Es war eine kleine Sensation: Als erste Stadt bundesweit hat die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden ein Dieselfahrverbot abgewendet. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) erklärte am Mittwoch vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden ihre Klage für erledigt, der Prozess gegen das Land Hessen wegen der Überschreitung der Stickoxid-Werte in Wiesbaden wurde eingestellt. Das Nicht-Urteil sorgte prompt für blühende Hoffnungen in allen von Fahrverboten betroffenen Städte, insbesondere in Mainz, die Industrie- und Handelskammer sprach umgehend von einem „Hoffnungsschimmer“, nun auch Fahrverbote für Mainz abwenden zu können. Doch so einfach ist die Sache nicht: Wiesbaden überzeugte mit einem allumfassenden Plan zum grundlegenden Umbau seines Innenstadtverkehrs – und vor allem mit Umsetzungen, sagte DUH-Anwalt Remo Klinger im Interview mit Mainz&. In Mainz dagegen, betonte Klinger, fehle genau das: „Mainz hat das Problem bislang nicht verstanden.“
Noch im Dezember 2018 hatte die DUH den Luftreinhalteplan der Stadt Wiesbaden als „unzureichend“ erklärt, vor Gericht vertagte man sich aber, weil die Stadt Nachbesserungen anbot. Und Wiesbaden legte nach: Nur zwei Tage vor der zweiten Verhandlung, am 11. Februar, trat ein verbesserter Luftreinhalteplan in Kraft. Der enthalte nun „das bundesweit bisher ehrgeizigste Maßnahmenpaket für eine Verkehrswende“, urteilte die DUH am Mittwoch. „In Wiesbaden steht wirklich ein Wille dahinter, das Problem zu lösen“, sagte DUH-Anwalt Remo Klinger im Gespräch mit Mainz& am Donnerstag.
Wie viele Städte in Deutschland, hat Wiesbaden ein Problem mit schlechter Luft, seit Jahren lagen die Werte für das als hochgradig reizende und gesundheitsschädliche Stickoxid weit über dem gesetzlichen Grenzwert von 40 Mikrogramm. Die hessische Landeshauptstadt hat keine Straßenbahn, die Busse der ESWE drängen sich durch ein enges Straßennetz der Innenstadt. Die Lage am Taunusrand sorgt zudem für Luftstau im Talkessel, Wiesbaden hat die schlechteste Luftqualität von ganz Hessen. Die Wende in Wiesbaden kam 2016: Der neue grüne Verkehrsdezernent Andreas Kowol verkündete, Wiesbaden werde 2020 einen emissionsfreien Nahverkehr haben. Belächelt worden sei er damals für seine Vision, sagte Kowol Ende 2018 einmal, inzwischen schaue man andernorts anerkennend bis neidisch auf die hessische Großstadt am Taunusrand.
Kowol entschloss sich, radikal umzusteuern: Die Stadt brachte Planungen für die Citybahn zwischen Wiesbaden und Mainz auf den Weg, die Bahn soll die Innenstadt deutlich von Bussen entlasten und zudem eine bessere Vernetzung in der Region bringen. 2017 beschloss die Stadt zudem, die gesamte Flotte aus 220 Dieselbussen durch Elektrobusse zu ersetzen. Man werde ab 2019 jedes Jahr 55 E-Busse anschaffen, sagte ESWE-Geschäftsführer Frank Gäfgen, die Landesregierung sagte prompt die Förderung von 110 Bussen zu – Wiesbaden schöpfte damit den Fördertopf des Landes ganz alleine ab.
Mitte Dezember 2018 verkündete die Stadt stolz den Eingang des ersten Förderbescheids: Mit 14,5 Millionen Euro aus dem Bundesumweltministerium sei die Anschaffung der ersten 56 Elektrobusse gesichert. Es gebe ja richtig viele Fördertöpfe für E-Mobilität, „aber an die geht ja keiner ran“, sagte Gäfgen im August 2017 Gespräch mit Mainz&: „Es gibt aber überhaupt keine Alternative, als genau in diese Richtung zu gehen.“ Und wenn man auch nur einen E-Bus anschaffe, brauche man die Infrastruktur ohnehin. Dann, sagten sie sich in Wiesbaden, „können wir es auch gleich ganz machen.“
Es ist genau dieses umfassende, nachhaltige Denken, das die Deutsche Umwelthilfe jetzt honorierte: „In Wiesbaden hat man akzeptiert, dass es Grenzwertüberschreitungen in der ganzen Stadt gibt, und man hat ein umfangreiches Konzeptpapier vorgelegt“, sagte Klinger. Wiesbaden habe dabei nicht nur einzelne Straßen betrachtet, man habe Passivsammler ausgewertet und Berechnungen fürs gesamte Stadtgebiet angestellt. Und genau diesen Ansatz, sagte Klinger, vermisse er in anderen Städten – speziell in Mainz.
„In Wiesbaden hat man akzeptiert, dass es Grenzwertüberschreitungen gibt, Mainz macht noch nicht einmal den ersten Schritt“, kritisierte der Anwalt, der die DUH auch im Prozess um Mainzer Stickoxidüberschreitungen vertrat. „In Mainz haben wir eine Stadtverwaltung, die sagt, wir müssen nur in der Parcusstraße die Grenzwerte einhalten, die Passivsammler interessieren uns nicht“, sagte Klinger: „Man muss das Problem erkennen und so schnell wie möglich angehen – und das fehlt in Mainz.“ Die Herangehensweise zwischen Wiesbaden und Mainz sei komplett unterschiedlich, betonte der Anwalt: „In Mainz ist noch nicht einmal ein Problembewusstsein da, wenn man kein Problembewusstsein hat, kann man das Problem aber auch nicht lösen.“
In Wiesbaden dagegen habe man nicht nur den umfassendsten Plan vorgelegt, den die DUH je gesehen habe – sondern auch gehandelt: „Ich habe gestern noch mal alle Maßnahmen einzeln abgefragt, die erledigt sein sollten“, berichtete Klinger, „ich wollte sicher stellen, ob das nur auf dem Papier steht oder nicht.“ Wiesbaden habe indes „für jede einzelne Maßnahme nachweisen können, dass es auch passiert ist“, sagte Klinger: „Ich war sehr beeindruckt.“
Kowol beließ es nicht bei der Vision. Binnen weniger Wochen startete die Stadt eine Busbeschleunigungs-Offensive und baute neue Radwege. Ein neues Radwege-Grundnetz 2020 wurde aufgelegt, auf dem ersten Ring eine Fahrspur zur „Umweltspur“ für Busse und Radfahrer umgewidmet. „Protected Bike Lanes“ für mehr Sicherheit werden aktuell getestet, gleichzeitig wurden die Gebühren für Parken auf der Straße erheblich erhöht. An der Ringkirche, der höchst belasteten Straße von Wiesbaden, und in der Innenstadt zeigt seit einigen Tagen eine Lichtinstallation die aktuelle Stickoxid-Konzentration an: Die LED-Fläche leuchtet Rot, wenn der Grenzwert von 40 Mikrogramm überschritten wird. Man wolle damit anregen, das eigene Mobilitätsverhalten zu hinterfragen, sagte Kowol.
Und das ist noch immer nicht alles: Zum 1. Januar hatte Wiesbaden schon das Jobticket für städtische Bedienstete komplett kostenfrei gemacht, zum 1. Januar 2020 soll nun ein 365-Euro-Ticket für die Stadt eingeführt werden. Dazu will die Stadt nun massiv Park & Ride-Plätze am Stadtrand ausweisen und die Fahrt in die Innenstadt mit dem Auto weiter unattraktiver machen – etwa damit, Parkplätze in den Straßen ganz verschwinden zu lassen.
Damit brachten die Hessen sogar die Deutsche Umwelthilfe zum Staunen: Wiesbaden habe Wiesbaden glaubhaft nachweisen können, dass der Stickoxid-Grenzwert schon 2019 nur noch um 0,3 Mikrogramm überschritten werde, sagte Klinger, „und das nur für ein halbes Jahr und nur für wenige Straßenmeter.“ Bei so einer „minimalsten Grenzwertüberschreitung“ seien Fahrverbote nun wirklich nicht sinnvoll, betonte Klinger.
Gleichzeitig erteilte er Hoffnungen, Grenzwertüberschreitungen von drei bis vier Mikrogramm reichten aus, ein Fahrverbot abzuwehren, eine Absage: „Drei Mikrogramm ist noch eine ganz erhebliche Differenz“, betonte Klinger, „die zu reduzieren im Jahresdurchschnitt setzt ganz erhebliche Maßnahmen voraus.“ Auch die angebliche Entscheidung der Europäischen Union, Deutschland Fahrverbote bis zu einem Wert von 50 Mikrogramm zu erlassen, nennt Klinger schlicht irreführend: „Die Entscheidung der EU ist ein Sturm im Wasserglas und ändert an der deutschen Rechtslage überhaupt nichts“, betonte Klinger.
Das deutsche Gesetz sehe schon jetzt vor, dass Fahrverbote nur die Ultima Ratio seien, die es bis zu einem Jahreswert von 50 Mikrogramm nicht brauche, solange der Grenzwert mit anderen Maßnahmen erreicht werden könne. „Für uns ändert sich damit überhaupt nichts“, sagte Klinger. Was Wiesbaden am Mittwoch vorgelegt habe, sei sehr nachhaltig gewesen und eröffne große Vorteile für die öffentliche Mobilität. Die Lehre aus Wiesbaden sei: „Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein rechtlicher Weg“, saget Klinger, und fügte noch hinzu: „Warum es dazu allerdings erst jahrelanger Prozesse bedurfte, verstehe ich nicht.“
Mainz muss nach dem Urteil des Mainzer Verwaltungsgerichts von Ende Oktober 2018 zum 1. September ein Fahrverbot einführen, falls es nicht gelingt, die Stickoxidwerte im ersten Halbjahr 2018 auf den Grenzwert von 40 Mikrogramm zu senken. Bei der DUH hieß es am Donnerstag auf Mainz&-Anfrage, man werde zügig nach dem 30. Juni die Werte des ersten Halbjahres auswerten. Zudem werde die DUH eigene Messungen mit Passivsammlern im Mainzer Stadtgebiet durchführen. Laut Umweltbundesamt sank der Stickoxid-Wert an der Parcusstraße 2018 lediglich leicht um ein Mikrogramm auf 47 Mikrogramm. Die DUH kündigte an, man werde sich in Mainz nicht allein auf diese Messstation konzentrieren, sondern die gesamte Innenstadt in den Fokus nehmen.
Info& auf Mainz&: Mehr zur Mainzer Stickoxid-Situation lest Ihr hier bei Mainz&, mehr zu dem Wiesbadener Kampf um saubere Luft in diesem Mainz&-Artikel vom Dezember 2018.