Das politische Erdbeben von Thüringen hat seine Schockwellen auch durch die Mainzer Parteienlandschaft geschickt. Quer durch alle Parteien reagierten Politiker geschockt auf die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich am Mittwoch zum thüringischen Ministerpräsidenten. Kemmerich ließ sich mit den Stimmen der rechtsextremen AfD unter ihrem Frontmann Björn Höcke ins Amt wählen – und ließ danach keinerlei Unrechtsbewusstsein erkennen. Auch führende FDP-Politiker in Bund und Land taten sich schwer, gratulierten teilweise sogar zur Wahl. Die Mainzer Linke forderte deshalb sogar Grüne und SPD auf, keine Ampel-Koalition mit der Mainzer FDP einzugehen, bevor sich die Liberalen nicht klar von jeglicher Kooperation mit der AfD distanzierten.

Schon im Rosenmontagszug 2019 nahmen die Mainzer Fastnachter auf einem Motivwagen die AfD aufs Korn. - Foto: gik
Schon im Rosenmontagszug 2019 nahmen die Mainzer Fastnachter auf einem Motivwagen die AfD aufs Korn. Im Text hieß es dazu: Neulich im Gauland – „Tiefbrauner Sumpf und dumpfe Sprüch,/ im Gau-Land grölt man fürchterlich./ Der Mob ruft laut: „Vollbring das Werk,/ wir wollen den totalen Zwerg!““ – Foto: gik

Kemmerich war am Mittwoch überraschend im dritten Wahlgang bei der Wahl zum thüringischen Ministerpräsidenten im Erfurter Landtag angetreten – und war mit 45 Stimmen ins Amt gewählt worden. Der eigentlich designierte Ministerpräsident Bodo Ramelow (Line) kam hingegen nur auf 44 Stimmen, Ramelow hatte seine rot-rot-grüne Koalition als Minderheitsregierung fordert führen wollen. Kemmerich kam ins Amt, weil die rechtsextreme AfD statt ihrem eigenen Kandidaten geschlossen Kemmerich wählte – ein Zufall war das offenbar nicht.

Am Donnerstag wurde klar: Die Konstellation war in den tagen vor der Wahl mehrfach durchgespielt worden, die AfD hatte sogar entsprechende Wahl-Angebote an CDU und FDP geschickt. Während CDU-Landeschef Mike Mohring aber es ablehnte, sich als Gegenkandidat aufstellen zu lassen, tat Kemmerich das Gegenteil: In geplanter Aktion stellte sich der FDP-Mann, dessen Partei ganze fünf Abgeordnete im Thüringer Landtag stellt, überraschend im dritten Wahlgang zur Wahl – und wurde gewählt. Dass Kemmerich die Wahl danach auch noch annahm, machte ihn zum ersten in Deutschland mit den Stimmen rechtsextremer und faschistischer Politiker ins Amt gewählten Ministerpräsidenten überhaupt.

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Die AfD machte in vergangenen Wahlkämpfen auch in Mainz mit Plakaten gegen ein angebliches "Asylchaos" Stimmung gegen Flüchtlinge. - Foto: gik
Die AfD machte in vergangenen Wahlkämpfen auch in Mainz mit Plakaten gegen ein angebliches „Asylchaos“ Stimmung gegen Flüchtlinge. – Foto: gik

Die Thüringer AfD wird von dem sogenannten AfD-Flügel dominiert, der als weit rechtsaußen gilt und vom Verfassungsschutz als potenziell demokratiefeindlich beobachtet wird. Chef der AfD in Thüringen ist Björn Höcke, der laut Gerichtsurteilen ganz offiziell als Faschist bezeichnet werden darf. Höcke fiel bereits mehrfach durch ultra-rechte Reden auf, das Holocaust-Denkmal in Berlin bezeichnete er als „Mahnmal der Schande“. Der Fastnachts-Büttenredner Peter Kuhn sagte am Mittwochabend auf der Funzel-Nonstop-Sitzung beim Mainzer Carnevals-Verein über Höcke: „Doch wo einfach ich erschrecke/ Das sind die Reden von Björn Höcke./ Schließt mal Eure Augenlider – und Ihr hört Adolf Hitler wieder.“

Für Entsetzen in der ganzen Republik sorgte schon am Mittwochabend, dass sich Kemmerich keiner Schuld bewusst war. Im „Heutejournal“ betonte er, er habe keineswegs die Absicht zurückzutreten, Parteigänger der FDP, aber auch von Teilen der CDU, bezeichneten die Wahl als „ganz normalen demokratischen Vorgang.“ In Hessen gratulierte gar FDP-Chef Réné Rock seinem Thüringer Kollegen mit den Worten: „Ein aufrichtiger Demokrat hat die Wahl gewonnen. Ich wünsche Herrn Kemmerich eine glückliche Hand bei der Ausübung seines Amtes.“ Kemmerich sei „als Kandidat der Mitte“ angetreten und habe gewonnen, das verfassungsmäßige Recht anzutreten, „darf nicht diskreditiert werden.“

Die AfD auch in Rheinland-Pfalz jubelte, dies sei „ein guter Tag für die Demokratie“ – und verwies darauf: Auch in Rheinland-Pfalz gebe es eine solche „bürgerliche Mehrheit“ im Landtag. Man könne jetzt hoffen, „dass die drei bürgerlichen Parteien CDU, FDP und AfD zum Wohle Thüringens zusammenarbeiten“, hieß es aus Hessen. Die Thüringer AfD ließ derweil durchblicken, der Coup sei genau so geplant worden, das entspreche „dem Wählerwillen.“

AfD-Landeschef Uwe Junge bejubelte die Wahl Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten als "guten Tag für die Demokratie." - Foto: gik
AfD-Landeschef Uwe Junge bejubelte die Wahl Kemmerichs zum Thüringer Ministerpräsidenten als „guten Tag für die Demokratie.“ – Foto: gik

SPD und Grüne reagierten hingegen entsetzt: „Die heutige Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen mit den Stimmen der AfD ist ein demokratischer Dammbruch“, kritisierten die Grünen-Landeschefs Josef Winkler und Misbah Khan: „Wir sind entsetzt über das verantwortungslose Verhalten von CDU und FDP in Thüringen. Das ist ein eiskalter und würdeloser Pakt mit Rechtsextremen.“ Die hessische Linke schäumte, die FDP mache sich „zum Steigbügelhalter der extremen Rechten, das sei „ein Dammbruch“ – ausgerechnet 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz.

Die hessische SPD-Chefin Nancy Faeser sagte, sie sei „zutiefst erschüttert darüber, dass CDU und FDP in Thüringen nun doch mit der AfD paktieren. Das ist ein politischer Tabubruch, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind.“ Demokraten ließen sich schlicht „nicht von Rechtsextremen ins Amt hieven.“ Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), sagte: „Ich bin fassungslos.“ Der AfD-Vorsitzende Björn Höcke sei „bekennender Faschist“, CDU und FDP in Thüringen hätten damit einer rechtsextremen Partei an die Macht verholfen. „Das ist mehr als ein Tabu-Bruch“, betonte Dreyer, „das gefährdet unsere Demokratie.“

Kam wegen seiner ersten Reaktion auf das Wahldesaster von Thüringen unter Druck: FDP-Landeschef Volker Wissing. - Foto: gik
Kam wegen seiner ersten Reaktion auf das Wahldesaster von Thüringen unter Druck: FDP-Landeschef Volker Wissing. – Foto: gik

Damit war das politische Beben aber mitnichten beendet – denn der rheinland-pfälzische FDP-Chef Volker Wissing distanzierte sich zunächst ebenfalls nicht von seinen Thüringer Kollegen. Die Entscheidung Kemmerichs, zur Wahl anzutreten sei, „honorig“, schrieb Wissing auf Twitter, von der Wahl an sich distanzierte sich Wissing nicht. Das löste Entsetzen innerhalb der Ampel-Koalition auf Landesebene aus. „Uns erschüttert die halbgare Distanzierung des rheinland-pfälzischen FDP-Chefs Volker Wissing“, kritisierten die beiden Grünen-Landeschefs umgehend. Wenn die FDP tatsächlich „Verantwortung übernehmen“ wolle, gebe es für alle Demokraten nur einen richtigen Weg: Kemmerich müsse umgehend zurücktreten, der Thüringer Landtag rasch Neuwahlen ermöglichen. „Das muss auch Herr Wissing unmissverständlich klar machen“, forderten die Grünen – auf einmal schien sogar die Mainzer Ampel zu wackeln.

Auch Dreyer betonte in ihrem Statement, die SPD sei seit über 156 Jahren „das Bollwerk gegen rechts“ und grenze sich „in aller Deutlichkeit und Schärfe von der AfD ab.“ Die Demokratie könne man „nicht gemeinsam mit ihren Feinden verteidigen“, betonte Dreyer, und forderte: „Diese klare Haltung erwarte ich auch von allen anderen demokratischen Parteien.“ Wissing geriet damit heftig unter Druck, der Initiativausschuss für Migrationspolitik und der Arbeitskreis Asyl in Rheinland-Pfalz forderten gar Wissing in einem Offenen Brief auf, sich umgehend klar und deutlich zu distanzieren: „Wer diesen Tabubruch billigend in Kauf nimmt, verschließt die Augen vor den Lehren der Geschichte, lässt diejenigen alleine, die von dem Hass und der Hetze der AfD bedroht sind und vergrößert den bereits jetzt entstanden Schaden für unsere Demokratie“, heißt es in dem Schreiben an Wissing.

FDP-Chef Christian Lindner bei einem Wahlkampfauftritt in Mainz. - Foto: gik
FDP-Chef Christian Lindner bei einem Wahlkampfauftritt in Mainz. – Foto: gik

Der FDP-Landeschef teilte dann am Mittwochabend mit: „Eine Regierung mit der AfD ist falsch.“ Die politischen Vorstellungen der AfD seien mit den Werten der FDP „nicht vereinbar, eine Zusammenarbeit kommt daher für uns auch nicht infrage.“ Die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung in der Politik sei aber wichtig, gleichwohl dürften dabei „politische Grenzen und Wertvorstellungen nicht einfach außer Acht gelassen werden.“ Die FDP Rheinland-Pfalz lehne jede Form der Zusammenarbeit mit der AfD ab. Am Donnerstag dann legte Wissing noch einmal nach und betonte nun: „Es kann keinen FDP-Ministerpräsidenten geben, der von der AfD ins Amt gewählt wurde“, Kemmerich müsse zurücktreten, Thüringen brauche Neuwahlen.

Doch die Schockwellen trafen auch noch eine andere Ampel: Die Mainzer Linke forderte Grüne, SPD und FDP auf, es dürfe „in Mainz keine Ampel geben, bevor die FDP als Gesamtpartei eine klare Haltung zu Thüringen einnimmt, vom Ministerpräsidentenamt zurücktritt und den Weg für Neuwahlen frei macht.“ Es könne nicht sein, „dass Grüne und SPD in Mainz mit einer Partei koalieren, die in Thüringen mit Faschisten gemeinsame Sache macht“, betonte die Linken-Stadtratsfraktion einhellig: „Den Fraktionen von Grünen und SPD muss klar sein, welch fatale Signalwirkung von einer Ampelkoalition im jetzigen Zeitpunkt ausgeht.“

Auch der Mainzer SPD-Chef Johannes Klomann zeigte sich geschockt: „Was heute im Thüringischen Landtag passiert ist, bringt unsere freiheitliche Demokratie in Gefahr“, schrieb Klomann auf Facebook: Mit Faschisten paktieren ist nichts Anderes, als naive Appeasementpolitik zu betreiben. Und das kann nur schief gehen.“ Die Mainzer Grünen meldeten sich nicht zu Wort.

Im Internet kursierte prompt dieser Spruch in Abwandlung eines Ausspruchs von FDP-Chef Christian Lindner nach der geplatzten Jamaika-Sondierung nach der Bundestagswahl. - Foto: gik
Im Internet kursierte prompt dieser Spruch in Abwandlung eines Ausspruchs von FDP-Chef Christian Lindner nach der geplatzten Jamaika-Sondierung nach der Bundestagswahl: „Das neue FDP-Motto: Lieber mit Faschisten regieren, als nicht regieren.“ – Foto: gik

Der Mainzer FDP-Kreischef David Dietz hatte sich indes auf seinem Facebook-Profil umgehend klar von den Vorgängen in Thüringen distanziert: „Wir haben uns heute in Thüringen von Höcke und seinen Extremisten vorführen lassen“, reagierte Dietz, und fand klare Worte: „Das ist weder frei noch liberal oder auch nur politisch. Das war absolut daneben und fühlt sich richtig mies an!“ Am Donnerstag dann legte Dietz nach: Eine derartige Herangehensweise an eine Wahl sei „weder honorig noch verantwortungsvoll“, der „berechtigte Wunsch, einen Ministerpräsidenten der Linkspartei zu verhindern, kann nicht dazu führen, ein politisches Harakiri-Unterfangen mit den Extremisten um Höcke anzufangen“, betonte er. Deshalb wünsche er sich, dass die FDP in Thüringen den Weg für Neuwahlen frei mache.

Das passierte dann auch am Donnerstagabend: Nach langem Drängen kündigte Kemmerich in Erfurt seinen Rücktritt vom Amt auf, er werde nun einen Weg suchen, um Neuwahlen einzuleiten. Der Landtag muss seine Auflösung mit Zweidrittel-Mehrheit beschließen, am Abend war vorerst noch unklar, ob diese zustande kommt. Medienberichten zufolge musste FDP-Bundeschef Christian Lindner erst mit seinem eigenen Rücktritt drohen, bevor Kemmerich bereit war, den Weg frei zu machen. Lindner räumte am Abend im Heutejournal ein, dass auch mit ihm in den Tagen vor der Wahl über die Variante eines Antreten Kemmerichs gesprochen worden war – und dass er davor gewarnt worden sei, die AfD könnte Kemmerich mitwählen. Lindner will nun am Freitag die Vertrauensfrage im Parteivorstand stellen.

Die Mainzer Linke begrüßte zwar die Distanzierung Dietz‘, betonte zugleich aber: Ob eine glaubhafte Distanzierung der Mainzer Parteien zur AfD in der tagespolitischen Praxis Bestand habe, müsse sich erst noch zeigen. Denn auch in Mainz brüste sich die AfD damit, vergangenes Jahr bei der Vergabe von Stadtratsausschüssen zu Gunsten von FDP und CDU mitgeholfen zu haben. Im Ortsbeirat Gonsenheim würden zudem „AfD-Anträge einstimmig
durchgewunken, die faschistoide Partei schwärmt von der Zusammenarbeit“, wetterte die Linke. Zudem finde sich im neuen Koalitionsvertrag der Ampel fast kein Wort zum Rechtsruck, es fehle jegliche Strategie gegen Rechtsextremismus in Mainz.

„Eine Anfrage unserer Fraktion im Jahr 2019 fand heraus, dass die Stadt Mainz keinerlei Strategien gegen Rechtsextremismus hat, und auch diesbezüglich nicht tätig wird“, kritisierte die Linke, und fordert die Ampelfraktionen auf, ein schlagkräftiges Konzept gegen Rechtsextremismus in Mainz auf den Weg zu bringen.

Info& auf Mainz&: Für Informationen und Hintergründe zur Wahl des FDP-Mannes Kemmerich in Thüringen sowie die Konsequenzen empfehlen wir die Sendungen des Heutejournals vom 05. und 06. Februar 2020 mit Interviews mit Kemmerich sowie mit FDP-Chef Christian Lindner, Ihr findet sie hier im Internet.

 

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