Sie sind „der Narren-Superheld“, die selbsternannten Retter der echten Narretei, der „Närrische Überwachungsverein“ eben. Seit fünf Jahren macht sich ein Verein höchst närrischer Mainzer auf, die Fastnacht von unten zu unterwandern. Sie unterziehen Kneipen in der Mainzer Altstadt ihrer Fastnachtstauglichkeit und sie feiern „Poltersitzungen“ statt Prunksitzungen: Der NÜV gehört sicher zu den anarchischsten Entwicklungen, die die Mainzer Fastnacht in den vergangenen Jahren zu bieten hatte. Hervorgegangen aus der Hafeneck-Kneipenfastnacht der links-alternativen Szene, feiert der NÜV inzwischen mit großem Erfolg eigene Sitzungen auf einem Eventschiff auf dem Rhein.
„Unser Ziel ist, die klassische Fastnacht wiederzubeleben“, sagt Endie Neumann, Sitzungspräsident des NÜV: „Wir sind die Alternative zur alternativen Fastnacht, aber nicht die Alternativen.“ Seit die Fastnacht in Mainz in den 1950er Jahren den Marsch in die etablierten Vereine antrat, hat es immer wieder alternative Gegenbewegungen gegen die in Ritualen erstickte Fastnacht der gesellschaftlichen Spitzenvertreter gegeben.
Vor 24 Jahren machten sich die Meenzer Drecksäcke so auf, die wahre Fastnacht vor den etablierten Spießern zu retten – die „Alternativfastnachter“ aus dem grün-linken Milieu stellten nach dem Vorbild der Kölner Stunksitzung in Mainz „Trunksitzungen“ auf die Beine und lasen nun ihrerseits nicht nur der Politik, sondern auch der etablierten Fastnacht die Leviten. Man schaffte Komitee und Narhallamarsch, Tusch und Schunkeln ab, eine große rosa Sau tanzt als Maskottchen durch die Drecksack-Sitzungen.
Die Meenzer Drecksäcke sind längst Kult, nun formieren sich gegen die etablierten Alternativen wieder neue Bewegungen. Keimzelle ist die urtümliche Kneipenfastnacht, wo „das Volk“ selbst in die Bütt steigt, wo mit Sitzungsformaten und Inhalten experimentiert wird. Da gibt es „Närrische Kellergelächter“ und Sitzungen in einer rollenden Straßenbahn, werden offene Kneipensitzungen gefeiert, wo jeder in die Bütt steigen darf.
Beim NÜV besingen die Abgas-Amazonen den kommenden Giftmüll im Weisenauer Steinbruch, den Dieselgestank in der Stadt und den Altmüllduft der Schiffe auf dem Rhein und schmettern fröhlich: „Ja, das ist die Mainzer Luft, Luft, Luft!“ Die „Schoppepetzer“ besingen das arme Mariechen, das weinend vorm Fernseher sitzt und angesichts des Elends der Welt beschließt: „Wird Zeit dass wir Aufstehen, auf dass der Wind sich dreht!“ Nur leider haben die Schoppepetzer vor ihrem Vortrag schon ein paar Schoppe gepetzt, also getrunken, so kommt ihr Vortrag hochgradig schräg daher.
„Es ist ja auch eine Foltersitzung“, seufzt der Sitzungspräsident, und gesteht: „Wir sehen die Vorträge hier heute auch zum ersten Mal.“ Beim NÜV wird nicht gekastet und nicht geprobt, es gibt keine Wanderredner und keine Profis, hier redet jeder, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Im Jahr 2000 traf sich die Gruppe zum ersten Mal im legendären Hafeneck in der Mainzer Neustadt zur Wirtschaftsfastnacht. Die Sache wuchs, heute hat der Verein um die 60 Mitglieder. Die Sitzungen wurden größer und begehrter, da zog man um auf das Eventschiff Cassian Carl. Inzwischen feiert der NÜV hier im fünften Jahr seine höchst unkonventionell-anarchischen Sitzungen.
„Viele, die auf der Suche sind nach etwas Frechem, kommen zu uns“, sagt Neumann. Er selbst nennt sich „ein Präsident im Exil“, als Sitzungspräsident mischte er schon die Rüsselsheimer Fastnacht auf. „Wir haben die Fastnachtswelt richtig auf den Kopf gestellt, da gab’s richtig Alarm“, sagt Neumann grinsend. Dabei halten sie beim NÜV gar nichts von allzumodernen Elementen: „Wir finden die Wurzeln hervorragend und wollen dahin zurück“, sagt Neumann – Fastnacht von unten wolle man machen, „wie es mal gedacht war.“
Und so haben sie beim NÜV ein Komitee, und bei jedem Einmarsch erklingt der Narhallamarsch. Die Sitzung eröffnet natürlich ganz traditionell ein Protokoller, „Klaus Doller“ alais Klaus Deckert bläst den braunen Horden in Chemnitz den Marsch, „Hase, Du bleibst hier“ inklusive. „Braune Böcke sind dort Gärtnergeselle, drum musste dort alles auf den Kopf stelle“, reimt Deckert, und lässt auch am Verfassungsschutz kein gutes Haar. Auch mit dem OB-Kandidat der CDU, Nino Haase, fremdelt er: „Politisch hat er noch nicht viel druff, aufräumen will er den Rathaus Muff“, doch ob der Haase mit doppel „a“ das Format für die Stadt habe – wohl kaum, findet der Protokoller.
Die Bütt, in der der Redner steht, erinnert an ein altes Fass. Das kaufte der NÜV jüngst aus dem Westerwald, ein Fastnachtsverein bereitete ihnen einen begeisterten Empfang: „Wenn schon wir nicht in die Meenzer Fastnacht schaffen, dann wenigstens unsere Bütt!“ Auch ein Prinzenpaar gibt’s beim NÜV, der Prinz muss selbst auch in die Bütt und legt eine höchst närrische Interpretation des saudischen Mordes an dem Journalisten Kashoggi auf: „Versteh ich recht? Die Leitung ist so schlecht! Das Gespräch hat Lücken – Zerteilen in ganz kleinen Stücken?“
Überhaupt sind Vorträge beim NÜV grundsätzlich gereimt, auch der der höchst politischen Biene alias Nicole Gerharz, die sehr ernsthaft den Untergang der Bienenvölker Dank Glyphosat-Hörigkeit geißelt und schimpft: „Pestizide in der Luft, das ist unser Frühlingsduft.“ Dazu wippen die überdimensionalen Narrenkappen, der NÜV-Orden ist eine Gasmasken-Eule, und eine Johanna von Kastel singt „Küss mich, liebe Fastnacht, Du schenkst uns Narren die Freiheit“, und das Lied kommt so rauchig und nostalgisch daher, wie eine verqualmte Kneipe morgens um halb vier.
Dazwischen lesen die diversten Redner der Politik die Leviten, lassen die Köpfe von Lobbyisten, Spekulanten und Verkehrsministern rollen, besingen den Männerschnupfen oder stellen das Ballett zu „Karl der Käfer“ mit Kettensägen in den Hambi-Wald. Sitzungspräsident Neumann zelebriert als OPriginal Neustadt Fred ein höchst närrisches Mittagsmenü, eine Suffragette erklimmt die Bütt und ein Weinkönig, der nur greint und wieder abgeht. „Sag mir Quando, sag mir, wann geht die Welt denn endlich unter?“ fragt der Chor Rote Neustadt.
Vielleicht ja bei den „Tontauben“, die in wunderschönem 20-er Jahre Stil den „Luftkurort Bad Mombach“ besingen und zwischen Nestlé und dem Klärwerk ganz tief einatmen. Oder bei Schorschi, dem rheinhessischen Urmenschen, der samt Mammutsche von der Hochwasserwelle ans NÜV-Schiff gespült ward und am frühen Morgen feststellt: „Es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, beim Meenzer ist es umgekehrt.“
„Wir sind Opfer und auch Täter, die Wahrheit ist meist unbequem“, schreibt Zuschauern und Politikern gleichermaßen „Wutbürger“ Jürgen List aus Heidelberg ins Stammbuch. Der hat einen Scheißhaufen auf dem Kopf und arbeitet sich philosophisch-nachdenklich und närrisch höchst treffsicher (und mit dem höchsten Niveau des Abends) durch die verschiedenen Untiefen der Welt, um am Ende dem kleinen Mann selbst aufs Korn zu nehmen: „Verarschst du dich? Ich denke: ja.“ Fastnacht von unten, fürwahr. „Fastnacht“, sagt Neumann, „sollte ja gerade so sein, dass sich unten und oben mal umdreht.“
Info& auf Mainz&: Den Närrischen Überwachungsverein findet Ihr hier im Internet.