Fast zweieinhalb Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal fordern Angehörige der 136 Toten der Flutnacht nun sichtbare Konsequenzen und eine bessere Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz. Am Montag hatten sie in unmittelbarer Nähe vor dem Mainzer Landtag 135 Kreuze und Gedenkkerzen für die Opfer der Flutkatastrophe am 14. Juli 20ß21 aufgestellt – als Mahnung an die Politik: „Die Menschen dürfen nicht umsonst gestorben sein“, sagte Tamara Kopelke vom „Team Gedenken“: „Es muss eine Art von Gerechtigkeit her.“ Im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal sorgte deshalb auch ein Gutachten am Montag für Aufsehen – und für gehörige Kritik.

Gab Auskunft über sein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz zur Flutnacht: Dominic Gißler, Professor für Führung im Bevölkerungsschutz. - Foto: gik
Gab Auskunft über sein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz zur Flutnacht: Dominic Gißler, Professor für Führung im Bevölkerungsschutz. – Foto: gik

Im Landtag war am Montag nach monatelanger Pause erneut der Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal zusammengetreten. Nachdem der Ausschuss eigentlich Ende April seine Beweisaufnahme abgeschlossen hatte, nahm er sie nun, Ende November wieder auf. Anlass: Ein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz, das Aufschluss über die Schuldfrage der Verantwortlichen in der Flutnacht geben sollte.

Geladen als Zeuge war der Berliner Professor für Führung im Bevölkerungsschutz, Dominic Gißler, er sollte untersuchen, „welche konkreten Handlungsoptionen die Beschuldigten angesichts der vorgefundenen Gesamtumstände und bei Zugrundelegung ihres subjektiven Kenntnisstandes“ in der Flutnacht überhaupt noch hatten. Die Staatsanwaltschaft ermittelt bis heute gegen den damaligen Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), der formal die Zuständigkeit für den Katastrophenschutz hatte, sowie gegen den Brand- und Katastrophenschutzinspekteur des Kreises Ahrweiler, Michael Zimmermann, in beiden Fällen wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung.

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Wer trägt die Verantwortung für die 136 Toten im Ahrtal?

Im Kern geht es weiter um die Frage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass 136 Menschen in der Flutnacht im Ahrtal ihr Leben verloren? Hätten mehr Menschen gerettet werden können, wenn irgendjemand früher und vehementer gewarnt hätte oder überhaupt im Katastrophenschutz andere Entscheidungen getroffen worden wären? Gißler sollte genau dieser Frage nachgehen, in seiner Antwort blieb er über weite Strecken diffus: Er könne auf die Frage, warum nicht früher gewarnt worden sei, „keine exakte Antwort geben, denn vieles blieb unklar“, sagte Gißler nun vor dem Ausschuss.

Die Verwüstungen der Flutnacht im Ahrtal hat die Fotografin Annett Baumgartner festgehalten. - Foto: Baumgartner
Die Verwüstungen der Flutnacht im Ahrtal hat die Fotografin Annett Baumgartner festgehalten. – Foto: Baumgartner

Das Hauptproblem des Gutachters wie des Ausschusses: Diejenigen, die diese Frage am besten beantworten könnten – nämlich Pföhler und Zimmermann – schweigen bis heute. „Solange die beiden Handelnden uns ihre Sicht nicht darlegen, ist das immer eine Rekonstruktion“, betonte Gißler deshalb auch. Zudem unterstrich der Gutachter erneut: Über die Schuld oder Unschuld der Beschuldigten zu befinden, das sei nicht seine Aufgabe, sondern die der Justiz, „ich kann allenfalls Zuständigkeiten aufklären.“

Doch die Justiz tut sich ungemein schwer, zu einem Ergebnis in der Schuldfrage zu kommen: Auch zweieinhalb Jahre nach der Flutkatastrophe sieht sich die Staatsanwaltschaft Koblenz bislang nicht in der Lage zu entscheiden, ob sie nun Anklage gegen Pföhler oder Zimmermann erhebt oder nicht. Auch mochte die Behörde bisher keine weiteren Ermittlungen gegen andere Verantwortliche wie etwa den damaligen Innenminister Roger Lewentz (SPD) aufnehmen – für die Angehörigen der insgesamt 136 Toten der Flutnacht ist das ein unhaltbarer Zustand.

Angehörige der Tote fordern Ermittlungen und Konsequenzen

„Wir stehen hier stellvertretend für andere Betroffenen, die nicht die Kraft dazu haben“, sagte am Montag Ralf Orth im Gespräch mit Mainz&: „Wir sind aktiv daran interessiert, dass diese ganzen Opfer nicht umsonst gestorben sind.“ Ralf Orth ist der Vater von Johanna Orth, jener jungen Konditorin, die mit 22 Jahren in ihrer Wohnung in Bad Neuenahr-Ahrweiler in den rasant steigenden Fluten der Ahr starb. Ihre Eltern fordern Konsequenzen aus dem Geschehen der Nacht: „Wir haben Nebenklage eingereicht“, sagte Ralf Orth, es müsse weitere Ermittlungen oder ein öffentliches Verfahren geben.

136 Kerzen und Kreuze, eines für jeden Toten der Ahrflut, das bauten Angehörige am Montag auf dem Ernst-Ludwig-Platz in Mainz auf. - Foto: gik
136 Kerzen und Kreuze, eines für jeden Toten der Ahrflut, das bauten Angehörige am Montag auf dem Ernst-Ludwig-Platz in Mainz auf. – Foto: gik

„Das Ergebnis einer Aufarbeitung hat einen erheblichen Einfluss darauf, wie künftig Verantwortliche auf solche Katastrophen reagieren“, betonte Orth: „Wenn es hier wie bei der Love Parade zu einer Einstellung kommt, dann werden solche Verantwortlichen diese Dinge künftig nicht ernst nehmen.“ Dann werde die Botschaft zurückbleiben, „wenn ich nichts tue, passiert mir nichts“, das aber könne und dürfe nicht sein, sagt Orth.

Verantwortung übernehmen – das fordert Orth unter anderem von Ex-Landrat Pföhler. Doch genau der habe durch Gißlers Gutachten offensichtlich entlastet werden sollen, argwöhnt Orth: „Dieses Gutachten ist von vorneherein so aufgesetzt, dass es für die Staatsanwaltschaft ein bestimmtes Ergebnis bringt“, kritisiert er. Der Gutachter habe offenbar darlegen sollen, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Toten und den Beschuldigten gebe. „Wir vermuten, dass das offensichtlich ein Gutachten ist, das nicht das Ziel hat, den Sachverhalt objektiv zu beleuchten.“

Gißler: „Theoretisch möglich, Personenschäden abzuwehren“

Tatsächlich äußerte sich Gißler zu der Kernfrage, ob denn nun die Beschuldigten anders hätten handeln und damit Menschenleben hätten retten können, weitgehend ausweichend. Gißler legte zunächst über mehr als eine Stunde dar, wie Verantwortlichkeiten im Katastrophenschutz idealerweise aussehen können und wie schlecht hingegen die Technische Einsatzleitung in der Kreisverwaltung Ahrweiler aufgestellt war. Für das Management einer solchen Großkatastrophe hätte es 54 Mitarbeiter im Krisenstab gebraucht, rechnetet Gißler beispielsweise vor – tatsächlich waren aber nur 12 Personen im Einsatz.

Funkerkabuff in der Technischen Einsatzleitung in Ahrweiler in der Flutnacht, hier gingen die Notrufe aus dem Ahrtal ein. - Foto: gik
Funkerkabuff in der Technischen Einsatzleitung in Ahrweiler in der Flutnacht, hier gingen die Notrufe aus dem Ahrtal ein. – Foto: gik

Gißler wiederholte auch vor dem Ausschuss, was er schon in seinem Gutachten ausgeführt hatte: Ein Versagen sei vor allem im System des Katastrophenschutzes zu sehen, denn der sei für Katastrophen einer solchen Größenordnung nicht ausreichend aufgestellt und gerüstet: „Dieser Fall ist ein trauriges Symptom für die Reaktionsfähigkeit des Katastrophenschutzes“, warnte Gißler, und wies eine Mitverantwortung dafür dem Land Rheinland-Pfalz zu: Dessen Vorgaben seien nicht ausreichend gewesen. Es reiche eben nicht aus, Übungen vorzuschreiben, es brauche Landkreis spezifische Risikoanalysen und Übungen – und das müsse vom Land auch überprüft werden.

Führungssysteme bräuchten ausreichend Kapazitäten, die Menschen müsse man dafür ausbilden – und es brauche insgesamt eine Spezialisierung und Professionalisierung in den Führungsebenen des Katastrophenschutzes. „Es war ein Versagen des Systems“, betonte Gißler widerholt, und betonte zugleich auch: „Ja, theoretisch wäre es möglich gewesen, Personenschäden abzuwenden.“ Aber die Erfolgsaussichten einer solchen theoretischen Ansicht „kann man eben nicht in der realen Folge benennen.“

Kritik anderer Experten an Gißlers Gutachten: Keine Kausalketten

Gißler weigerte sich denn auch, Prozentzahlen anzugeben, wie viele Menschenleben durch eine bessere Vorbereitung und ein klügeres Handeln in der Flutnacht hätten gerettet werden können – Experten kritisieren genau das. In anderen vergleichbaren Gutachten werde sehr wohl mit Prozentzahlen angegeben, wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, sagte etwa der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb dem SWR. Er wundere sich auch darüber, dass der Gutachter keine Kausalketten benenne, kritisierte Roselieb: Zwar würde im Gutachten ein Zusammenhang zwischen Prävention und den Möglichkeiten der Krisenbewältigung gezogen, aber dass durch eine bessere Vorbereitung auch Menschenleben hätten gerettet werden können, diesen Schluss ziehe der Gutachter nicht.

In diesem Raum arbeitete der Krisenstab in Ahrweiler in der Flutnacht: In einem engen, kleinen Kellerraum neben der Tiefgarage. - Foto: gik
In diesem Raum arbeitete der Krisenstab in Ahrweiler in der Flutnacht: In einem engen, kleinen Kellerraum neben der Tiefgarage. – Foto: gik

Gißler hatte schon in seinem Gutachten über die Handelnden der TEL erklärt: „Diese anwesenden Personen haben alles gegeben – das Führungssystem ließ nur nicht mehr zu.“ Auch das kritisierte Roselieb: Gißler ziehe damit Schlüsse, die er aus dem ihm vorliegenden Material gar nicht plausibel habe ziehen können – der Gutachter könne damit auch gar nicht wissen, wie viel die Anwesenden gegeben hätten. „Bei Kritik muss man den Kritiker mit betrachten, welches Interesse er verfolgt“, konterte Gißler hingegen seinerseits im Ausschuss, als er mit der Kritik Roseliebs konfrontiert wurde.

Doch auch Gißler selbst hatte mehrfach betont, er habe nur auf das Material zurückgreifen können, was ihm zur Verfügung gestellt worden sei. Im Ausschuss wurde dann deutlich: Ein wichtiges Video aus der Flutnacht, das einem Mitglied des Krisenstabs in Ahrweiler spätestens 21.50 Uhr zugegangen war, kannte der Gutachter überhaupt nicht. Mit welchem Material also wurde der Gutachter versorgt, und mit welchem nicht?

„Menschenleben hätten gerettet werden können“

Erstaunlich auch: Gißler machte immer wieder höchst widersprüchliche Angaben, ob denn nun Menschenleben hätten gerettet werden können oder nicht. So rechnete er einerseits vor, bis 20.45 Uhr hätten noch aufwändige Evakuierungsmaßnahmen in Bad Neuenahr-Ahrweiler auf den Weg gebracht werden können – immerhin standen da noch 3,25 Stunden zur Verfügung, bevor die Flutwelle das untere Ahrtal erreichte. „Ab dann wäre es nicht mehr möglich gewesen“, behauptete Gißler – dabei hatten Feuerwehrleute und auch Bundeswehrangehörige bis in die Nacht hinein genau das getan: Menschen aus höchster Not zu evakuieren.

"Menschenleben hätten gerettet werden können": Kreuze und Kerzen erinnern in Mainz an die 136 Toten der Flutnacht. - Foto: gik
„Menschenleben hätten gerettet werden können“: Kreuze und Kerzen erinnern in Mainz an die 136 Toten der Flutnacht. – Foto: gik

„In diesem Gutachten steht drin, dass Menschenleben hätten gerettet werden können“, betonte Gißler – doch er könne eben nicht exakt angeben, „mit welcher Erfolgsaussicht“ Menschenleben noch hätten gerettet werden können. „Ja, es hätte Chancen gegeben, und die Chancen sind so groß, dass sie eindeutig erkennbar sind“, sagte Gißler: „Aber man dringt eben nicht in den Bereich von 99,9 Prozent vor.“ Eine Evakuierung von Menschen hätte womöglich nur „quick and dirty“ und „nicht rechtssicher“ erfolgen können, räumte Gißler auf Nachfrage dann ein, aber in solchen Einsätzen gelte auch: „Man muss jede Chance auf Menschenrettung wahrnehmen, wenn es die leiseste Chance gibt, muss man es versuchen – und es gab Chancen.“

„Damit ist klar, dass eine Rettung von Menschen mittels Evakuierung möglich und angebracht gewesen wäre“, konstatierte der Obmann der Freien Wähler, Stephan Wefelscheid, deshalb nach der Sitzung – erst Recht, wenn die Bundeswehr dazu herbeigerufen worden wäre. Auch die CDU betonte, Gißlers Vernehmung habe gezeigt, „dass es auch in einer Katastrophe diesen Ausmaßes Chancen gibt, die man nutzen kann, um Menschenleben zu retten“, sagte CDU-Obmann Dirk Herber. Aber genau diese Chancen seien „sowohl im Landkreis Ahrweiler vom Landrat, als auch in den Landesbehörden nicht genutzt worden.“

Wefelscheid: Zentrale Aussagen des Gutachten erschüttert

Wefelscheid sah zudem die Aussagen des Gutachtens durch die neuen Fragen in der Vernehmung als erschüttert an: „Ich kann mir schlecht vorstellen, dass sich die Staatsanwaltschaft auf dieses Gutachten allein stützen kann, sie täte gut daran, die Qualitätsfrage neu zu beleuchten“, sagte Wefelscheid – und kündigte an: „Ich denke, es drängt sich auf, Herrn Roselieb zu hören.“ Bis Mitte Dezember will der Untersuchungsausschuss nun entscheiden, ob es zu weiteren Zeugenvernehmungen kommt oder nicht.

Ein Bundeswehrpanzer im Einsatz an der Ahr - hätte mit Hilfe der Bundeswehr eine Evakuierung Menschenleben retten können? - Foto: Bundeswehr
Ein Bundeswehrpanzer im Einsatz an der Ahr – hätte mit Hilfe der Bundeswehr eine Evakuierung Menschenleben retten können? – Foto: Bundeswehr

Den Angehörigen der Toten und den Betroffenen im Ahrtal dauert all das viel zu lange: Mit einer Mahnwache und 136 Kreuzen samt Gedenkkerzen erinnerten sie am Montag an die Toten der Flutkatastrophe. „Wir stehen hier, weil es nötig ist“, sagte Tamara Kopelke, die gemeinsam mit Klaus Jansen und anderen Betroffenen das „Team Gedenken“ in Odendorf gegründet hat. „Unsere Motivation ist es einfach, dass Dinge aufgeklärt werden, die in der Flutnacht passiert sind oder auch nicht passiert sind“, betonte Kopelke im Gespräch mit Mainz&.

Die Fehler der Flutnacht könnten nicht ungeschehen gemacht, die Toten nicht zurückgeholt werden. „Aber die Menschen dürfen nicht umsonst gestorben sein“, betonte Kopelke: „Man muss daraus Schlüsse ziehen, man muss daraus lernen – wenn so etwas wieder passiert, muss es anders laufen.“ Stattdessen werde sich mit Fragestellungen wie „wäre es anders gelaufen, wenn Leute anders gehandelt hätten“ gewunden. „Diese Beweislastumkehr, die da geschieht, das ist unwürdig und degradierend für die Menschen, die Angehörige verloren haben, und das darf so nicht sein“, kritisierte Kopelke.

Eine Gedenkkultur an die Toten finde zudem in Rheinland-Pfalz „überhaupt nicht statt“, sagte Kopelke weiter, „deshalb stehen wir jetzt hier und nehmen das in die Hand, was sich andere nicht trauen.“ Die Namen der Toten würden nicht genannt, sie blieben Nummern und damit viel zu unsichtbar. „Diese Anonymität gibt mir das Gefühl, dass sich Leute schuldig fühlen und etwas vertuschen möchten“, sagte Kopelke: „Es muss eine Art von Gerechtigkeit her.“

Info& auf Mainz&: Einen ausführlichen Bericht über das Gutachten von Dominic Gißler könnt Ihr hier bei Mainz& lesen.