Die Entscheidung über eine Anklageerhebung wegen der Flutkatastrophe im Ahrtal wird sich noch weiter hinziehen: Man werde vor Weihnachten keine Entscheidung mehr treffen, teilte der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler vergangenen Freitag mit: „Eine Abschlussentscheidung wird frühestens im Januar 2024 erfolgen können.“ Hintergrund ist nach Mainz&-Informationen die Aussage des Berliner Katastrophenschutzexperten Dominic Gißler vor dem Untersuchungsausschuss – der Anwalt eines Nebenklägers hat einen Befangenheitsantrag gegen Gißler eingereicht und fordert, einen zweiten Gutachter hinzuzuziehen.

Der frühere Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Mainzer Landtag. - Foto: gik
Der frühere Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Mainzer Landtag. – Foto: gik

Seit zweieinhalb Jahren ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz nun schon in der Frage, ob es für die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021 ein juristisches Nachspiel geben wird, konkret: Ob sie Anklage gegen den früheren Landrat Jürgen Pföhler (CDU) oder den damaligen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann erheben wird. Gegen beiden wird wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung ermittelt, im Mittelpunkt steht die Frage, ob die beiden Zuständigen für den Katastrophenschutz im Kreis Ahrweiler mehr hätten tun können, um Menschenleben zu retten – und so zumindest einige der 136 Toten jener Nacht hätten verhindert werden können.

Um diese Frage zu klären, hatte die Staatsanwaltschaft im Juli 2023 ein neues Gutachten in Auftrag gegeben. Darin sollte der Berliner Professor für Führung im Bevölkerungsschutz, Dominic Gißler, klären, ob Pföhler und Zimmermann überhaupt noch Handlungsoptionen hatten, „den Ereignisverlauf zu verändern und konkrete Schadenseintritte abzuwenden“, wie es in der Aufgabenbeschreibung hieß. Gißler legte sein Gutachten im November vor, vergangene Woche musste er seine Ergebnisse nun im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal vorstellen.

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Gißler: Staat hat sein Schutzversprechen gebrochen

Gißler berichtet in seinem Gutachten zunächst ausführlich, wie schlecht die Technische Einsatzleitung (TEL) – landläufig Krisenstab genannt – in Ahrweiler ausgerüstet und für diesen Einsatz ausgebildet war. Gißler betonte zudem vor dem Ausschuss, es handele sich weniger um ein individuelles Versagen, als um ein Versagen des Systems Katastrophenschutz. Denn das Land Rheinland-Pfalz habe Führungsrichtlinien und Dienstvorschriften seit 20 Jahren nicht angepasst, und auch die Mindestanforderung für die Ausstattung einer Einsatzleitung seien völlig veraltet gewesen.

Der Berliner Katastrophenschutzexperte Dominic Gißler vergangene Woche vor dem Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag. - Foto: gik
Der Berliner Katastrophenschutzexperte Dominic Gißler vergangene Woche vor dem Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag. – Foto: gik

Auch habe sich das Land viel zu wenig um eine adäquate Ausbildung der ehrenamtlichen Feuerwehrleute gekümmert – die seien auf eine solche Katastrophe in keinster Weise vorbereitet gewesen, konstatierte Gißler, und bilanzierte: Damit aber habe der Staat nichts weniger als sein hoheitliches Schutzversprechen gegenüber der Bevölkerung gebrochen. Doch so konkret sich Gißler in seinem Gutachten zu diesen Punkten äußerte, so vage blieb er bei der zentralen Einschätzung, ob denn nun Menschenleben hätten gerettet werden können.

Das setzte sich auch bei Gißlers Anhörung vor dem Ausschuss fort: „Ja, theoretisch wäre es möglich gewesen, Personenschäden abzuwenden“, betonte Gißler zwar, mochte aber weder die Erfolgsaussichten noch eine konkrete Prozentzahl nennen. Andere Experten kritisierten das Gutachten Gißlers in genau diesen Punkten – die Freien Wähler wollen deshalb den Kieler Krisenforscher Frank Roselieb vor den Ausschuss laden. Die Entscheidung darüber soll Mitte Dezember fallen.

Staatsanwaltschaft Koblenz: Keine Anklage mehr vor Weihnachten

Doch die Kritik an Gißlers Ausführungen hat nun auch das Ermittlungsverfahren in Koblenz erreicht: Am Freitag teilte die Staatsanwaltschaft Koblenz mit, ihre Abschlussentscheidung in Sachen Klageerhebung werde frühestens im Januar 2024 erfolgen können. Einer der Nebenklagevertreter habe nämlich nach Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens „eine Stellungnahme angekündigt und hierfür eine Frist bis zum 15.12.2023 erbeten“, sagte der Leitende Oberstaatsanwaltschaft Mario Mannweiler: „Die Staatsanwaltschaft wird selbstverständlich diese Stellungnahme abwarten und in ihre Bewertung mit einbeziehen. “

Angehörige von Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal stellten vergangene Woche 135 Gedenkkerzen für die Toten in Mainz auf - darunter auch eine für Johanna Orth. - Foto: gik
Angehörige von Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal stellten vergangene Woche 135 Gedenkkerzen für die Toten in Mainz auf – darunter auch eine für Johanna Orth. – Foto: gik

Zudem räumte Mannweiler ein, es sei „nicht auszuschließen, dass sich hieraus die Notwendigkeit ergeben wird, den Sachverständigen um ergänzende Ausführungen zu bitten.“ Auch wolle die Staatsanwaltschaft das Protokoll der Vernehmung Gißlers vor dem Untersuchungsausschuss anfordern, „um die Aussage des Sachverständigen in die Gesamtbewertung einfließen lassen zu können.“ Deshalb könne auf keinen Fall eine Entscheidung noch in diesem Jahr gefällt werden.

Nach Mainz&-Informationen geht es dabei um den Vertreter der Nebenklage der Familie Orth, die in der Flutkatastrophe ihre Tochter Johanna verlor. Deren Anwalt Christian Hecken bestätigte gegenüber Mainz& nun: Ja, er habe einen Befangenheitsantrag gegen Gutachter Gißler angekündigt. Es gebe eine ganze Reihe von Befangenheitsgründen gegen Gißler, betonte Hecken, einer davon sei die kurze Zeitspanne: Es stelle sich die Frage, ob ein so umfangreiches Gutachten seriöserweise überhaupt binnen vier Monaten erstellt werden könne – so viel Zeit hatte der Experte.

Hecken: Ganze Reihe von Befangenheitsgründen gegen Gißler

Die Hauptkritik an Gißlers Gutachten macht Hecken aber an der Kritik fest, die der Kieler Krisenforscher Roselieb bereits öffentlichkeitswirksam geäußert hatte. Roselieb hatte Gißler vorgeworfen, keine Kausalketten in seinem Gutachten aufzuzeigen, also konkret zu benennen, welche Handlungsweise der Verantwortlichen zu welchem Ergebnis bei der Rettung von Personen geführt hätte.

Die Innenstadt von Ahrweiler am 20. Juli 2021, sechs Tage nach der Flut. - Foto: gik
Die Innenstadt von Ahrweiler am 20. Juli 2021, sechs Tage nach der Flut. – Foto: gik

Tatsächlich hatten bereits andere Gutachter vor dem U-Ausschuss sich eindeutig zu diesem Thema geäußert. So hatte etwa der Hydrologie-Experte Jörg Dietrich, Privatdozent an der Leibniz-Universität Hannover, schon im Frühjahr 2022 im Untersuchungsausschuss ausgesagt, mit rechtzeitigen öffentlichen Warnungen hätten zweifellos Leben gerettet werden können: Es habe eine Reaktionszeit von mehreren Stunden gegeben, „der Zeitverzug am 14.7. war lebensrelevant.“

Landrat Pföhler hatte erst um kurz nach 22.00 Uhr das Auslösen des Katastrophenalarms der höchsten Stufe 5 samt Evakuierungsaufforderung freigegeben, tatsächlich ausgelöst wurde die Warnung sogar erst um 23.09 Uhr. Nach Angaben eines weiteren Gutachtens erreichte die meterhohe Flutwelle in der Nacht erst gegen 23.30 Uhr Ahrweiler, und erst gegen 2.00 Uhr morgens die Stadt Sinzig an der Ahrmündung. Roselieb hatte zudem kritisiert, dass sich Gißler weigere, eine prozentuale Größenordnung anzugeben, wie viele Menschenleben denn hätten gerettet werden können: Das sei bei anderen Gutachten durchaus üblich.

Hecken: Gutachten „nicht nachvollziehbar und widersprüchlich“

In dem Gutachten gebe es viele Widersprüche, sagt Hecken weiter: „Wenn ein Gutachten in großen Teilen nicht nachvollziehbar und widersprüchlich ist, ist das Willkür“, bilanzierte der Anwalt – und Willkür sei ein Befangenheitsgrund. Auch die Vorgabe der Staatsanwaltschaft, der Gutachter habe seine Fragestellung vor dem Hintergrund zu würdigen, dass die Flutkatastrophe im Ahrtal außergewöhnlich und damit einmalig gewesen sei, stößt auf Kritik – Hecken spricht sogar von einem „Skandal“: „Ein Gutachten sollte zunächst frei von Wertung sein, die Außergewöhnlichkeit hat in einem Gutachtensauftrag nichts zu suchen“, betonte er.

„Ein unvoreingenommener Gutachter hätte den Auftrag deshalb gar nicht annehmen dürfen“, betonte Hecken: „In Kombination der Gründe ergibt sich daraus eine Befangenheit des Gutachters.“ Hecken will nun gegenüber der Staatsanwaltschaft fordern, einen zweiten Gutachter hinzuziehen, „der sich mit den Schwächen des Gutachtens auseinandersetzt“. Dafür schlage er den Experten Roselieb vor. Nach Vorstellung des Anwalts solle der „von Amts wegen“ befragt werden, also durch die Staatsanwaltschaft – oder auch durch den Untersuchungsausschuss.

Info& auf Mainz&: Einen ausführlichen Bericht zum Gutachten von Gißler lest Ihr hier bei Mainz&, mehrt zu seiner Vernehmung vor dem U-Ausschuss könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.