Kein Land in Sicht – dieser Satz hat seit den jüngsten Tragödien im Mittelmeer eine ganz neue Brisanz bekommen. „Kein Land in Sicht“ ist das Motto des 41. Open Ohr-Festivals an Pfingsten vom 22. bis 25. Mai auf der Zitadelle in Mainz – das politische Jugendkulturfestival ist schon wieder hochaktuell. Die Flüchtlingspolitik und ihr Scheitern ist das Kernthema in diesem Jahr, es geht um Flucht, aber auch um Identität, es geht um Restriktionen, aber auch um die Suche nach langfristigen Lösungen. Und das „Ohr“ redet nicht nur über Flüchtlinge – es redet auch mit ihnen.
Egal ob Podien, Events, Theater oder Musik – das Thema Flüchtlinge ist in diesem Jahr omnipräsent. „Die Flüchtlingssituation betrifft und bewegt uns alle und das Open Ohr-Festival möchte diesem wichtigen und aktuellen Thema auf informative, kontroverse und differenzierte Weise begegnen sowie einen direkten Austausch schaffen“, heißt es im Thesenpapier der unabhängigen Open Ohr-Projektgruppe, die das Festival plant und organisiert.
Macht, Ohnmacht, Zukunft Integration – Themen auf den Podien
In den klassischen Diskussionsrunden geht es um Asylverfahren und das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik, das Ohr fragt bei der Deutschen Flüchtlingspolitik „Zwischen Macht und Ohnmacht?“ – und es fragt nach der Integration der zu uns Geflüchteten: „In Zukunft mit Flüchtlingen leben“, zum Beispiel.
Als Referenten kommen unter anderem der CDU-Europapolitiker Elmar Brok, Ole Schröder, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium (und Ehemann der Ex-Ministerin Kristina Schröder) sowie die rheinland-pfälzische Staatssekretärin im Integrationsministerium, Margit Gottstein. und ein Vertreter des Zentrums für politische Schönheit.
Zentrum für politische Schönheit zu Gast: Seerosen für Afrika
Außerdem wird Cesy Leonard vom „Zentrum für Politische Schönheit“ erwartet – einer Kunstaktion, die sich höchst innovativ der politischen Aktionskunst widmet und in neuen, erweiterten Formen des Theaters Missstände gerade auch in der Flüchtlingspolitik aufzeigt. So sah etwa das 2010 entwickelte Projekt „Seerosen für Afrika“ vor, dass Deutschland „gegen das stille Sterben im MIttelmeer 1.000 festverankerte Rettungsinseln errichtet.“
Jede Rettungsinsel werde mit Windschutz, Nahrung, Fahnenmast, Positionssolarlicht und Radarreflektor ausgestattet, und die europäische Grenzschutzagentur Frontex – inzwischen ja abgeschafft – erhalte eine neue Aufgabe: die Rettungsinseln zu kontrollieren und Flüchtlinge nach Deutschland zu bringen. „Utopie als Waffe“, nennt das Zentrum für politische Schönheit das selbst, was Ihr hier nachlesen könnt. Wir sind gespannt, was Leonard uns sonst noch erzählt von der „Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit – und zum Schutz der Menschheit.“
„Grenzgespräche“ mit Flüchtlingen und Helfern
Doch das Open Ohr wäre nicht das Open Ohr, wenn es nur über Flüchtlinge reden würde. Bei der Reihe „Grenzgespräche“ seien immer wieder auch Flüchtlinge dabei, sagte Sascha Hellberg von der Projektgruppe Mainz&, etwa ein Ex-Flüchtling aus Somalia, aber auch Flüchtlinge aus Unterkünften in Mainz. An die wurden im Übrigen Freikarten fürs Open Ohr vergeben, das tue das Open Ohr allerdings schon seit Jahren. Auch kommt der Kap Anamur-Helfer Elias Bierdel nach Mainz, der schon vor Jahren Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettete. Das wird spannend.
Poster-Session & Kabarett am Mittag
Die jedes Jahr ja ein wenig neu zusammengesetzte Projektgruppe will in diesem Jahr übrigens ein bisschen mehr experimentieren: So gibt es eine Poster-Session, es werden mehr Kurzfilme gezeigt – und das Kabarett findet neben den traditionellen Mitternachts-Vorstellungen im Kabarettzelt auch zweimal Mittags statt – am Samstag und am Montag. Zu Gast sind in diesem Jahr ausschließlich Träger des deutschen Kleinkunstpreises: Uta Köbernick mit ihren „Rabenliedern“, HG Butzko aus dem Pott, Nachwuchskabarettist Martin Zingsheim mit Wort und Piano, Team & Struppi sowie das Musik-Kabarett-Projekt „Kleine Sommernacht der Lieder“.
Musicacts mit starken Frauen auf der Suche nach Freiheit und Sicherheit
Auch bei den insgesamt 27 Musikacts weht in diesem Jahr Musik ehemaliger Geflüchteter über die Hauptwiese. Da ist die Sängerin Nneka, die ursprünglich aus Nigeria stammt, heute jedoch in Hamburg lebt. „Sie hat ihren ganz eigenen Musikstil aus Reggae, Soul und Afro-Beats“, sagte Nora Weisbrod von der Projektgruppe Mainz&. Und Nneka singt über ihr Leben als Gewanderte zwischen den Welten, die nun ihre Heimat sind.
Auch bei der Sängerin Aziza Brahim spiegelt sich das Thema Flucht in ihrer Musik: Geboren und aufgewachsen in Flüchtlingslagern entlang der Grenze zwischen Afghanistan und der Westsahara, erzählt auch sie ihre persönliche Geschichte von Flucht und dem Leben zwischen Kulturen. „Sie ist jemand, der viel Leid erfahren hat, hat aber trotzdem Texte, die Mut machen und ganz viel positive Energie“, sagte Weisbrod. Auch die Sängerin Dota Kehr a.k.a. Die Kleingeldprinzessin und Band werden zu Gast sein. Dota Kehr vertont Sehnsüchte, formuliert Missstände auf den Punkt und hinterfragt wo Grenzen gezogen werden.
Unbekannte Bands – und Nina Hagen
Dazu kommt die Freiburger Band Stereo Dynamite, die dänische Newcomer-Band Go Go Berlin, die Songwriter-Supergroup „Die Höchste Eisenbahn“ mit einer Mischung aus Disco, Indie und Pop sowie die Ska-Band Blechreiz. Sagt Euch alles nichts? Macht nichts – „es macht ja das Open Ohr aus, dass man immer neue Bands entdecken kann“, wie Weisbrod so treffend sagte. Bekannt ist aber natürlich Rapper Curse, der mit seinem neuen Soloalbum im Gepäck anreist.
Hauptact auf der Festivalbühne ist aber natürlich die alte Punkerin Nina Hagen, die – so verspricht es die Projektgruppe – „alles im Gepäck haben wird, was sie in den letzten
Jahrzehnten an Grooves, Beats und Messages zu ihrem energiegeladenen Universum zusammengebaut hat.“ Nina Hagen feiert gerade ihr 45-jähriges Bühnenjubiläum, trete aber nur noch selten live auf, sagte Weisbrod – und dabei passt der Alt-Star doch so super zum Open Ohr. Dann hoffen wir mal, dass die Hagen auch tatsächlich eine tolle Performance hinlegt – 2014 war Helden-Frontfrau Judith Holofernes ja nicht soooo der Hit…
Theater: Deportation Cast, Asyl-Dialoge und Grenzerfahrung im Kühl-Container
Richtig spannend dürfte es aber im Bereich Theater werden: Schon „Deportation Cast“ von der Landesbühne Niedersachsen Nord am Samstag widmet sich der Geschichte einer durch Abschiebung bedrohten Familie – eine humanitäre Katastrophe, die sich tagtäglich vor unseren Augen und unseren Haustüren abspielt. Zu Gast ist außerdem die Bühne für Menschenrechte mit den „Asyl-Dialogen“, einem dokumentarischen Theater, das aus Interviews mit Beteiligten und Betroffenen entstand und von Begegnungen erzählt, und von gemeinsamen Kämpfen in unerwarteten Momenten.
Beklemmend wird wohl die Performance von „Das letzte Kleinod“ sein: Die führen ihr Stück „November und was weiter“ gleich in einem echten Container auf. Erzählt wird die wahre Geschichte zweier afghanischer Jungen, die sich in einem Kühlcontainer versteckten, um von Griechenland nach Italien zu gelangen. 44 Stunden zu sechst auf zwei Quadratmetern, und das heruntergekühlt auf 5 Grad – zumindest die drangvolle Enge des Containers können die Zuschauer selbst erleben, denn sie sitzen während des Stückes auf Paletten im Container. So werden die Zuschauer mitten ins Geschehen geworfen, die Trennung zwischen Bühne und Zuschauer wird aufgehoben – das Thema Flucht wird hautnah erlebbar. Genial.
Wegen Mindestlohn: Eintrittspreise angehoben
Einen dicken Wermutstropfen gibt es aber auch: Das Open Ohr hebt die Eintrittspreise an. So kostet die Dauerkarte für alle vier Festival-Tage nun 38,- Euro statt vorher 35,- Euro, eine Tageskarte jeweils 22,- Euro, am Montag 11,- Euro. Grund: der Mindestlohn. „Alle Firmen habend eswegen die Preise erhöht, und auch wir müssen jetzt Mindestlohn für die Helfer zahlen“, sagte Stadtjugendpfleger Markus Hansen Mainz& zur Begründung. Statt bisher zwischen 5,15 Euro und 5,80 Euro für die Helfer muss das Open Ohr jetzt ebenfalls 8,50 Euro zahlen. Die Preissteigerungen machten so insgesamt fast 20.000 Euro aus, sagte Hansen.
Bei einem Etat von 286.000 Euro war das ohne eine Steigerung der Eintrittspreise offenbar nicht zu machen, das Open Ohr ist ja nicht gerade üppig finanziert. Den Betrag schießt die Stadt Mainz dem Festival nur vor, das Geld muss durch Eintritt und andere Einnahemn wieder hereingeholt werden. Gut, dass es dieses Jahr zusätzlich 80.000 Euro von Sponsoren gab. Und wie meinte Hansen zu den 38,- Euro: Gemessen an vier Tagen Programm „ist das immer noch ein Schnäppchen.“
Info& auf Mainz&: Das 41. Open Ohr-Festival findet vom 21. bis zum 25. Mai 2015 – dem Pfingstwochenende – auf der Zitadelle in Mainz statt. Eine Dauerkarte kostet 38,- Euro, im Vorverkauf 34,- Euro, Tageskarten 22,- Euro, am Montag 11,- Euro. Der Vorverkauf für das Festival sowie die Zeltplätze hat jetzt begonnen. Dauerkarten können online über das Internet, per Telefon oder über die bekannten Vorverkaufsstellen erworben werden. Kinder bis einschließlich 13 Jahre haben freien Eintritt. Alle Infos zum Programm, den Inhalten und den Karten gibt es unter www.openohr.de.
P.S.: Das Open Ohr ist übrigens vergangenes Jahr 40 geworden – den Geburtstagstext mit Rückblick auf die 40 Jahre lest Ihr hier.