Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Koblenz, das Verfahren zur Flutkatastrophe im Ahrtal ohne Anklage einzustellen, stößt auf scharfe Kritik. Im Ahrtal herrscht weithin Entsetzen, Fassungslosigkeit und Wut. „Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer und Angehörigen“, war der gängigste Satz nach der Entscheidung. „Meine Seele bekommt Risse“, schrieb ein Betroffener aus dem Ahrtal. Anwalt Hecken kündigte Beschwerde gegen die Entscheidung an – und forderte den Rücktritt von Justizminister Herbert Mertin (FDP). Der muss sich kommenden Dienstag in einer Sondersitzung des Justizausschusses im Mainzer Landtag stellen.
Am Donnerstag hatte die Staatsanwaltschaft Koblenz zwei Jahre und neun Monate nach der verheerenden Flutkatastrophe im Juli 2021 im Ahrtal als Ergebnis ihrer Ermittlungen verkündet: Man habe die Ermittlungen gegen den früheren Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und seine Kreisbrandmeister eingestellt, zu einer Anklage werde es nicht kommen. Die Entscheidung, aber noch mehr ihre Begründung, lösten umgehend Fassungslosigkeit und Entsetzen aus – allen voran bei den Betroffenen im Ahrtal.
„Ich kann es nicht glauben“, „es ist ein einziges Desaster und nicht nachvollziehbar“, oder „ich bin fassungslos“, lauteten die durchgehenden Reaktionen von Menschen in und außerhalb des Ahrtals. „Das ist ein rabenschwarzer Tag für unseren Rechtsstaat“, kommentierte eine Mainz&-Leserin, und ein Betroffener aus dem Ahrtal kommentierte: „Es ist ein Schlag ins Gesicht. Meine Seele bekommt Risse.“
Nicht-Anklage sorgt für Unverständnis, Wut und Fassungslosigkeit
Für besonderes Unverständnis sorgte die Begründung des Leitenden Oberstaatsanwalts Mario Mannweiler, es sei nicht nachzuweisen, dass „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn Landrat Pföhler anders gehandelt hätte – er trug qua Amt die Verantwortung für den Katastrophenschutz und damit die Warnung der Bevölkerung. Mannweiler und seine Behörde mochten keine einzige Handlung sehen, die einen Unterschied hätte machen können – selbst die Ausrufung der höchsten Katastrophenwarnstufe 5 samt großflächiger Warnungen bezeichnete Mannweiler als „weitgehend deklamatorischer Natur“, durch den „keine Menschenleben gerettet werden“.
Das stieß auf breites Staunen: „Man könnte in der Schlussfolgerung dieser vollkommen absurden Begründung auch das gesamte Warnwesen in Deutschland einsparen, und mit dem Geld Fahrradwege am Nordpol bauen“, kommentierte ein Leser auf Facebook. Es sei doch „eine steile These“, dass sechs bis acht Stunden Warnzeit für eine Räumung am Unterlauf der Ahr keinerlei Menschenleben hätte retten können, kritisierte ein weiterer Leser: „Das ist unverantwortlich.“ Und wenn „nur ein einziges (und sicher wären es bei rechtzeitiger Warnung sehr viel mehr gewesen) Menschenleben hätte gerettet werden können, wäre es das nicht wert gewesen?“, fragt eine weitere Leserin.
Tatsächlich hatte Mannweiler am Ende der Pressekonferenz auf Mainz&-Nachfrage einräumen müssen, dass es für eine Anklage ausgereicht hätte, wenn auch nur eine einziges Menschenleben „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ hätte gerettet werden können. Auf die Nachfrage, ob diese Wahrscheinlichkeit 100 Prozent oder auch 99 Prozent betragen müsse, antwortete Mannweiler: „Das können wir nicht beziffern.“
Opfer-Anwalt: „Johanna Orth wäre gerettet worden“
Für Anwalt Christian Hecken, der die Angehörigen von insgesamt fünf Flutopfern im Ahrtal vertritt, ist zumindest einer der Fälle klar: „Es liegt auf der Hand, dass Johanna Orth gerettet worden wäre“, betonte Hecken in einer Reaktion unmittelbar nach der Entscheidung am Donnerstag. Das lasse sich im Fall der jungen Konditorin aus Bad Neuenahr sogar nachweisen, denn Johanna habe selbst um 20.17 Uhr gefilmt, wie die Feuerwehr vor ihrer Tür stand.
„Wir können dokumentieren, dass die Feuerwehr vor der Tür stand – und falsch gewarnt hat“, sagte Hecken. Aufgrund der falschen Informationen, die die Feuerwehr zu dem Zeitpunkt hatte, habe sie lediglich davor gewarnt, nicht in den Keller oder die Tiefgarage zu gehen – Johanna hab e sich in der Konsequenz beruhigt zu Bett begeben, weil es ja wohl nicht so schlimm werden würde. Die 22 Jahre junge Frau ertrank in der Nacht in ihrem Bett in der Erdgeschosswohnung, eine andere Warnung hätte sie gerettet, sagte Hecken.
„100 Prozent der Leute würden sagen: natürlich wäre sie gerettet worden, das liegt doch auf der Hand“, unterstrich der Anwalt – das begründe eine „mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“. Die endgültige Wertung über diesen Sachverhalt vorzunehmen, obliege aber nicht der Staatsanwaltschaft sondern sei „die ureigenste Aufgabe eines Richters“, betonte der Anwalt. Er werde deshalb umgehend Beschwerde gegen die Entscheidung einlegen, diese Beschwerde geht zunächst an die Oberstaatsanwaltschaft in Koblenz. Die müsse prüfen, ob die Entscheidung der Staatsanwaltschaft korrekt sei.
Beschwerde und Klageerzwingung mögliche nächste Schritte
Lehne die Oberstaatsanwaltschaft die Beschwerde ab, könne ein Antrag auf Klageerzwingung gestellt werden, sagte Hecken weiter – dann müsste ein Gericht darüber befinden, ob die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Anklage zu erheben, korrekt sei. „Wir haben seit geraumer Zeit erhebliche Mängel im Verfahren“, betonte Hecken erneut, das gelte für die Ermittlungen selbst, aber vor allem auch für den Umgang mit den potenziellen Nebenklägern: Ihnen sei das Recht zur Akteneinsicht ebenso verwehrt geblieben, wie das Recht, sich zu äußern.
„Es wird ganz deutlich, dass man mit absoluter Respektlosigkeit gegenüber Hinterbliebenen und Geschädigten vorgegangen ist“, kritisierte Hecken: „Das ist ein Justizskandal, der so in Deutschland noch nicht vorgekommen ist.“ Hecken hatte deshalb den rheinland-pfälzischen Justizminister Herbert Mertin (FDP) am Mittwoch, also einen Tag vor der Pressekonferenz der Staatsanwaltschaft, aufgefordert, das Verfahren zu stoppen und die ermittelnden Staatsanwälte abzuziehen. Mertin hatte jedoch jedes Eingreifen abgelehnt.
Tatsächlich sind Staatsanwaltschaften im Gegensatz zu Gerichten in Deutschland jedoch nicht unabhängig, sondern unterliegen der Weisung des Justizministeriums. Mertin hatte am Mittwoch über einen Sprecher auf Mainz&-Anfrage mitteilen lassen, er sehe „keine Veranlassung, tätig zu werden, und lehne ohnehin ein Eingreifen der Politik ab. Hecken ließ das nicht gelten: Mertin müsse als Justizminister sicher stellen, dass die Hinterbliebenen der Toten „grundlegende Rechte wahrnehmen können“, betonte Hecken: „Aus Respekt gegenüber den Angehörigen, Hinterbliebenen und Geschädigten muss der Minister eingreifen – hier stiehlt sich jemand aus der Verantwortung.“
Hecken: Justizminister Herbert Mertin muss zurücktreten
Hecken forderte deshalb am Donnerstag nichts weniger als den Rücktritt von Justizminister Mertin; „Es ist nicht tragbar, dass man weiter Minister bleiben kann, wenn man bei so etwas nicht eingreift“, betonte der Anwalt. Die Staatsanwaltschaft habe im Grundsatz erklärt, dass niemand für die Toten im Ahrtal verantwortlich sei, und dass alles unerklärbar sei – „für dieses Chaos hat der Justizminister die Verantwortung“, betonte Hecken: „Deshalb bitte ich ihn höflichst, zurückzutreten – aus Respekt für die Verstorbenen.“
Dass der Minister die Rücktrittsforderung annimmt, steht nicht zu erwarten, ein Nachspiel wird sie dennoch haben: Am Dienstag tritt der Rechtsausschuss des Mainzer Landtags zu einer Sondersitzung zusammen, Mertin muss sich dann im parlamentarischen Rahmen erklären. Auch im politischen Mainz stieß die Entscheidung der Staatsanwaltschaft auf Unverständnis: „Die Ausführungen der Staatsanwaltschaft haben mich – mit der gebotenen Zurückhaltung formuliert – nicht wirklich überzeugt“, sagte der Obmann der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss zur Ahrflut, Stephan Wefelscheid.
Es sei keineswegs so, dass das Hochwasser von 2021 „ein noch nie da gewesenes Ereignis gewesen sei“, das hätten mehrere Sachverständige im Ausschuss bestätigt. „Und weil das so ist, hätte eigentlich auch nahegelegen, dass die Verantwortlichen entsprechende Alarm- und Einsatzpläne aufstellen“, betonte Wefelscheid – dazu seien die Landkreise sogar verpflichtet. „Solche lagen aber – das stellt die Staatsanwaltschaft selber nicht in Abrede – nachweisbar nicht vor“, betonte Wefelscheid, ebenso wenig wie vorbereitende Evakuierungspläne, die aber zwingend notwendig seien.
Opposition: „Katastrophe für den Rechtsstaat“
„Ich sage: Hätte es solche gegeben, hätte die Einsatzleitung diese aus der Schublade holen und umsetzen können“, sagte Wefelscheid weiter: „Zu sagen, dass selbst bei Vorliegen solcher Pläne man aber trotzdem nicht mit Gewissheit sagen könne, ob dann Menschenleben hätten gerettet werden können, unterläuft meines Erachtens das mit dem Gesetz dargestellte Schutzziel, nämlich die Gewährleistung einer wirksamen Gefahrenabwehr.“ Mit dieser Argumentation der Staatsanwaltschaft könne „quasi jede Form von Unterlassen im Katastrophenfall als straffrei“ gerechtfertigt werden, kritisierte Wefelscheid: Ob dieser enge Kausalitätsmaßstab „also tatsächlich treffend sein kann, wage ich zu bezweifeln.“
Die AfD wurde deutlicher: Das Ergebnis sei „eine bittere Enttäuschung“ für Hinterbliebene und Flutgeschädigte, sagte AfD-Fraktionschef Jan Bollinger. Politisches Versagen bleibe „ungestraft, wenn man nur erklärt, dass die Konsequenzen des Nichthandelns unvorhersehbar waren“, kritisierte er: Wer also die Einrichtung eines wirksamen Katastrophenschutzsystems versäume, könne sich im Katastrophenfall mit der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse entlasten – das sei „ein fatales Signal.“ Die AfD sehe zudem „eine gravierende Verantwortung für den Verlauf der Flutkatastrophe bei der Landesregierung“, sagte Bollinger weiter.
Der bisherige Obmann der AfD im Untersuchungsausschuss, Michael Frisch, betonte, er sei „erschüttert“ über die Entscheidung der Staatsanwaltschaft. „Obwohl der Untersuchungsausschuss eindeutig nachgewiesen hat, dass schwerwiegende Versäumnisse auf allen Ebenen zu den vielen Todesopfern im Ahrtal geführt haben, möchte die Staatsanwaltschaft offensichtlich niemanden zur Rechenschaft ziehen“, kritisierte Frisch. Die genannten Begründungen „kann ich weder nachvollziehen noch halte ich sie für tragfähig.“ Mit der Einstellung des Verfahrens würden die Betroffenen und ihre Angehörigen „ein weiteres Mal zu Opfern gemacht“, das sei „eine Katastrophe für unseren Rechtsstaat.“
Weigand fordert Konsequenzen im Katastrophenschutz vom Land
Die regierenden Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP äußerten sich zur Entscheidung ebensowenig, wie die Landesregierung oder Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Die CDU-Opposition sagte, man nehme die Entscheidung „mit Respekt zur Kenntnis.“ Das „Versagen“ von Landrat Pföhler sei „unbestritten, klar ist aber auch: Die politische Verantwortung für das Agieren am Flutabend und in der -nacht tragen viele“, sagte der CDU-Obmann im Ausschuss, Dirk Herber. Im U-Ausschuss sei „das massive Führungsversagen der Landesregierung“ offengelegt worden, dafür trage das Land die Verantwortung, betonte Herber: „Ministerpräsidentin, Minister, Staatssekretäre und Leiter nachgeordneter Landesbehörden versagten in den Stunden der Not.“
Die heutige Landrätin des Landkreises Ahrweiler, Cornelia Weigand (parteilos), betonte hingegen, die Einstellung sei „für viele von uns Betroffenen wohl eine schmerzhafte Botschaft.“ Auch wenn diese Entscheidung „sicherlich nicht für jeden befriedigend ist, so wird damit zumindest der unbefriedigende Zustand der Schwebe nach fast drei Jahren beendet“, sagte Weigand weiter. Es sei aber „sehr verständlich, wenn Angehörige und Hinterbliebene der Flutopfer ihre weiteren rechtlichen Möglichkeiten prüfen.“
Aus ihrer Sicht gebe es nun aber auch „eine moralische Verantwortung“, betonte Weigand: „Bei einer Katastrophe dieser Dimension hätte wohl niemand fehlerfrei agiert. Aber gar nicht zu handeln, halte ich für keine Option. Von einem Landrat oder einer Landrätin erwarte ich, in einer solchen Lage vor Ort zu sein und das in der eigenen Macht Stehende für die Menschen zu tun.“
„Das Vertrauen in den Rechtsstaat ist völlig zerrüttet“
Die Katastrophe habe aber vor allem deutlich gemacht, „dass der Katastrophenschutz in der gesamten Bundesrepublik auf allen Ebenen nur unzureichend aufgestellt ist“, betonte Weigand zudem: „Ein funktionierendes und resilientes System sowie die Bewältigung einer Katastrophe können und dürfen nicht von nur einer Person abhängig sein“ – es sein andere Strukturen notwendig. Der Kreis ziehe Konsequenzen unter anderem mit der Neustrukturierung des Verwaltungsstabes, aber es müsse auch „landes- und bundesweit ein übergeordnetes System etabliert werden, das bei solchen Ereignissen greift“, forderte Weigand.
„Die Bewältigung großer Katastrophen kann nicht allein auf betroffener lokaler Ebene und nicht allein von Ehrenamtlichen geleistet werden“, forderte Weigand – ein übergeordnetes, professionelles Monitoring und Management solcher Lagen sei notwendig. Zudem müsse das Brand- und Katastrophenschutzgesetz überarbeitet werden, „um zum Beispiel die Einsatzleitung bei kreis- oder länderübergreifenden Ereignissen klar zu definieren“, forderte Weigand: „Auch bundesweit muss der Katastrophenschutz, der derzeit noch einem Flickenteppich gleicht, insgesamt einheitlicher aufgestellt werden.“
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, sagte Anwalt Hecken noch, sei geeignet, „das Vertrauen in den Rechtsstaat völlig zu zerrütten.“ Und der Vater von Johanna, Ralph Orth, sagte, die Begründung der Staatsanwälte sei völlig unverständlich Bei jeder Weltkriegsbombe würden Tausende Menschen evakuiert, „obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass eine solche Bombe explodiert, nahezu null ist.“ Nun seien Fakten geschaffen worden, kritisierte Orth: „Bis zuletzt haben wir gehofft, dass jemand für Recht und Ordnung sorgt, das ist nicht geschehen.“
Info& auf Mainz&: Eine ausführliche Analyse der Entscheidung der Staatsanwaltschaft lest Ihr hier bei Mainz&. Mehr über die Geschehnisse und Hintergründe in der Flutnacht könnt Ihr noch einmal hier bei Mainz& nachlesen.