„Unverantwortlich und unkollegial“ sei die Entscheidung, das Vorgehen „unterste Schublade“ – so schimpfte im November 2018 ein Grüner im Mainzer Stadtvorstand: Bürgermeister Günter Beck. Da hatte gerade Stunden zuvor FDP-Wirtschaftsdezernent Christopher Sitte (FDP) völlig überraschend seinen Abgang aus Mainz und aus seinem Amt erklärt – 48 Stunden bevor seine Wiederwahl anstand. Das Ergebnis ist bekannt, die Mainzer CDU-Unternehmerin Michaela Matz bekleidet seither das Amt des Mainzer Wirtschaftsdezernenten, demokratisch gewählt. Am Montagabend verkündete die Mainzer FDP triumphierend ihre Rückkehr in den Mainzer Stadtvorstand – mittels eines neuen Wirtschaftsdezernenten. Was dort geschah, lässt nur einen Schluss zu: Nicht nur Sitte hat die Stadt und vor allem die Mainzer FDP verlassen – sondern jeglicher Anstand gleich mit.
Da wird nach den Regeln der Demokratie eine legitime Kandidatin in ein Amt gewählt, für das sie zudem auch noch qualifiziert ist: Die 55 Jahre alte Hechtsheimerin ist studierte Wirtschafts-Rechtsanwältin und leitete lange Jahre mit ihrem Mann Dirk Loomans ein auf Datenschutz in großen Unternehmen spezialisierte Firma, selbst gegründet und aufgebaut, und am Ende sehr erfolgreich an die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG verkauft. Matz trat ihr Amt mit großen Plänen an – und mit leeren Schränken.
Sämtliche Akten und Unterlagen waren aus ihrem Büro verschwunden, die Schränke ausgeräumt – und auch auf den Computern des Dezernats herrschte gähnende Leere. Akten, Unterlagen, Termine, Kalender sogar Adressdatenbanken des Dezernats – alles weg. Beseitigt von ihrem Vorgänger Sitte und dessen Mitarbeiterinnen, Daten und Datenbanken tauchten zum Teil erst ein halbes Jahr später wieder auf. Die neue Dezernentin kam nur langsam in ihrem Amt an, sie musste neue Stellen schaffen und neue Mitarbeiter für die Wirtschaftsförderung einstellen – knapp ein Jahr lang stand ihr lediglich ein Mann für die Wirtschaftsförderung zur Verfügung. Im Stadtvorstand blockierte man ihre Ideen und Initiativen, meldete Matz sich zu Themen ihres Dezernats öffentlich zu Wort, gab es Ärger.
13 Monate später stellt sich nun die Mainzer FDP in Person ihres Parteichefs David Dietz hin und behauptet allen Ernstes: Matz könne es nicht. Die Wirtschaftsförderung in Mainz müsse dringend neu aufgestellt werden, man brauche ein Konzept, das könne die Amtsinhaberin nicht leisten. Die FDP hat seit Jahrzehnten in Mainz den Wirtschaftsdezernenten gestellt, der spätere Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle bekleidete ab 1981 das Amt, gefolgt von FDP-Politikern wie Richard Patzke, Franz Ringhoffer und schließlich Christopher Sitte. Gerade unter Letzterem klagten Firmen reihenweise über mangelnde Flächen und Unterstützung aus dem Wirtschaftsdezernat, diverse Firmen verließen die Stadt. Wenn die Mainzer Wirtschaftsförderung schlecht aufgestellt ist – wessen Schuld ist das dann?
Mit Sitte verschwand die FDP nicht nur aus dem Stadtvorstand, sondern auch aus der öffentlichen Wahrnehmung, weder aus der Partei, noch aus der Fraktion kamen in den vergangenen Monaten spürbare Impulse für die Mainzer Stadtpolitik. Die FDP sei in der Öffentlichkeit und den Medien überhaupt nicht sichtbar, klagten selbst FDP-Mitglieder auf Parteitagen: Wie wolle man denn den Wählern erklären, wofür die Partei stehe?
Bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages nannte Dietz vage den weiteren Ausbau des Gutenberg-Hubs und des Zentrenkonzepts als Ziele – das war’s. Wichtigster Punkt: Die Rückkehr der FDP in den Stadtvorstand – mittels eines eigens geschaffenen neuen Wirtschaftsdezernats. Das Amt könne man gut ehrenamtlich ausführen, die FDP habe „genügend Persönlichkeiten“, schwurbelte Dietz. Dass die derzeitige Dezernentin bereits Konzepte und Visionen entwickelt hat – kein Wort dazu. Für deren Arbeit hatte Dietz nur abfällige Bemerkungen übrig – dreister und schäbiger hat sich eine Partei nie an die Töpfe der Macht zurückgeschlagen.
Vor wenigen Tagen stellte die rheinland-pfälzische Landesregierung eine neue Kampagne vor: „Miteinander Gut Leben“ heißt die, SPD, FDP und Grüne machten sich stark gegen Hass und Hetze. „Wir müssen unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat, unsere Debattenkultur bewahren“, betonte dabei auch Landes-FDP-Chef und Wirtschaftsminister Volker Wissing, und Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) persönlich appelliert seither in Podcasts auf allen Kanälen an die Bürger: „Machen Sie mit! Unterzeichnen Sie unseren Appell und setzen Sie ein Zeichen für ein respektvolles Miteinander!“ In dem Appell heißt es auch: „Wir widersprechen, wenn einzelne verächtlich gemacht werden.“
Am Montagabend saßen Vertreter von SPD, Grünen und FDP gemeinsam in einem Saal und verzogen keine Miene, während ein Vertreter aus ihren Reihen, ein Partner ihrer Koalition, eine Dezernentin auf offener Bühne heruntermachte, ihr die Qualifikation absprach und ihr de facto den Job entzog. Niemand widersprach. Niemand verließ empört den Raum. Niemand griff ein. Jeder einzelne Politiker, der dort gesessen und nicht widersprochen hat, jeder einzelne Parteivertreter, der diesem Deal zugestimmt hat, hat sich gemein gemacht mit einem Mobbing unterster Schublade.
Mainz hat bereits fünf hauptamtliche Dezernenten, zusätzlich zum Oberbürgermeister, ein neues Dezernat wird es nicht zum Nulltarif geben: da braucht es Büros und Computer, Sekretäre und Assistenten, Referenten, Budget, Dienstwagen. Ein sechstes Dezernat wird für Mainz teuer, es wird völlig überflüssige Doppelstrukturen schaffen, und seine Schaffung ist durch kein einziges sachliches Argument belegt. Wer dem zustimmt, wer im März dafür im Stadtrat die Hand hebt, hebt die Hand für Postengeschacher und ein Untergraben von Demokratie und Wahlen. „Unkollegial, unverantwortlich, unterste Schublade“ war der Abgang von Christopher Sitte im November 2018? Nun, es geht offenbar noch eine Schublade tiefer. Bleibt es bei dem, was heute angekündigt wurde, dann haben wahrlich Sitte und Anstand diese Stadt verlassen.
Info& auf Mainz&: Mehr zu den Plänen der Ampel 3.0 zum Thema Wirtschaftsdezernat lest Ihr hier bei Mainz&, alles zum neuen Koalitionsvertrag und den Plänen von Grünen, SPD und FDP lest Ihr in diesem Mainz-Artikel.