Nach zwei Wochen ist die Ausgangssperre in Mainz schon wieder Geschichte – und was ist in dieser Zeit passiert? Die Sieben-Tages-Inzidenz ist von 100 auf 200 geklettert, die Corona-Infektionen gehen durch die Decke – und die Politik appelliert noch immer hilflos an die Menschen, doch bitte, bitte ihre Kontakte einzustellen. Vorzugsweise die privaten. Das war’s. Oder nicht ganz: Diese Ausgangssperre als solitäre Maßnahme hat in Sachen Abbremsen der dritten Corona-Welle nichts geholfen, sie dürfte stattdessen sogar massiv geschadet haben. Denn sie hat auch noch die Leute verärgert, die sich bislang eisern an alle Corona-Regeln gehalten haben. Sie hat Wut und Unverständnis erzeugt – und eine „Ihr-Könnt-Mich-Mal-Mentalität“. Das könnte sich noch als tödlicher Bumerang in der Corona-Pandemie erweisen – der Mainz&-Leitartikel zum Stopp der Mainzer Ausgangssperre durch das Verwaltungsgericht Mainz.

Der Mainzer Markt am Freitagabend, nachdem das Verwaltungsgericht Mainz die nächtliche Ausgangssperre gekippt hatte. - Foto: gik
Der Mainzer Markt am Freitagabend, nachdem das Verwaltungsgericht Mainz die nächtliche Ausgangssperre gekippt hatte. – Foto: gik

Als Mainz am 1. April die nächtliche Ausgangssperre einführte, lag die Sieben-Tages-Inzidenz in Mainz bei 121. Kurz nach Ostern sank sie dann auf 100 – und dann ging es so richtig los: Binnen ganzer drei Tage ging es von 151 auf 177 und dann auf 197. Mit Ausgangssperre. Das seien wohl zum einen die Infektionen in den Kitas gewesen, aber auch die Osterfeiertage, bot der Chef der Gesundheitsamtes, Dietmar Hoffmann, als Erklärung an – da habe es wohl doch mehr Kontakte gegeben, als gut gewesen wäre.

Nur: An Ostern galt die nächtliche Ausgangssperre auch schon, wann also fanden diese ganzen Kontakte und Ansteckungen statt? Der Großteil der Ansteckungen geschehe tagsüber, sagen Virologen, wenn man ihnen denn mal zuhört: Die nächtliche Mobilität mache gerade einmal 10-12 Prozent aus, sagen die Mobilitätsforscher beim Robert-Koch-Institut. Die Gefahr lauere drinnen, nicht draußen, sagen die Aerosolforscher, der Hauptübertragungsweg seien Aerosole durch die Luft in Innenräumen. Angesteckt werde sich bei privaten Treffen, in Großfamilien, in Büros und Kitas, sagen die Experten in den Gesundheitsämtern. Man müsse derzeit davon ausgehen, dass wenn sich nur ein Familienmitglied infiziere, „dass es dann alle kriegen“, sagte Hoffmann. Fragt man ihn aber, wo sich denn die meisten Leuten ansteckten, kommt prompt die Antwort: im privaten Bereich. Ach so.

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Wo passieren die Corona-Infektionen wirklich? In der Schule? Dem Betrieb? Dem "privaten Bereich"? - Foto: Mainz&
Wo passieren die Corona-Infektionen wirklich? In der Schule? Dem Betrieb? Dem „privaten Bereich“? – Foto: Mainz&

Wie das Virus in den „privaten Bereich“ gekommen ist – darüber wird nicht gesprochen. Man wisse es schlicht nicht, heißt es dann – allein das ist ein Armutszeugnis für Deutschland, ein Jahr nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie. „Ich habe mich bei meinem Mann angesteckt, der hat’s aus dem Büro mitgebracht“, erzählt die eine Bekannte. „Unser Sohn hats aus der Schule mitgebracht“, erzählen andere. „Vermutlich hat sich mein Mann auf der Arbeit angesteckt, aber das dürfen wir nicht laut sagen – wir können es ja nicht beweisen“, erzählt eine dritte. Also heißt der Ansteckungsort: Zuhause.

Die meisten verantwortungsbewussten Bürger dieses Landes – und das ist die große Mehrzahl – haben seit einem Jahr ihre Kontakte drastisch reduziert. Viele sehen Freunde und Familie wochenlang gar nicht oder nur beim Spaziergang im Freien. Man hat ihnen Feste, Feiern und Restaurants genommen, Urlaub machen gilt als höchst unsolidarisch. Dem normalen Arbeitnehmer bleibt de facto seit Oktober – nichts. Eine Person darf zu Besuch kommen, das war’s. Kinder saßen wochenlang isoliert im Fernunterricht, ihre Eltern im Home Office. Wer die Regeln ernst nahm, konnte seine Besuche seit Oktober an zwei Händen abzählen.

Und dann kommt die Politik, verhängt eine nächtliche Ausgangssperre – und appelliert eindringlich, man möge doch bitte, endlich seine Kontakte reduzieren. Und es war genau dieser Punkt, an dem sich nicht wenige fragten: Moment mal – wie denn noch? Dass der Staat seine Bürger nun auch noch nachts „in der Wohnung einsperrt“ – das war für viele der eine Tropf im ohnehin randvollen Fass zu viel. Auf einmal konnte man erleben, dass sich eiserne Corona-Eindämmer der ersten Stunde weigerten, sich an diese eine Regel zu halten. Sie schlichen heimlich nach 21.00 Uhr nachhause oder fühlten sich beim Spazierengehen im Park oder beim Joggen bei Nacht regelrecht kriminalisiert. Unter Jüngeren traf man sich weiter – und übernachtete einfach, anstatt nachhause zu fahren. Notfalls zu zehnt in einem Raum – Virus-Party-Time.

Wenn der Spaziergang zur kriminellen Tat erklärt wird, dann geht das schlicht zu weit. - Foto: gik
Wenn der Spaziergang zur kriminellen Tat erklärt wird, dann geht das schlicht zu weit. – Foto: gik

Die Politik hatte genau das Gegenteil erreicht von dem, was sie wollte: Die Menschen wandten sich ab, angewidert, frustriert oder einfach nur schulterzuckend. Der klare Eindruck: Weil die Politik keinen blassen Schimmer mehr hat, wie sie die dritte Welle eindämmen will, lässt sie es mal wieder nur am Privatbereich aus. Wichtig ist hier das eine Wörtchen: nur. Denn Schulen und Kitas blieben offen, in den Büros änderte sich: nichts. „Unter Verdacht gerät, wer nachts spazieren geht“, kritisierte etwa die Mainzer Linke, doch trotz der weitaus höheren Infektionsgefahr in Innenräumen bleibe die Arbeitswelt von weitgehenden Einschränkungen verschont.

Es ist das Ungleichgewicht zwischen Arbeitswelt und Privatleben, das das Miteinander derzeit ins Rutschen bringt. Wer sieht, wie Bauarbeiter ohne Maske dicht an dicht täglich auf Baustellen schuften, wer sieht, wie Mitarbeiter der Verwaltung ohne Maske im Bürgerbüro sitzen, wer miterlebt, wie sich Kinder in Schulbussen drängen und wie Freunde von Chefs ohne Not ins Büro zitiert werden, einfach weil der das so will – wie sollte dieser Mensch noch die Bereitschaft haben, seine Kontakte noch weiter einzuschränken? Kontakte, die es doch sowieso schon kaum noch gibt?

Sommerlicher Abendtreff auf der Fort Malakoff-Terrasse. - Foto: gik
Sommerlicher Abendtreff auf der Fort Malakoff-Terrasse. – Foto: gik

Und dann hört man den Chef der Mainzer Uniklinik, Norbert Pfeiffer, im SWR-Interview sagen, naja eine nächtliche Ausgangssperre verhindere bei den derzeitigen Temperaturen ja eigentlich nichts – sinnvoll sei das vor allem im Sommer. Ja, DANN MACHT SIE DOCH IM SOMMER, möchte man schreien, und denkt: Klar, dann würde es Sinn machen. Wenn sich Scharen Jugendlicher am Rhein treffen, oder mehrere Großfamilien zum Picknick im Park, wenn in Gruppen gegrillt und eng gedrängt Fußball gespielt wird, wenn es abends warm und lange hell ist – dann könnte man eine Ausgangssperre schlüssig erklären.

Aber jetzt? Wieso ist das Zigaretten holen am Automaten um 22.00 Uhr schädlicher als um 20.00 Uhr? Wieso das Pärchen verscheuchen, das abends nach der Arbeit noch mal am Rhein sitzen, den Familienvater, der sich noch mal kurz die Füße vertreten will? Die Jugendlichen, die am Wochenende schnell noch das Pokemon-Event zu Ende spielen wollen? Man habe ihr ihre Lieblings-Einkaufsstunde genommen, klagte eine Frau – zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr sei aller immer so schön ruhig in den Märkten gewesen. Jetzt ballten sich die Einkaufenden alle vor 21.00 Uhr.

Mainzer Altstadt am Freitagabend um 22.00 Uhr: Wieso ist der Spaziergang nachts gefährlicher als am Tag? - Foto: gik
Mainzer Altstadt am Freitagabend um 22.00 Uhr: Wieso ist der Spaziergang nachts gefährlicher als am Tag? – Foto: gik

Und dann sind da noch die vielen Menschen, die doch tatsächlich in den Abendstunden einer Arbeit nachgehen. Mehr als 90 Prozent derer, die man während der Ausgangssperre kontrolliert habe, hätten einen triftigen Grund dazu gehabt, draußen zu sein, teilte die Mainzer Polizei mit – in Deutschland gilt aber offenbar immer noch das alte Vorurteil: Wer tagsüber arbeitet, ist fleißig, wer nachts arbeitet, irgendwie verdächtig.

Es gehe doch nicht um den Spaziergang im Freien oder „um die Debatte, ist draußen schlimmer als drinnen“, wehrte der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) noch am Donnerstag ab: „Die Menschen sollen sich nicht treffen.“ Typisch Deutsch ist aber: Kontakte bei Tag werden kaum unterbunden, Kontakte in der Nacht aber sind auf einmal „böse“ – als würde das Virus zwischen Tag und Nacht unterscheiden. Die Ausgangssperre treffe vor allem jüngere Menschen und Menschen in prekären Wohnsituationen, es werde damit „suggeriert, dass ‚die Jugend‘ oder ‚der Feierabend‘ Schuld seien am Pandemiegeschehen“, klagte die Linke, völlig zu Recht.

Der komplette Lockdown im März 2020 - er wirkte, weil gleichzeitig alles heruntergefahren wurde. - Foto: gik
Der komplette Lockdown im März 2020 – er wirkte, weil gleichzeitig alles heruntergefahren wurde. – Foto: gik

Und da kommen die anderen Länder ins Spiel: Portugal, Irland, Großbritannien. Überall dort habe es einer Ausgangssperre bedurft, um die dritte Welle in den Griff zu bekommen, argumentiert SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach – ohne gehe es nicht. In der Tat, alle diese Länder hatten Ausgangssperren – aber sie haben GLEICHZEITIG Schulen und Kitas geschlossen, Arbeitnehmer konsequent nachhause geschickt, kurz: Sie haben das öffentliche und das WirtschaftsLeben komplett heruntergefahren. Manchmal sogar inklusive Ausgangssperre bei Tag.

Kurz: Diese Länder haben die dritte Welle durch genau den scharfen Komplett-Lockdown in den Griff bekommen, den die Ministerpräsidenten vor Ostern der Bundeskanzlerin verweigerten. Der dann in die „Osterruhe“ umgewandelt wurde, die wiederum die deutsche Wirtschaft durch massives Klagen und Jammern höchst erfolgreich gekippt hat. Wegen zwei ganzen Tagen geschlossener Betriebe. Solidarität?

Die nächtliche Ausgangsbeschränkung in Mainz sei „offensichtlich rechtswidrig“, denn zu so einer gravierenden Einschränkung der Grundrechte dürfe erst dann gegriffen werden,  wenn es keine anderen, milderen Mittel zur Bekämpfung von Covid-19 gebe, urteilte das Verwaltungsgericht Mainz am Donnerstag – genau diese Abwägung aber hätten die Verordnungsgeber – also Stadt Mainz und Land Rheinland-Pfalz – gar nicht geführt. Und die Stadt habe auch nicht schlüssig erklären können, wieso ausgerechnet die nächtliche Ausgangsbeschränkung eine notwendig Maßnahme sei, die dem Infektionsgeschehen wirksam vorbeuge.

Der Leiter des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen, Dietmar Hoffmann, in einer Videokonferenz, unter anderem mit Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD). - Foto: gik
Der Leiter des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen, Dietmar Hoffmann, in einer Videokonferenz, unter anderem mit Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD). – Foto: gik

Die Ausgangssperre, räumte Dietmar Hoffmann am Donnerstag ein, sei „eine von vielen Maßnahmen“, die alle zusammen eingesetzt werden müssten – eine allein greife da nicht. Und der Mainzer Oberbürgermeister Michael Ebling räumte ein, man könne jetzt noch die Schulen und Kitas schließen, doch wenn das auch nicht wirke, dann habe man nichts mehr in der Hand. Wolle man danach Mobilität weiter reduzieren, „geht das nur, wenn wir auch im Wirtschaftsbereich Mobilität brechen“, sagte Ebling – es war die diplomatische Verklausulierung für: dann müssten wir die Wirtschaft herunterfahren.

Die Prioritätenfolge der Politik war damit klar: Erst mal die Privatkontakte, egal, welche Schäden das anrichtet bei Singles, Alleinerziehenden, Rentnern, Kindern, Studierenden. Dann vielleicht die Schulen und Kitas. Und erst ganz am Schluss, also vielleicht – dann gehen wir auch mal an die Wirtschaft. Es ist kein Wunder, dass immer mehr Menschen  sagen: da mache ich nicht mit. Diese einseitige Verlagerung der Verantwortung auf die Schultern derer, die sowieso schon alles stemmen – sie droht nach hinten los zu gehen. Die Ausgangssperre war die Kampfansage der Politik an die Menschen, die das Rückgrat der Pandemie-Bekämpfung sind: die Menschen, die seit einem Jahr ihr Sozialleben und ihre letzten privaten Kontakte geopfert haben. Und die nach einem Jahr Pandemie-Last keine Kraft mehr haben.

Und genau deshalb hat die Ausgangssperre mehr geschadet, als dass sie genutzt hätte: Sie hat wahrscheinlich kaum Infektionen verhindert – aber dafür bei Tausenden ein Abwehrhalten gegen die Chaos-Politik des Staates geschürt. Sie hat Solidarität untergraben und die Bereitschaft, sich für die Bewältigung der Pandemie noch zu engagieren. Einseitige Solidarität ist eben endlich. Wie sagte Gesundheitsamtschef Hoffmann doch noch: Es sei womöglich „einer der größten Fehler der Pandemie gewesen, dass die Osterruhe nicht vollzogen wurde.“

Info& auf Mainz&: Warum das Mainzer Verwaltungsgericht am Donnerstag die nächtliche Ausgangssperre in Mainz gekippt hat, könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen. Die volle Kritik an der Ausgangssperre samt einer Reportage von der Nacht in der „Geisterstadt Mainz“ lest Ihr hier bei Mainz&.

Achtung&: Dieser Artikel ist ein Leitartikel. Ein Leitartikel ist die meinungsorientierte Darstellung eines Sachverhalts, einer gesellschaftlichen Entwicklung, den eine Redaktion als besonders zentrales, herausragendes Thema ihren Lesern in zugespitzer Form vor Augen halten will. Leitartikel sind KEINE Kommentare, sie beruhen auf intensiver Analyse und langer Recherche. Alle Aussagen und Zitate in diesem Text sind belegt, dies ist eine Analyse, die in zugespitzt-pointierter Form das Ergebnis längerer Beobachtungen zusammenfasst – und Stellung bezieht. 

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