Am Freitag beginnt das 44. Open Ohr, und wieder einmal wagt sich die Freie Projektgruppe an ein höchst aktuelles und brisantes Thema: „Körperbau“ heißt die schnöde Überschrift, dahinter aber steht die Frage, wieviel Technik wir in unsere Biologie Einzug halten lassen wollen. „Wie viel Hardware verträgt der Mensch?“, fragt gleich das Eröffnungspodium am Samstagmorgen. Es geht um die Frage, wie gut es ist, unsere Körper mit Technologie verschmelzen zu lassen, und welche Rolle dabei die Ethik spielt. Das ist hochaktuell in Zeiten, in denen Fitnessarmbänder und Sprachassistenten, Roboter und sogar Körper-Ersatzteile sich in unserem Leben breit machen. Und wie immer auf dem Open Ohr wird das Festivalthema auch mit Theater, Film und Workshops beleuchtet, dazu gibt es coole Weltmusik – und endlich anständigen Wein.
Das Open Ohr ist ja das einzig übrig gebliebene politische Jugendkulturfestival seiner Art in Deutschland, und es macht in diesem Jahr wieder einmal seinem Ruf, brisante Themen aufzugreifen, alle Ehre. Nachdem das Thema „Moderne Sklaverei“ vergangenes Jahr in der Umsetzung leider haperte, darf man nun gespannt sein, wie die Macher das Thema „Körperbau“ umsetzen wollen. Rund zwölf Podien gibt es zum Festivalthema, da geht es um die Selbstvermessung des Körpers mittels Fitnessarmbändern, um Designerbabies, die Grenzen der Natur und den gebauten Menschen oder auch um die „Enthinderung“ des Körpers – also die Hilfe durch Technik.
Diskutanten sind dabei meist Professoren für Ethik und Philosophie, Gesundheitswissenschaftler, Historiker und Technikfolgenforscher, aber auch Vertreter der Verbraucherzentrale, des Rollstuhlsports und des Vereins Cyborg aus Berlin. Interessant dürfte es auch werden, den Vertreter der Transhumanen Partei zu erleben – Transhumanisten wollen die Grenzen menschlicher Möglichkeiten durch den Einsatz technologischer Verfahren erweitern und sehen darin durchaus auch schon mal die Geburt einer neuen Spezies. „Bei jungen Leuten ist das schon ein Thema“, sagte Sarah Günther von der Freien Projektgruppe bei der Vorstellung des Programms.
„Innovation in Wissenschaft und Technik beeinflussen unsere Körper immer mehr“, sagte denn auch Sozialdezernent Eckart Lensch (SPD), in diesem Jahr erstmals zuständig für das Open Ohr: „Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel.“ Bisher habe der Mensch die Umwelt an seinen Körper angepasst, nun sei erstmals der Punkt gekommen, an dem sich der menschliche Körper an die Umwelt anpassen könne. „Wir verschieben unseren Körper mit dem technischen Fortschritt, aber was fehlt ist ein gesellschaftlicher Diskurs über diese Themen“, sagte Lensch. Die Technisierung des Körpers werfe ethische Fragen zu Freiheit und Selbstbestimmung auf, aber auch Fragen wie: „Wie stark wollen wir in die Umwelt eingreifen? Wer wird privilegiert, wer profitiert vom Körperumbau in der Zukunft?“ Zeit also, über die Chancen und Risiken zu diskutieren, die mit dem neuen Körperbau einhergehen.
Prädestiniert dazu, das Thema Körperbau aufzugreifen, ist natürlich das Theater, und so gibt es in diesem Jahr ein Theaterstück über die Liebesbeziehung zu einem Sexroboter oder darüber, wie Tänzer selbst langsam zu Cyborgs werden und mit künstlicher Intelligenz interagieren. Wie ändert sich unsere Definition von Zweisamkeit, wenn wir mit einem Roboter agieren, wie verändert das unser Denken über Sexualität – das sind Fragen, die dabei gestellt werden. Höhepunkt wird wieder einmal die große Platzbespielung sein, wenn die gesamte Hauptwiese zur Freiluftbühne wird: Am Sonntagabend um 23.00 Uhr wird der sanfte Riese DUNDU mit seinen vielen verschiedenen Körper-Facetten die Besucher zum Staunen bringen.
Auch das Filmprogramm greift natürlich das aktuelle Festivalthema auf, zu sehen sind unter anderem der Stummfilm „Der Golem, wie er in die Welt kam“ sowie der bekannte Actionfilm Blade Runner. In den Kasematten, inzwischen die Kulturei, zeigen die „Brandstifter“ die Ausstellung „Antikörper/Antibodies“, dazu gibt es auch eine Soundpoeten-Performance. Und auf der Hauptwiese wird sich am Samstag ein ziemlich großer Industrieroboter tummeln, der mit dem Künstler UliK tanzt – oder der mit ihm? Auch die Workshops drehen sich ganz um das Thema Körperbau: Beim afrikanischen Tanzworkshop, oder beim Workshos Stimme und Sprechen lernt Ihr Euren Körper kennen und beherrschen, lernt mit Lampenfieber umgehen und durch Haltung und Artikulation Eure Ausstrahlung zu verändern.
Und dann ist da natürlich die Musik, auch die ist Körpererlebnis pur: 19 Musikacts hat das Open Ohr 2018 zu bieten, die Bandbreite reicht von Soul und Jazz über Country bis hin zu karibischen Rhythmen und sattem Rock’n Roll. Den Auftakt machen am Freitagabend die Afro-Cuban Tigers of India, die laut Programmheft einen „tanzbaren und hypnotischen Mix aus Afro-Beats, Karibik-Rhythmen, Balkan-Dance und indischem Trance mit satten Bläsern“ mitbringen. Ihnen folgt das Rock-Trio „DeWolff“ aus den Niederlanden, die ihr neuestes Album „Thrust“ im Gepäck haben und laut Ankündigung „neo-psychedelischen Sound“ mit „kaleidoskopischen Hammond-Orgelklängen, ausgedehnten Gitarrensoli und stampfenden Schlagzeugparts“ bieten. Highlight ist dann am Freitagabend der Auftritt der Kölner US-Hip-Hopperin Akua Naru mit ihrem Soul-infizierten Global Hip-Hop – das geht garantiert in den Körper.
Einen groovigen Mix aus Funk, Soul und Hip-Hop haben auch die Jungs von Lucille Crew aus Tel Aviv dabei, die am Samstag um 20.30 Uhr die Hauptbühne bespielen – gefolgt von den Ska-Punks von Rantanplan. Sonntag dürft Ihr Euch auf die neuseeländisch-holländische Band My Baby mit „hypnotischem Genrehopping zwischen spirituellem Blues, Country, Dub und Soul sowie einer zeremoniellen Live-Performance“ freuen. Danach wird es süd-afrikanisch mit Freshlyground, die 2006 bei den MTV European Music Awards zum „Best African Act“ gekürt wurden und 2010 gemeinsam mit Shakira die Fußballhymne „Waka Waka“ zu einem Welthit machten. Am Montag beschließen dann El Flecha Negra und die Darmstädter Reggae Band Ease Up Ltd. das Kapitel Musik auf dem Open Ohr 2018.
Die riesige Musikvielfalt ist auch dem gestiegenen Etat des Open Ohr zu verdanken: 20.000 Euro stellt die Stadt Mainz dem Festival im Vorfeld mehr zur Verfügung, der Haushaltsansatz steigt damit auf rund 390.000 Euro. Das ist nur ein Vorschuss, wohlgemerkt: Das Open Ohr spielt seit vielen Jahren nun schon seine Kosten wieder vollständig selbst ein. „Wir können das Festival gut finanzieren und werden wahrscheinlich auch noch mehr Einnahmen generieren können als die 360.000 Euro im vorigen Jahr“, sagte Lensch. Für Künstler gibt das Open Ohr dabei in diesem Jahr nach Angaben des Dezernenten rund 76.000 Euro aus. Bleibt noch das Kabarett: Freitagnacht gibt es statt Mitternachtskabarett einen PoetrySlam, Samstagnacht dann aber traditionell um Mitternacht satirisches mit dem Slam-Poeten Nektarios Vlachopoulos, Markenzeichen Deutschlehrer mit griechischem
Integrationshintergrund. Am Sonntag könnt Ihr bereits um 17.15 Uhr Anna Mateur auf dem Drususstein erleben, während das Kabarettzelt um Mitternacht Sebastian Lehmann zum Beben bringen wird – der Kabarettist wurde zuletzt durch seine kuriosen Alltags- und Elterngeschichten via SWR3 bekannt. Am helllichten Tag dann versprüht Nico Semsrott am Montag um 12.30 Uhr seine Gesellschaftsspitzen nach dem Motto: „Freude ist nur ein Mangel an Information“. Informationsmangel, so viel ist klar, solltet Ihr am Ende der vier Open Ohr-Tage definitiv nicht mehr haben – Freude aber hoffentlich auch.
Die gute Nachricht: Die Ticketpreise sind stabil geblieben, und es soll endlich einen Stand mit anständigen Weinen geben. Für die Camper aus dem nunmehr fürs Zelten gesperrten Zitadellengraben gibt es einen Ausweichplatz am Römerwall – weiter weg, aber dafür schön im Grünen. Erwartet werden wieder einmal zwischen 12.000 und 13.000 Besucher an den vier Tagen, 9.000 davon dürfen gleichzeitig auf das Gelände. Der Vorverkauf läuft bereits auf Hochtouren, vor einer Woche waren bereits rund 2.000 Dauerkarten verkauft – Ihr solltet Euch also beeilen. Denn wenn es richtig voll wird, haben Dauerkarteninhaber Vorrang beim Betreten des Geländes – an der Tageskasse gibt es dann womöglich keine Karten mehr.
Info& auf Mainz&: 44. Open Ohr vom 18. bis 21. Mai 2018 wie immer auf der Zitadelle in Mainz. Dauertickets für alle vier Tage kosten 36,20 Euro im Vorverkauf und 40,- Euro an der Abendkasse, die Tickets sind gleichzeitig Fahrkarte für Busse und Bahnen. Tageskarten gibt es für 23,- Euro und nur vor Ort an den Kassen. Alle Infos und das gesamte Programm findet Ihr auf der Homepage des Open Ohr genau hier. Unseren Bericht vom Open Ohr 2017 findet Ihr hier bei Mainz&.