Sie war Umweltministerin in Mainz, als am 14. Juli 2021 die Flutkatastrophe über das Ahrtal hereinbrach, nun kehrte Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) nach Mainz zurück, um sich unangenehmen Fragen zu stellen: Was tat Spiegel an jenem Abend des 14. Juli? Wusste sie, dass sich eine Katastrophe anbahnte – und kümmerte sie sich darum, dass die Menschen gewarnt wurden? Am Freitag, den 11. März 2022, musste Spiegel dazu im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe Auskunft geben, im Vorfeld hatte es harte Vorwürfe gegeben: Spiegel sei nicht erreichbar gewesen und habe sich vor allem um ihr Image gesorgt. Ihr Staatssekretär, Erwin Manz, berichtete nun: Er habe nicht gewusst, wo seine Ministerin an dem Abend war. Bis heute ist unklar: Hatten die beiden in jener Nacht Kontakt – oder war die Ministerin für nahezu zwölf Stunden abgetaucht?
Es war die schlimmste Katastrophe in Rheinland-Pfalz seit dem Zweiten Weltkrieg, 134 Menschen starben, als sich am 14. Juli harmlose Flüsschen in reißende Fluten verwandelten und alles mitriss, was im Wege stand. Seither treibt die Republik die Frage um: Wie konnte das passieren? Warum wurden die Menschen vor allem im Ahrtal nicht rechtzeitig gewarnt? Seit Ende 2021 widmet sich ein Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags genau diesen Fragen, und schon jetzt förderten die Befragungen der Experten immer neue, erschütternde Details zutage.
Da berichteten Wetterexperten, wie bereits Tage zuvor intensiv und massiv gewarnt worden war, dass ein ungewöhnlich statisches Regengebiet über der Eifel Wassermassen in bisher unbekanntem Ausmaß bringen würde. Von bis zu 200 Liter Regen pro Quadratmeter war die Rede, Experten wussten: Das kann nichts Gutes werden. Dass da eine Regenfront ungeahnten Ausmaßes komme, das sei „von Sekunde eins an klar“ gewesen, schon am 12. Juli, sagte etwa Wettermann Sven Plöger Mitte Januar vor dem Untersuchungsausschuss aus. Allerspätestens um 16.00 Uhr am 14. Juli, sagten weitere Experten, sei ein Extremereignis „nicht mehr wegzudiskutieren“, gewesen. „Ich habe unruhig geschlafen auf der anderen Seite des Atlantiks“, berichtete Wettermann Jörg Kachelmann: „Ja, wir wussten: Das würde historisch sein.“
Nur im Mainzer Landesamt für Umwelt, zuständig für Pegelprognosen und Wasserstände, wusste man davon offenbar nichts. Erst um 17.17 Uhr am Nachmittag des 14. Juli dämmerte den Wasserexperten dort: Es kommt „etwas Großes“ auf die Ahr zu. Um 17.00 Uhr saß Anne Spiegel, damals Umweltministerin von Rheinland-Pfalz, im Plenum des Mainzer Landtags. Eine halbe Stunde zuvor hatte die Ministerin eine Rede in der Aktuellen Stunde gehalten, das Thema: „Starkregen und Überschwemmungen in Rheinland-Pfalz“ – ausgerechnet.
Just während dieser Debatte, die etwa um 16.00 Uhr startete, wurde es unruhig im Plenum, die Abgeordneten und Minister schauten auf ihre Handys, tuschelten, gingen telefonieren. Die Hochwasserlage in der Eifel spitzte sich zu, die ersten Berichte kursierten. „Auch bei mir kommen aktuell stündlich Bilder an“, sagt der Landtagsabgeordnete Marco Weber (FDP) aus der Eifel: „Die Situation bei mir im Landkreis ist stellenweise desaströs.“ Auch Spiegel warnt in ihrer Rede eindringlich: „Die Situation in der Eifel spitzt sich gerade weiter zu, das ist eine absolut ernst zu nehmende Situation“, sagt die Ministerin wörtlich, und appelliert: „Informieren Sie sich, nehmen Sie die Situation ernst!“
Zu diesem Zeitpunkt standen an der oberen Ahr bereits Campingplätze unter Wasser, Menschen mussten von Dächern der Campingwagen gerettet werden – per Hubschrauber. Die Bilder kursieren im Landtagsplenum: Innen-Staatssekretär Randolph Stich zeigt sie während des Plenums Spiegels Staatssekretär Erwin Manz. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) beugt sich zu Ministerin Spiegel über die leeren Sitze zwischen ihnen hinweg, die Frauen flüstern miteinander über die Lage. Dreyer will wissen, ob die Staatssekretäre Mainz und Stich miteinander in Kontakt stünden – so erzählt Spiegel es vor dem Untersuchungsausschuss. Sie bejaht.
Um 16.42 Uhr, nach Spiegels Rede, gibt ihr eigenes Umweltministerium eine Pressemitteilung zu der Debatte im Landtag heraus, in der es wörtlich heißt: „Wir nehmen die Lage ernst, auch wenn kein Extremhochwasser droht.“ Im nächsten Satz geht es um die Hochwasserlage an Rhein und Mosel, auch von Überflutungen an kleineren Flüssen ist die Rede – die Ahr wird nicht erwähnt. Zu diesem Zeitpunkt starben bereits die ersten Menschen an der oberen Ahr, standen Landwirte bis zur Brusthöhe im schnell steigenden Wasser des Flüsschens.
Das Landesamt für Umwelt ruft erst um 17.17 Uhr die höchste Hochwasser-Warnstufe aus und prognostiziert einen Pegelstand von mehr als fünf Metern für die Ahr, korrigiert aber um 18.25 Uhr seine Vorhersage um einen Meter nach unten, auf nur noch vier Meter – ein fataler und zudem grob falscher Fehler. Die Flutwelle an der Ahr wird sich in dieser Nacht auf neun Meter und mehr auftürmen, die wird Häuser und Brücken hinwegreißen, Menschen in den Tod spülen und eine Trümmerwüste hinterlassen.
Am nächsten Morgen, dem 15. Juli, schreibt der stellvertretende Regierungssprecher Dietmar Brück – Spiegels Ex-Pressesprecher – an die Ministerin: „Die Starkregen-Katastrophe wird das beherrschende Thema dieser und nächster Woche sein. Anne braucht eine glaubwürdige Rolle.“ Spiegel solle medienwirksame Ortstermine durchführen: „Anne bei Reparaturarbeiten, bei Hochwasserschutzprojekten, dort wo neue Gefahren drohen“, schreibt Brücke in den internen Chat. Um 8.07 Uhr antwortet die Ministerin: „Lieber Dietmar, dass deckt sich mit meinen Überlegungen, plus: das Blame-Game könnte sofort losgehen, wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, ich im Kabinett.“
Und dann schreibt die Ministerin noch mit Blick auf Innenminister Roger Lewentz (SPD): „Ich traue es Roger zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten, und dass es an uns liegt, weil wir die Situation unterschätzt hätten.“ Zu diesem Zeitpunkt sitzen noch Menschen an der Ahr auf den Dächern ihrer Häuser und müssen aus der Luft gerettet werden. Das Ausmaß der Katastrophe ist noch völlig unklar, klar ist indes: Die Lage ist katastrophal. Die Chat-Protokolle machten vergangene Woche Focus Online und die FAZ öffentlich, Spiegel stand auf einmal als kaltschnäuzige Politikerin da, die sich vor allem um ihr Image sorgt – aber in keinster Weise um die Menschen an der Ahr.
Der Eindruck: verheerend, der Druck auf die Ministerin: riesig. Die Spannung war deshalb groß, wie sich die Ministerin vor dem Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag präsentieren würde – und ob sie überhaupt kommen würde, denn Spiegel war in den Tagen zuvor positiv auf Corona getestet worden. Um 21.00 Uhr betrat Spiegel am Freitagabend dann tatsächlich den Plenarsaal, in dunkelgrauem Anzug, mit schwarzem Pullover und schwarzer Maske. Angeschlagen sieht die Ministerin aus, sie schaut nach unten und zur Seite, sagt kein Wort zu den wartenden Fotografen im Saal – auch die Maske nimmt sie nicht ab.
Mit brüchiger Stimme spricht die Ministerin, betont als erstes ihr „aufrichtiges Beileid und tiefes Mitgefühl“ mit allen Opfern der Flutkatastrophe. „Ich weise entschieden zurück, dass ich zu irgendeinem Zeitpunkt eine andere Priorität hatte, als die Menschen im Tal zu schützen“, betont Spiegel explizit: „Das war die einzige Priorität.“ In gestelzten, offensichtlich vorbereiteten Sätzen berichtet die Ministerin, wie sie an dem Tag im Plenum saß, ihre Rede hielt, die besagte Pressemitteilung freigab, die um 16.43 Uhr rausging. Um 15.56 Uhr habe sie die Pressemitteilung abgesegnet, berichtet Spiegel, ihre einzige Anmerkung laut SMS-Protokoll: „Bitte die Campingplatzbetreiber noch gendern.“ Gegen den Satz „dass kein Extremhochwasser droht“, erhob die Ministerin keine Einwände.
Dabei kommt irgendwann um diese Zeit am Rande des Plenums Innenstaatssekretär Stich auf die Ministerin zu: „Anne, wir haben eine Lage“, habe Stich gesagt, so berichtet es Spiegel dem Ausschuss: „Wir müssen Menschen von einem Campingplatz aus der Luft evakuieren.“ Sie sei „betroffen“ gewesen, habe sich „Sorgen um die Menschen gemacht und gefragt: braucht ihr noch Infos?“ Stich habe abgewehrt: „Nein, das ist jetzt Katastrophenschutz“, soll der Staatssekretär gesagt haben. Zweimal habe sie vorgeschlagen „rauszufahren“, betonte Spiegel, beide Male habe ihr ihr eigener Staatssekretär Manz erklärt, „dass das jetzt nicht unsere Zuständigkeit ist.“
Tatsächlich wird Staatssekretär Manz um 18.37 Uhr von der Pressesprecherin des Umweltministeriums in einer Email drauf hingewiesen, dass sich die eben verschickte Pressemitteilung überholt hat, weil inzwischen die Pegelstände explodieren. „Müssen wir jetzt was machen“, fragt die Pressesprecherin mit großer Dringlichkeit. Manz antwortet fast 20 Minuten später: „Heute nicht. Bei Fragen zu Pegelständen bitte ans LfU verweisen.“ Eine Pressemitteilung habe einen „ganz allgemeinen Charakter“ und sei nicht Teil der Warnkette, verteidigt sich Manz bei seiner Vernehmung am Nachmittag vor dem Untersuchungsausschuss: „Das ist einfach nicht unser Zuständigkeitsbereich, Warnungen an die Bevölkerung zu geben.“ Kontakt mit den Medien habe er ebenfalls nicht aufgenommen.
„Die Regularien müssen ganz, ganz streng beachtet werden“
Offenbar war der Staatssekretär sehr peinlich genau darauf bedacht, Abstand zum Innenministerium und dessen Katastrophenmanagement zu halten. Gleich mehrfach spricht Manz in seiner Vernehmung von „Ressortzuständigkeit“ und Alarmketten, die ganz genau eingehalten werden müssten. „Es macht überhaupt keinen Sinn, da als Staatssekretär reinzugrätschen“, sagt er an einer Stelle: „Die Regularien müssen ganz, ganz streng beachtet werden.“ Staatssekretäre haben in Ministerien eine absolute Schlüsselfunktion, sie sind zuständig für das operative Geschäft, für den Kontakt zu anderen Ministerien – und sie sind die wichtigsten geschäftsführenden Beamten für ihre Minister.
Der 62 Jahre alte Biologe Erwin Manz war fünf Jahre lang Leiter der Fachabteilung Wasserwirtschaft im Mainzer Umweltministerium, bevor ihn Anne Spiegel am 18. Mai 2021 zum Staatssekretär macht. Nur zwei Monate später bricht die Flutkatastrophe über das Ahrtal hinein, Spiegel – zuvor Ministerin für Integration und Familie – ist noch weitgehend fachfremd in Sachen Pegelständen und Hochwasser, Manz ist es nicht. Gegen 11.00 Uhr liegt ihm sowie Spiegel ein grundlegender Bericht aus dem LfU zur Hochwasserlage vor, schon dieser Bericht warnt vor erheblichem Hochwasser.
Bei Manz laufen an jenem Nachmittag im Landtagsplenum auch die weiteren Informationen zusammen, um 17.34 Uhr erhält er eine Nachricht von seinem Hochwasserreferenten, „dass sich die Lage zuspitzt“, berichtet er vor dem Untersuchungsausschuss. Staatssekretär Stich zeigt ihm Bilder vom überfluteten Campingplatz an der oberen Ahr, von Menschenrettung aus der Luft. Zwischen 17.30 Uhr und 18.00 Uhr „war der Wendepunkt, wo ich wahrgenommen habe, das ist schon ein Extremereignis“, gibt Manz zu Protokoll. Auch seine Ministerin sei „sehr besorgt“ gewesen, berichtet er. Ministerpräsidentin Dreyer wird in der Nacht ihrem Innenminister in einem Chat schreiben: „Sie (Anne Spiegel) ist ja echt ein bisschen nervös.“
Trotzdem geht Staatssekretär Manz nach dem Plenum einfach nach Hause. Er habe „vielleicht etwas gegessen, vielleicht auch im Büro etwas erledigt“, berichtet er dem Ausschuss, auch „immer wieder ins Handy geschaut“ – es sei „nicht ein Feierabend gewesen, wie man ihn kennt.“ Er habe „sehr viel telefoniert“, behauptet Manz, doch in seinen Telefonlisten, die er dem Ausschuss vorlegen musste, ist bis 22.19 Uhr kein weiterer Anruf auf dem Diensthandy des Staatssekretärs verzeichnet. Dann ruft ihn der leitende Beamte vom Hochwassermeldedienst an, Thomas Bettmann, und dieser berichtet von verstörenden Nachrichten von der Ahr.
Cornelia Weigand, zu dem Zeitpunkt Bürgermeisterin der Verbandsgemeinde Altenahr, rief an jenem Abend gleich viermal im Landesamt an und fragte nach Pegelständen und Prognosen. Gegen 22.00 Uhr berichtet sie den ahnungslosen Mitarbeitern in ihrem Büro von einem Wasserstand von „um die sechs Meter“, von vorbeischwimmenden Autos und unter Wasser stehenden Häusern mit eingeschlossenen Menschen. Erst jetzt ist man im Landesamt offenbar richtig alarmiert, Bettmann gibt diese Infos umgehend in einer Email an seine Chefs weiter, an den Krisenstab der ADD – und an Manz und Spiegel.
Manz reagiert sofort, fünf Minuten später ruft er Bettmann an, fragt nach den Pegeln, sie rätseln, ob ein Rückhaltebecken übergelaufen sein könnte. Weitere fünf Minuten später kontaktiert Manz das Lagezentrum im Innenministerium, dort habe man ihm signalisiert, man wisse Bescheid, alle Kräfte seien im Einsatz, so berichtet es Manz. Mit seiner Ministerin hatte er bis zu diesem Zeitpunkt den ganzen Abend offenbar noch keinen Kontakt, jetzt versucht er sie zu erreichen – sein Anruf um 22.24 Uhr allerdings geht ins Leere. Die Ministerin antwortet nicht. Auf die Frage, ob er wisse, was seine Ministerin im Anschluss an die Plenarsitzung gemacht habe und wo sie sich aufgehalten habe, sagt Manz: „Nein, weiß ich nicht.“ Der wichtigste Manager der Ministerin weiß in so einer Nacht der Katastrophe nicht, wo sich seine Chefin aufhält.
Anne Spiegel: angespannt, besorgt – und kurz angebunden
Anne Spiegel gibt danach bei ihrer Vernehmung an, sie sei nach dem Plenum an jenem 14. Juli Abendessen gewesen, und zwar mit Bernhard Braun, dem Fraktionschef der Grünen im Mainzer Landtag. Braun ist Spiegels langjähriger Förderer, er hat sie groß gemacht, sie unterstützt, ja: gepuscht. Das Treffen sei „lange vorher“ ausgemacht gewesen, sagt Spiegel, „lange vorher“ stellt sich als etwa eine Woche vorher heraus. Man habe sich unterhalten wollen über die Plenarsitzung und auch über den Ausbau Erneuerbare Energien, tatsächlich aber sei es vor allem um die Hochwasserlage gegangen, berichtet Spiegel.
Der Abend sei anders verlaufen als geplant, berichtet die Ministerin, „uns ging es darum dieses dienstliche Gespräch zu führen, kurz was zu essen, aber nicht lange.“ Sie habe dann auch gar nicht viel essen können, sie sei „sensibilisiert, fokussiert gewesen, vielleicht auch besorgt“, sagt sie. Nach dem Essen sei sie dann „in meine Mainzer Zweitwohnung“ gefahren und „habe dort zunächst meine Mails gecheckt, war dann auch im Internet“, berichtet Spiegel weiter. Die Ministerin ist angespannt und besorgt, betont sie, nach eigenen Angaben sucht sie nach Informationen im Internet, checkt Emails.
Mit ihrem Staatssekretär, eigentlich ihre wichtigste Informationsquelle, telefoniert sie aber erst einmal nicht, auch nicht mit Sabine Riewenherm, der Leiterin des Landesamtes für Umwelt. Um 21.27 Uhr geht in ihrer Chatgruppe mit ihren engsten Mitarbeitern eine ausführliche dpa-Meldung über die Ausrufung des Katastrophenfalls in der Vulkaneifel mit weiteren dramatischen Details ein – Spiegel reagiert nicht. „Ich gehe davon aus, dass ich irgendwann um diesen Zeitraum in meiner Wohnung gewesen sein muss“, sagt sie. Manz‘ Anruf um 22.24 Uhr geht ebenfalls ins Leere.
„Nach meiner Erinnerung habe ich Erwin Manz dann zurückgerufen“, gibt Spiegel schließlich zu Protokoll. Wann genau das gewesen sei? Die Ministerin erinnert sich nicht. „Ich bin mir ziemlich sicher, meiner Erinnerung nach, kann ich mir das an dem Abend überhaupt nicht anders vorstellen, dass ich den Anruf gesehen habe und zurückgerufen habe“, sagt sie. Sie sei „eine Nachteule“ und ohnehin noch auf gewesen, sagt Spiegel, bis zwei Uhr morgens sei sie in dieser Nacht noch auf gewesen, habe telefoniert. Mit wem sie sonst noch telefoniert hat, daran kann sich Spiegel gut erinnern: Mit ihrem Mann in Speyer, das aber nur „mittellang“, der sei ziemlich müde gewesen.
Die unruhige Ministerin, die sich so viele Sorgen macht und so viel telefoniert, reagiert dennoch nicht gleich auf Manz‘ Anruf. Um 22.33 Uhr geht dann eine Email von Bettmann ein, sie enthält die dramatischen Schilderungen von Cornelia Weigand über die Lage an der Ahr. Erst danach reagiert Spiegel auf den Anruf ihres Staatssekretärs, so berichtet sie es zumindest. Der Inhalt der Email sei „sehr, sehr besorgniserregend“ gewesen, betont Spiegel wiederholt. Trotzdem sei das Telefonat mit Manz „nur ein sehr kurzes Gespräch gewesen“, sagt sie: Es sei darin um den Inhalt der Email gegangen, Manz habe sicherstellen wollen, dass sie die Email gesehen habe.
Manz selbst hatte zuvor berichtet, Spiegel müsse ihn wohl gegen 22.30 Uhr zurückgerufen haben, vielleicht auch erst um 23.00 Uhr, es sei um die dramatischen Schilderungen Weigands gegangen. Und auch er berichtet: „Das kann nicht sehr lange gewesen sein, das war ein kurzer, prägnanter Austausch.“ Trotz der eskalierenden Lage, trotz der neuen, dramatischen Informationen, trotz der Unruhe der Ministerin bleibt es bei diesem einen, sehr kurzen Austausch von wenigen Minuten. Pikant dabei auch: In den Akten des Untersuchungsausschusses findet sich von dem Telefonat kein Spur, es taucht in keinem Verbindungsprotokoll auf, weder in den Daten des Staatssekretärs noch der Ministerin. Ob es das Telefonat tatsächlich gegeben hat – nachweisen lässt sich das nicht.
Zeit hat die Ministerin jedenfalls, in den folgenden gut 3,5 Stunden gibt sie an, weiter telefoniert zu haben, bis nachts um zwei. Außer mit ihrem Mann ist ihr Telefonpartner vor allem Bernhard Braun, den sie doch gerade erst beim Abendessen gesehen hatte. Das sei „auf jeden Fall“ ein längeres Telefonat gewesen, berichtet Spiegel: „Ich war mir sicher dass er noch wach ist und ich mich mit ihm austauschen kann.“ Trotzdem kann sie sich vor dem Ausschuss nicht recht daran erinnern, was denn der Inhalt des Gesprächs gewesen sei. „Ich erinnere mich nicht mehr genau“, sagt Spiegel nach längerem Zögern, „es war jetzt nicht ein kurzes Telefonat.“
Auch am nächsten Morgen ist die Ministerin offenbar nur schwer erreichbar. Malu Dreyer, die bereits um 5.58 Uhr an Spiegel schreibt: „Liebe Anne, die Lage ist heute Nacht eskaliert, Du hast sicher von Deinen Leuten schon einen Bericht“, bekommt erst einmal ebensowenig eine Antwort wie zwei Stunden später der Staatssekretär: Um 7.52 Uhr und 7.53 Uhr versucht Manz, die Ministerin telefonisch zu erreichen, wieder laufen seine Anrufe ins Leere. Um 7.30 Uhr antwortet Spiegel der Ministerpräsidentin: „Liebe Malu, ja bin informiert, die Lage ist dramatisch. Meine Leute sind am Überlegen, ob ich nicht raussollte.“
„Brauchen ein Wording, dass wir immer rechtzeitig gewarnt haben.“
Wann genau sie wach geworden sei, wisse sie nicht mehr, sagt Spiegel, sie sei „mit sehr großer Wahrscheinlichkeit beschäftigt gewesen, zu telefonieren“, mit wem, sagt sie nicht. Ab 7.54 Uhr folgt dann der SMS-Wechsel mit Brück zu den Image-Überlegungen sowie den Passage mit dem „Blame Game“, Spiegel fügt noch hinzu: „Brauchen ein Wording, dass wir immer rechtzeitig gewarnt haben.“ Vor dem Ausschuss bestätigt Spiegel: Ja, es habe diese Nachrichten gegeben. „Dietmar Brück hatte einen Gedanken und ich hatte einen Gedanken“, sagt Spiegel, „aber für mich war der genauso schnell wieder weg, wie er da war.“ Es habe dazu „gar keine weitere Kommunikation und schon gar keine Aktivitäten in diese Richtung gegeben.“
„Mein Fokus lag darauf, wie geht es den Menschen vor Ort, und wie können wir den Menschen helfen“, betont Spiegel – dennoch drehen sich an diesem Tag zwei der Katastrophe weitere Chatverläufe der Ministerin vor allem um ein Thema: Ihren Besuch im Hochwassergebiet. Um 9.55 Uhr fragt Dreyer sie an: „Du fährst nach Trier?“ Spiegel antwortet, das stehe noch nicht fest, um 9.59 Uhr schreibt sie vorwurfsvoll in ihre eigene Chatgruppe: „MP wusste schon vom Plan, dass ich nach Trier fahre, keine Ahnung woher sie das weiß.“
Tatsächlich fährt Spiegel am Mittag des 15. Juli nach Trier-Ehrang, ein geplanter Termin an einem noch intakten Hochwasserkonstrukt fällt ins Wasser, weil der Stadtteil Ehrang evakuiert werden muss. Spiegel nimmt an einer Pressekonferenz vor Ort teil – ins Ahrtal sei sie nicht gefahren, um den Rettungskräften nicht im Weg herum zu stehen, verteidigt sie sich. Am darauffolgenden Montag, den 19. Juli, mahnt Brück die Runde um die Ministerin erneut: „Was wir jetzt brauchen, ist wirklich ein Wording, was sagen wir, wenn die Fragen kommen: was haben wir getan, haben wir wirklich rechtzeitig gewarnt? Das muss Eindruck machen, um Angriffe abzuwehren“, schreibt der stellvertretende Regierungssprecher.
Denn inzwischen dämmert es den Verantwortlichen, dass mitnichten alles rund lief: Eine wesentliche Warn-Email an die Landkreise an der Ahr wurde am 14. Juli eben nicht verschickt – weil die Mitarbeiter im Landesamt beim Hochstufen der Warnklassen eine Stufe übersprangen. Am 21. Juli schlägt die Pressesprecherin im Ministerium Alarm: der Südwestrundfunk (SWR) wolle genau wissen, welchen Landkreisen welche Warnmeldungen zugegangen seien, schreibt sie unter anderem an die Ministerin – sie habe nach den Informationen aus der Fachabteilung und des Umweltamtes geantwortet, „dass alles geklappt hat“ – nur: „Aber das ist so nicht haltbar“, scheibt die Pressefrau: „Jetzt die Information zu erhalten, dass dies so nicht erfolgt ist, ist unterirdisch.“
Pannen beim Warnsystem, die Angst der Ministerin vor dem „Blame Game“ offenbar alles andere als unbegründet – in der Folge ist sogar von „fehlendem Risikobewusstsein“ von und „Versuchen, Fehler abzuschieben“ im Ministerium die Rede. Staatssekretär Manz jedenfalls begab sich wohl um kurz nach 23.00 Uhr zu Bett. „Ich schaue dann Nachrichten, bei denen ich noch ein Bierchen trinke – und dann gehe ich ins Bett“, schildert Manz seine Abendroutine. Dass die von ihm eingereichten Listen seiner Anrufe und Kommunikationen aus jener Nacht höchst unvollständig sind, erklärt Manz mit einem „Fehler“ aus „Unachtsamkeit.“ Und fügt dann noch hinzu: „Ich habe das nach bestem Wissen und Gewissen selektiert.“
Info& auf Mainz&: Mehr zur Katastrophe im Ahrtal könnt Ihr hier noch einmal nachlesen, mehr zu Anne Spiegel, und wie sie zur Umweltministerin in Mainz wurde, lest Ihr hier bei Mainz&. Anmerkung&: Alle im Text beschriebenen Vorgänge und Aussagen wurden am Freitag im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags so berichtet, wie sie hier dargestellt sind. Öffentlich. Mit Quellen. Bereits kurz nach ihrer Vernehmung gab es erste Rücktrittsforderungen gegen Spiegel, die Opposition sprach von einem „Totalversagen“, die CDU in Rheinland-Pfalz forderte eine Woche danach explizit Spiegels Rücktritt: