Brief, der Mainz& vorliegt. Bei der Lektüre der Begründung stellten sich Experten „die Haare zu Berge“. Der Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft müsse veröffentlicht – und Justizminister Herbert Mertin (FDP) entlassen werden, weil er ein Eingreifen zugunsten von Rechtsstaat und Opfern verweigere.

Inka Orth mit Puppe "Johanna" im Hof der Staatskanzlei am Samstag in Mainz. - Foto: gik
Inka Orth mit Puppe „Johanna“ im Hof der Staatskanzlei am Samstag in Mainz. – Foto: gik

„Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, angesichts der hier dargelegten Fakten, möchten wir Ihre dringende Intervention als Landesregierung erbitten“, appelliert das Schreiben weiter an Dreyer: „Die Übernahme fehlender Verantwortung, die Verweigerung der gebotenen Prüfung und das Flüchten in unsägliche Ausreden“ durch den Justizminister machten dessen Entlassung unabdingbar. „Als Vertreter der Landesregierung haben Sie die Verantwortung, sicherzustellen, dass Gerechtigkeit und Transparenz in diesem Fall gewahrt bleiben“, appellierte die Familie an Dreyer.

Man bitte die Ministerpräsidentin, „alle notwendigen Schritte einzuleiten, um sicherzustellen, dass zumindest eine gründliche Untersuchung durchgeführt wird und alle relevanten Fakten ans Licht kommen. Es ist wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Integrität unserer Regierung und die Rechtsstaatlichkeit unseres Landes zu wahren. Wir vertrauen darauf, dass Sie diese Angelegenheit mit der gebotenen Ernsthaftigkeit und Sorgfalt behandeln und alles in Ihrer Macht Stehende tun werden, um sicherzustellen, dass die Opfer der Flutkatastrophe und ihre Familien die Gerechtigkeit erhalten, die sie verdienen.“

Bislang hat sich Ministerpräsidentin Dreyer mit keiner Silbe zur Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz, die Ermittlungen ohne Anklage einzustellen, geäußert.

Info& auf Mainz&: Mehr zu der Begründung der Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens lest Ihr hier bei Mainz&, mehr zu den Reaktionen in diesem Mainz&-Bericht. Aus gegebenem Anlass haben wir hier noch eine Fotogalerie für Euch: