Nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos hilft Deutschland – ein bisschen. Die Bundesregierung will nun 150 minderjährige Flüchtlinge aufnehmen, Rheinland-Pfalz kündigte am Freitag an, Hilfsgüter in Form von Schutzmasken und Desinfektionsmitteln nach Lesbos zu schicken – ob sie ankommen, ist aber noch fraglich. Unterdessen ist der Mainzer Arzt Gerhard Trabert auf der Insel angekommen – und berichtet von unfassbaren Szenen: „Tausende Menschen schlafen, leben, vegetieren am Straßenrand“, schreibt Trabert, er sei geschockt von den Zuständen: „Da fehlen mir einfach die Worte.“
In der Nacht zu Mittwoch der vergangenen Woche war das Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos praktisch komplett einem Großbrand zum Opfer gefallen, ausgelöst offenbar durch mehrere Brandstiftungen. Unter anderem sollen Flüchtlinge das Camp selbst angesteckt haben, aus Verzweiflung über die wochenlange Abriegelung des Camps wegen erster Covid-19-Infektionen unter Flüchtlingen. das Camp, das für 2.800 Flüchtlinge gebaut wurde, beherbergt seit Monaten mehr als 12.500 Flüchtlinge und ist damit völlig überfüllt, die Zustände beschrieben Helfer schon vor dem Brand als katastrophal.
Nach dem Brand setzte sich Hilfe vor Ort offenbar nur langsam in Bewegung: Es fehlt an Wasser und Essen, an Unterkünften sowieso. Die griechische Regierung errichtet derzeit ein neues Feldlager mit rund 1.000 Plätzen, nicht annähernd ausreichend für die Zahl der dort gestrandeten Flüchtlinge. In Deutschland wächst derweil der Druck auf die Bundesregierung, die gestrandeten Flüchtlinge zu evakuieren und auch in Deutschland aufzunehmen. Vergangenen Mittwoch forderten 500 bis 600 Mainzer in einer spontan angemeldeten Kundgebung auf dem Mainzer Schillerplatz, die Flüchtlinge aus Moria zu Evakuierung in Deutschland aufzunehmen: „Wir haben Platz“, riefen sie.
Auch aus der Politik wächst der Druck: Entwicklungshilfeminister Gerd Müller (CSU) forderte, 2000 Flüchtlinge aufzunehmen, 16 CDU-Bundestagsabgeordnete forderten in einem Offenen Brief die Aufnahme von 5.000 Flüchtlingen – die Grünen wollen gleich alle 12.000 Flüchtlinge aufnehmen, wie Grünen-Chefin Annalena Baerbock am Sonntagabend bei Anne Will sagte. Die Bundesregierung will bislang 150 minderjährige Flüchtlinge aufnehmen, nicht mehr – vor allem Bundesinnenminster Horst Seehofer (CSU) sperrt sich bislang gegen weitergehende Lösungen mit dem Argument, es brauche eine europaweit angestimmte Lösung. Zehn europäische Länder haben bisher signalisiert, Flüchtlinge aus Lesbios aufnehmen zu wollen, das gilt aber vor allem für Minderjährige.
Der rheinland-pfälzische SPD-Fraktionschef Alexander Schweitzer kritisierte, Seehofers Handeln sei „beschämend: Wer sich angesichts von 13.000 Menschen in elendiger Not zur Aufnahme von 150 minderjährigen Flüchtlingen durchringen kann, handelt verantwortungslos.“ Es sei „ein unverzeihlicher Fehler, dass Deutschland und Europa die humanitären Katastrophe auf der Insel Lesbos tatenlos geschehen lassen.“ Deutschland müsse seiner humanitären Verantwortung umgehend gerecht werden und weitere Kontingente von Flüchtlingen aufnehmen. „Wir können, wir wollen und wir müssen den Menschen in Moria helfen“, unterstrich Schweiter.
Auch Rheinland-Pfalz hat aber bislang nur angeboten, 250 Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, die Landesregierung kündigte am Freitag an, 125.000 Mund-Nasen-Schutz-Masken und 12.500 Liter Desinfektionsmittel nach Lesbos zu liefern. „Wir verfügen in Rheinland-Pfalz aktuell über eine ausreichende Menge an Schutzausrüstung gegen das Coronavirus“, sagte Gesundheitsministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD). Zur Linderung der akuten Notlage der Menschen auf Lesbos wolle man das Material zur Verfügung stellen, damit die Gefahr von Ansteckungen mit dem Coronavirus unter den Betroffenen verringert werden könne.
Die Landesregierung oragnaisierte dafür kurzfristig einen Charterflug der Fluggesellschaft Condor, den die Airline dem Land zum Selbstkostenpreis zur Verfügung stellte. Die Hilfsgüter sollen Anfang kommender Woche bei den Geflüchteten vor Ort sein. Zusätzlich erging insbesondere an rheinland-pfälzische Hersteller ein Appell, diese Aktion mit Hygieneartikel wie Windeln und Kleinkindnahrung zu unterstützen. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) betonte zudem, mehr als 12.000 Menschen brauchten eine Perspektive, hier seien „alle Länder in Europa und auch Deutschland gefordert, ein gemeinsames solidarisches Konzept schnell auf den Weg zu bringen und umzusetzen.“
Unterdessen aber ist die Lage vor Ort dramatisch schlecht: „Tausende Menschen schlafen, leben, vegetieren am Straßenrand“, berichtete am Wochenenden der Mainzer Arzt Gerhard Trabert. Der Professor und Obdachlosenarzt war am Freitag spontan mit Hilfsgütern nach Lesbos gereist, auf seinem Facebookprofil berichtete er seither über die Szenen, die sich ihm vor Ort darbieten: Menschen, die am Rande der Straße neben Leitplanken schlafen, unter Bushaltestellen, auf blankem Beton. Nur wenige Menschen hätten Zelte, die meisten schlafen unter freiem Himmel viele haben nicht einmal Decken oder Schlafsäcke.
„Ich bin geschockt, und da wird in Deutschland, in Europa ernsthaft noch diskutiert, ob man einige unbegleitete Kinder mehr evakuieren soll“, schreibt Trabert, und fordert: „Alle müssen evakuiert werden. Sonst wird es nicht mehr lange dauern bis die ersten Menschen am Straßenrand sterben.“ Der Mainzer Arzt behandelte inzwischen auch Verletzte, er habe „zahlreiche Patienten, besonders Kinder mit superinfizierten Wunden, oft Brandverletzungen, behandelt“, schreibt er. Immer wieder komme es angesichts der verzweifelten Situation auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen – am späten Sonntagabend musste der Mainzer Arzt sogar noch Stichwunden verarzten.
Trabert hatte am Mittwoch in einer bewegenden Rede Deutschland und Europa aufgerufen, sofort und umgehend zu handeln. „Wenn wir dies nicht tun, verraten wir die Menschenrechte“, sagte er, und warnte, es könne doch wohl nicht sein, dass Deutschland aus Angst vor rechten Populisten die Menschenrechte so komplett missachte. Trabert hatte auch von einem jungen syrischen Flüchtling berichtet, Abdelkarim wurde auf der Flucht in den Rücken geschossen und ist seither querschnittsgelähmt.
Auf Lesbos gelang es Trabert nun, den jungen Mann wiederzufinden: Abdelkarim sei zwar mit einem Zelt ausgestattet worden, eine echte Versorgung des Querschnittsgelähmten sei aber derzeit auf der Insel überhaupt nicht möglich, berichtete Trabert: „Ich bin sehr traurig über seinen psychischen Zustand“, berichtete der Mainzer Arzt: „Er wirkt total erschöpft, hoffnungslos, er wirkt depressiv und ich habe Angst das er seinem Leben selbst ein Ende macht.“
Gleichzeitig habe er erfahren, dass sich der Europäische Gerichtshof bei der griechischen Regierung über Abdelkarims Versorgungszustand informiert habe. Die griechischen Behörden hätten daraufhin geantwortet: Es gehe ihm „sehr gut ginge, er habe ein Zelt, genügend Wasser und Lebensmittel sowie eine gute medizinische Versorgung“, schreibt Trabert: „Ich bin fassungslos über diese Lügen.“ er werde jetzt umgehend einen Medical Report verfassen, der die wahre Situation beschreibe – Abdelkarim müsse umgehend evakuiert werden.
Trabert ist nicht der einzige, der versucht, vor Ort den Menschen zu helfen – doch offenbar werden die Helfer dabei von der griechischen Polizei stark behindert. Die Fotojournalistin Alea Horst aus Hessen berichtet, wie sie und Trabert sowie weitere Helfer stundenlang an Absperrungen warten mussten, Lebensmittel nicht austeilen und Menschen nicht medizinisch versorgen durften. Horst berichtet auch, die Hilfslieferung aus Rheinland-Pfalz bekomme keine Landeerlaubnis auf Lesbos, auch eine Hilfsmission des Technischen Hilfswerks hätte gestoppt werden müssen – „aus politischen Gründen“. Dabei sei die Hilfe dringend vonnöten, die Menschen hätten seit vier Tagen nichts erhalten. Wir können das bislang nicht verifizieren, werden dem aber am Montag nachgehen.
Auch die WDR-Journalistin Isabel Schayani berichtet, dass Hilfsorganisationen vor Ort massiv behindert werden. „Die Versorgungslage ist so, dass man denkt: Das ist nicht Europa“, berichtete Schayani live im WDR in einem äußerst eindringlichen Bericht: „Wir haben gesehen, dass die Leute das Abwasser trinken.“ Die griechische Regierung versuche offenbar, „mit Horrorbildern die Menschen davon abzuhalten, ihren Weg weiter nach Europa zu suchen“, berichtete Schayani weiter Die UNO sei völlig überfordert, Griechenland versuche, einfach nur abzuschrecken, und die 12.000 Menschen auf der Straße seien das „Faustpfand“. Die erfahrene und renommierte Fernsehjouralistin musste dabei um Fassung ringen: „Das ist jenseits von Worten“, sagte sie – das ganze Video könnt Ihr Euch hier auf Facebook ansehen.
Die Katastrophe von Moria rückt derweil immer mehr das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik in den Fokus – Bundeskanzlerin Angelka Merkel (CDU) räumte am Freitag ein, eine solche gebe es de facto nicht. Am Wochenende veröffentlichten sieben Wohlfahrts- und Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl, Brot für die Welt, Misereor, der Paritätische Wohlfahrtsverband sowie die Caritas einen Offenen Brief an Merkel, in dem sie die sofortige Evakuierung der Flüchtlinge von Lesbos forderten – und eine Umkehr in der Flüchtlingspolitik: Ein „Weiter so“ könne nach dem Brand von Moria keine Option sein, die Strategie, Schutzsuchende an den Außengrenzen Europas festzuhalten, um sie direkt von dort in autoritäre Staaten wie die Türkei zurückzuschicken, sei gescheitert. „Bitte nutzen Sie die deutsche Ratspräsidentschaft, um den notwendigen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik einzuleiten“, heißt es in dem Appell.
Info& auf Mainz&: Mehr zum Brand des Flüchtlingscamps auf Moria sowie zu den Zuständen dort auch schon vor dem Brand haben wir hier berichtet, unseren Artikel über die Kundgebung in Mainz und die Reden dort findet Ihr hier. Der von Gerhard Trabert gegründete Verein Armut & Gesundheit sammelt derzeit Spenden für Hilfsgüter auf Lesbos, den Verein findet Ihr hier im Internet.