Was wusste die rheinland-pfälzische Landesregierung in der Nacht der Flutkatastrophe an der Ahr von den Ereignissen im Tal? Im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags zeichnet sich am Freitag ab: Es war wohl deutlich mehr als bislang bekannt. Innenminister Roger Lewentz (SPD) jedenfalls wusste schon in der Flutnacht von ersten Verwüstungen im Ahrtal – von Menschenrettung per Hubschrauber auf einem Campingplatz in Dorsel, und dass am späteren Abend Häuser in Schuld eingestürzt waren. „Es gab wohl ganz traurige Szenen“, schrieb Lewentz noch in der Nacht an Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD).
Der Untersuchungsausschuss geht nun im fünften Monat der Frage nach, wie es zu der verheerenden Flutkatastrophe im Ahrtal in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli mit 134 Toten kommen konnte – und wer die politische Verantwortung dafür trägt. An diesem Freitag musste dazu niemand Geringeres als die Regierungsspitze persönlich Stellung nehmen: Innenminister Roger Lewentz und Ministerpräsidentin Malu Dreyer (beide SPD).
Und dabei musste Lewentz einräumen: Er wusste bereits in der Flutnacht von den ersten verheerenden Verwüstungen im Ahrtal. Bislang hatte Lewentz stets betont, er habe von den dramatischen Ereignissen erst am folgenden Morgen, also am 15. Juli, erfahren, doch diese Version ist so nun nicht mehr haltbar: Bereits um kurz vor 18.00 Uhr erfuhr Lewentz am Rande des Landtagsplenums, dass im oberen Bereich der Ahr ein Campingplatz in Dorsel unter Wasser stand. Lewentz war auch informiert, dass sich dort Menschen auf die Dächer ihrer Campingwagen geflüchtet hatten – und dass Hubschrauber zur Rettung angefordert worden waren.
Lewentz berichtete, diese Informationen hätten ihn während der Landtagssitzung in Mainz am späten Nachmittag des 14. Juli erreicht, gleichzeitig betonte er vor dem Untersuchungsausschuss aber auch: „Das hat mich sehr erinnert an Bilder von 2016, bei einem vergleichbaren Ereignis an einem Campingplatz in Altenahr.“ Um 17.48 Uhr habe er dann ein Telefonat mit dem Präsidenten der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion ADD, Thomas Linnertz, geführt. „Ich habe während des Telefonats entschieden, dass ich in die Region fahre“, sagte Lewentz, er habe danach auch direkt das Plenum verlassen.
Der Innenminister berichtete weiter, er habe zunächst nach Dorsel fahren wollen, das habe sich aber wegen unklarer Straßenverbindungen zerschlagen. Damit erfuhr der Minister schon am Abend gegen 19.00 Uhr zwei Dinge: In Dorsel an der oberen Ahr schwebten Menschen bereits in Lebensgefahr, es fehlten aber die Mittel zur Rettung – Rheinland-Pfalz besitzt bis heute keinen Hubschrauber mit einer Seilwinde, mit der man Menschen von Dächern retten könnte. Das bestätigte Innen-Staatssekretär Randolph Stich am Freitag noch einmal ausdrücklich bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss.
Hubschrauber aus Hessen mit Seilwinde angefordert
Tatsächlich musste Rheinland-Pfalz in der Flutnacht einen entsprechend ausgestatteten Hubschrauber aus Hessen anfordern, mit dem Nachbarland hatte man eine entsprechende Kooperation. Um kurz vor 19.20 Uhr bekam Lewentz die Mitteilung, Hessen könne nun einen Hubschrauber mit Seilwinde zur Verfügung stellen, die Bundeswehr jedoch nicht – aufgrund des schlechten Wetters.
„Überhaupt nichts bezüglich einer Katastrophe gesehen“
Um 19.20 Uhr war Lewentz in der Einsatzzentrale in Ahrweiler angekommen, der Minister besuchte dort den Einsatzstab. Er habe „einen konzentriert arbeitenden Krisenstab vorgefunden“, berichtete Lewentz – von Katastrophe keine Spur. „Ich habe den Eindruck gehabt, dass man wirklich sehr kompetent und konzentriert arbeitete“, berichtete Lewentz, „man hatte nicht den Eindruck, dass da jemand überfordert wäre.“ Als überfordert erwies sich im Nachhinein nicht nur Landrat Jürgen Pföhler (CDU), sondern auch der Krisenstab: In einem Keller und ohne Handyempfang arbeitend, ging die katastrophale Lage im Ahrtal und ihre Entwicklung an dem Krisenstab völlig vorbei
Lewentz betonte zudem, er habe auf der Anfahrt durch Ahrweiler „überhaupt nichts bezüglich einer Katastrophe“ sehen oder bemerken können. Im Krisenstab sei von einem Pegel von rund vier Metern die Rede gewesen – diese Prognose des Landesumweltamtes beruhte auf einem technischen Fehler und erwies sich im Nachhinein als fatale Fehleinschätzung. „Es gab kein Szenario einer Flut oder Sturzflut, dieser Begriff ist nicht gefallen“, betonte der Innenminister denn auch über seinen Besuch im Krisenstab. Um 19.45 Uhr verließ Lewentz den Krisenstab wieder, auch bei seiner Abfahrt durch Ahrweiler auf dem Weg nachhause sei von steigendem Wasser nichts zu sehen gewesen. Er habe sich dann Zuhause in Kamp-Bornhofen bei Koblenz fortlaufend den Abend hinweg informieren lassen, betonte Lewentz weiter.
Tatsächlich erreichte den Minister um 21.45 Uhr eine Textnachricht aus der Region Bitburg-Prüm: Die Situation dort zeichne sich „drastischer als 2018“ ab, Lewentz informierte darüber umgehend in einer SMS die Ministerpräsidentin. Überhaupt hielt Lewentz an dem Abend engen Kontakt zu Dreyer – nicht jedoch zu Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) oder aber zu irgendeinem anderen Zuständigen aus dem Bereich Umwelt oder Hochwasser.
Eine Nachricht, die Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz um 22.24 Uhr im Lagezentrum des Innenministeriums berichtet haben will, habe ihn nicht erreicht, sagte Lewentz vor dem Ausschuss. Manz hatte berichtet, er habe dem Krisenstab von einem wahren „Notruf“ der damaligen Bürgermeisterin Cornelia Weigand berichtet, die von dramatischen Szenen im Ahrtal berichtete. Auch eine eindringliche Warnung der damaligen Präsidentin des Landesamtes für Hochwasserschutz, Sabine Riewenherm, es zeichne sich „eine Katastrophe ab“, habe ihn nicht erreicht, betonte Lewentz.
Damit verdichtet sich der Eindruck: Umweltministerium und Innenministerium kommunizierten in der Flutnacht praktisch gar nicht. Dramatische Pegelhöchststände wurden dem Innenminister nicht mitgeteilt, umgekehrt informierte der Innenminister seine grüne Kollegin auch nicht. Ein Beleg dafür ist ein SMS-Austausch zwischen Dreyer und Lewentz gegen 21.45 Uhr. Darin fragt Dreyer ihren Innenminister, ob denn Spiegel „auch informiert ist“. Lewentz antwortete: „Ich weiß es gar nicht, sie hat ihr eigenes Lagesystem.“ Lewentz und Dreyer wussten also nicht einmal, ob die Umweltministerin in der Nacht überhaupt informiert war – und machten auch keine Anstalten, sie aufzuklären.
Dramatische Nachrichten aus dem Ahrtal ab 23.00 Uhr
Ab 23.00 Uhr erreichten Lewentz dann dramatische Nachrichten aus dem oberen Ahrtal: Um 23.04 Uhr informierte ihn die Leiterin seines Ministerbüros: In der Ortsgemeinde Schuld seien sechs Häuser eingestürzt. Das sei „der erste Hinweis“ darauf gewesen, dass es Schäden gibt, die über das normale Maß hinaus gehen“, betonte Lewentz, doch die Nachrichten verfestigten sich. Um 23.46 Uhr bekam Lewentz Aufnahmen aus einem Polizeihubschrauber zugeschickt, die unter anderem aus dem Bereich Schuld sowie aus Ahrweiler ein Tal zeigten, das komplett unter Wasser stand. „Da war klar, es ist in Ahrweiler ein schweres Hochwasser eingetreten“, sagte Lewentz dazu, „aber eine Flutwelle ist nicht erkennbar gewesen.“
Um 0.25 Uhr bekam Lewentz dann einen Anruf vom Präsidenten der ADD, Thomas Linnertz, dieser habe die Informationen zu den verheerenden Zerstörungen in Schuld bestätigt, berichtete Lewentz weiter. Dabei hatte der Minister in seiner Vernehmung vor der Staatsanwaltschaft noch ausgesagt, ihm sei erst am nächsten Morgen „deutlich geworden, welch schwere Katastrophe das Ahrtal ereilt hat.“ Vor Journalisten hatte Lewentz im August 2021 in Mainz betont, er habe von den Verwüstungen im Ahrtal erst am folgenden Morgen erfahren – nicht aber in der Nacht.
Doch der Bericht von Linnertz um halb eins in der Nacht hatte es in sich – Lewentz versuchte denn auch umgehend um 0.40 Uhr, die Ministerpräsidentin zu erreichen. Doch Dreyer war offenbar schon offline, der Anruf erreichte die MP nicht mehr. Lewentz berichtete, er habe daraufhin die Inhalte des Telefonats mit Linnertz in eine SMS geschrieben, und diese um 0.58 Uhr an Dreyer geschickt. Darin hieß es nun:
„Liebe Malu, die Lage eskaliert. In Schuld sind (wohl) sechs Häuser eingestürzt, weitere Einstürze drohen, es kann/könnte Tote geben. Unsere Hubschrauber flogen darüber, sahen Taschenlampenzeichen, konnten aber nicht herunter gehen. Es gab wohl ganz traurige Szenen. Der ADD ist ein zusammenhängendes Lagebild nicht möglich, weil die Wehren überall vor Ort verzweifelt im Einsatz sind, aber nicht nach oben melden. An manchen Stellen ist wohl auch die Kommunikation gestört. (…) Es ist im Augenblick sehr unübersichtlich. Thomas Linnertz ist vor Ort und sehr mitgenommen. Ich versuche, jetzt die Bundeswehr zu erreichen.“
Das sei „schon eine sehr schwere Nachricht gewesen, ja“ sagte Lewentz nun dazu im Ausschuss, und rechtfertigte sich zugleich: „Belegt war da aber noch nichts“, man habe auf belastbare Informationen warten müssen. Umweltministerin Spiegel versuchte der Minister nicht zu informieren. Er habe dann noch um 1.00 Uhr nachts versucht, den zuständigen Oberst des Bundeswehr anzurufen um zu sehen, welche Hilfe diese liefern könne. Erst gegen 2.00 Uhr sei er zu Bett gegangen, gegen 5.00 Uhr bereits wieder aufgestanden. Er sei „besorgt gewesen“, betonte Lewentz: „Es war zu erkennen, dass das eine intensive Hochwassernacht werden würde.“
Info& auf Mainz&: Im Anschluss an die Vernehmung von Lewentz stand noch die Vernehmung von Ministerpräsidentin Malu Dreyer auf der Tagesordnung des Untersuchungsausschusses – Lewentz‘ Vernehmung dauerte um 21.30 Uhr noch an. Mehr zu den Aussagen von Umweltministerin Spiegel und ihrem Staatssekretär Manz lest Ihr hier bei Mainz&.: