Nachts im Hotel wundern sich Touristen über närrische Gestalten, die zwischen Baustellen-Planen zur Vorlesung eilen, wo es um vierfarbbunte Zeitenwenden, des Narren Blende auf die Politik und das Begräbnis einer Sardine geht – keine Frage: Die Närrische Nachtvorlesung ist zurück. Zum neunten Mal luden Professor Christian Vahl und seine Mitstreiter ins närrische Auditorium, geboten wurde allerlei Wissen rund um den Rosenmontagszug, Sprechblasen-Archäologie und Zeitgeist-Forschung. Auch die Musik kam nicht zu kurz – und die Zuschauer lernten, was Tod und Sardinen mit Neuanfang und Fastnacht zu tun haben.

Närrische Nachtvorlesung anno 2023: Die Beerdigung der Sardine und viel Fastnachts-Schwung. - Foto: gik
Närrische Nachtvorlesung anno 2023: Die Beerdigung der Sardine und viel Fastnachts-Schwung. – Foto: gik

Es war um das Jahr 1812, als der berühmte spanische Maler Francisco de Goya ein ungewöhnliches Werk auf die Leinwand warf: „El entierro de la Sardina“, „das Begräbnis der Sardine“ lautet der Titel, das Ölgemälde hält einen Brauch der spanischen Hauptstadt Madrid fest. Immer am Karnevalsdienstag findet hier nämlich ein besonderes Narren-Ritual statt, bei dem symbolisch Sardinen zu Grabe getragen und verbrannt werden.

Der Brauch geht zurück auf eine Begebenheit um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als der spanische König Carlos III. an einem Aschermittwoch sein hungerndes Volk mit Sardinen speisen wollte – doch die importierten Fische erwiesen sich als hochgradig verdorben. Bis heute ziehen deshalb nun die Madrilenen am letzten Tag des Karneval an den Fluss Manzanares, um dort in Frack und Zylinder gekleidet überdimensional große Pappmaché-Fische zu beerdigen – Tod, Vergänglichkeit und der Narr als Symbol einer verkehrten Welt sind bis heute Bestandteil von Karnevalsriten in der ganzen Welt.

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Von der toten Sardine des Narren als Chance zum Neubeginn

Als „Professor Manzanares“ berichtete vergangene Woche Christian Vahl, Ex-Leiter der Mainzer Klinik für Herz-, Thorax- und Gefäßchirurgie, den Gästen der „Närrischen Nachtvorlesung“ von diesem ungewöhnlichen Karnevals-Ritus, der sich von Madrid aus bis auf die Kanarischen Inseln verbreitete. Vahl lebte selbst ein Jahr lang in Madrid, als Präsident der „Unsichtbaren Römergarde“ gab er nun einen Einblick in Fastnachtsriten anderer Länder.

Christian Vahl als Professor Manzanares. - Foto: gik
Christian Vahl als Professor Manzanares. – Foto: gik

„Der Zug der Sardine endet entweder im Wasser oder im Feuer, die Sardine fängt Feuer, einen Apfel im Maul“, berichtete Vahl den gespannt lauschenden Zuhörern. Für die Spanier habe das Ritual aber auch eine moderne Bedeutung, berichtete er: „Jeder von uns trägt eine tote Sardine in sich, es ist etwas, was wir wie einen Sarg in uns tragen – eine Trennung, eine Enttäuschung, oder auch nur ein kaputtes Auto“, verdeutlichte Vahl. Im Rahmen der Fastnacht habe jeder nun „die Möglichkeit, es mit dem Ritual der Sardine zu beerdigen und neu zu starten“ – so sähen es die Spanier: Das Ritual als Chance für den Neubeginn.

Zum neunten Mal hatte Vahl zur „Närrischen Nachtvorlesung“ geladen, es war die Wiedergeburt des Erfolgs-Formats nach den Pausen der Corona-Pandemie, das gleichwohl nicht wie gewohnt in einem Hörsaal der Mainzer Universitätsmedizin stattfinden durfte. Die Besucher trafen sich so in der Brasserie des Hilton-Hotels, rund 100 Gäste hatten in dem Restaurant lediglich Platz – die aber präsentierten sich dezent kostümiert und gut aufgelegt.

Beswingtes Fastnachtsmotto und klebende Intoleranz

Gekommen war aber auch wieder eine Riege namhafter Fastnachts-Stars, die aus der Vorlesung mehr eine Sitzung machten. Da sorgte Sängerin Nadine Meurer mit groovigen Rhythmen und einer Fastnachts-Samba gleich mal für die erste Polonaise durch den Saal, und mit Mainz-Gefühl und Riesling-Ode für beschwingte Stimmung. „Ich bin verliebt in diese Stadt“, bekannte auch Pit Rösch mit wahrhaft be-swingten Melodien, und sorgte mit seinem neuesten Song für die musikalische Erklärung des diesjährigen Mainzer Fastnachtsmottos: „In Mainz steht Fastnacht voll und ganz/ für Frieden, Freiheit, Toleranz.“

Beleuchtete Intoleranzen der Gesellschaft:; Bajazz René Pschierer. - Foto: gik
Beleuchtete Intoleranzen der Gesellschaft:; Bajazz René Pschierer. – Foto: gik

„Frieden, Freiheit, Toleranz – stimmt das auch?“ fragte indes „Bajazz“ René Pschierer vom Pult des Dozierenden aus – und sezierte Intoleranzen der heutigen Gesellschaft mit spitzer Feder: „Welche Störung muss jemand haben, der einen Rettungswagen attackiert“, fragte Pschierer da etwa, und holte zum Rundumschlag gegen Kirche, Volk und Waschlappen-Probleme in der Fußballwelt aus. „Nach allen Seiten offen, heißt am Ende: nicht ganz dicht“, konstatierte der Bajazz und mischte „Reichsbürger und Klimakleber ins gleiche Bild: glaubt doch von denen ein jeder, dass für sie das Gesetz nicht gilt.“

„Leben und auch Kleben lassen – irgendwann geht das schon ab“, lästerte der Narr. Wer für scheinbar höhere Ziele Recht und Gesetz beugen will, der hatte beim „Bajazz“ nichts zu Lachen – der Grundkurs in Staatsbürgerkunde fiel gnadenlos aus. Das traf auch den Staat selbst, wenn er nämlich – wie in Rheinland-Pfalz – mit überbordenden Sicherheitsauflagen Fastnachtswagen, Umzüge und gleich das ganze Brauchtum zu ersticken drohe. „Retten wir unsere Kultur“, forderte der Narr aus der Bütt: „Vierfarbbunt die Welt gestalten – das ist das Gebot der Zeit.“

Zeitenwende unter der Lupe mit Blende 11

Und das taten die Narren an diesem Donnerstagabend. Die Fastnachts-Kampagne rollt, die Veranstaltungen geben sich in den wenigen Wochen, die der Narretei bleiben, die Klinke in die Hand. „Wieder Fastnacht, wir schunkeln die Fastnacht ins Lot“, sang beglückt das Trio Aeterna mit seiner Stimm- und reim-gewandten Frontfrau Kathrin Dohle, auch Sitzungspräsidentin der Unsichtbaren Römergarde. Doch ganz ohne Spuren sind Corona-Pandemie und ein Jahr Krieg in Euro nicht geblieben. „Vorbei jetzt Lebensmut und Spaß?“, fragte da Peter Krawietz, „wir haben jetzt die Zeitenwende – zumindest sagt der Kanzler das.“

Zeitgeist-Forscher Peter Krawietz. - Foto: gik
Zeitgeist-Forscher Peter Krawietz. – Foto: gik

Mit „Blende 11“ nahm der Zeitgeist-Forscher das Geschehen des vergangenen Jahres unter die Lupe, und fand so manche Merkwürdigkeit in der nicht närrischen Welt. „Gestern arm wie eine Kirchenmaus, jetzt hält es den Reichtum kaum noch aus“, konstatierte der Protokoller da über das verwandelte Mainz, dessen „Häuptling der Finanzen der erste Meenzer Drecksack ist“ – was natürlich auf Finanzdezernent und Drecksäcke-Chef Günter Beck (Grüne) gemünzt war.

Auch der vor den Mainzern „geflüchtete“ Ex-OB Michael Ebling (SPD) bekam sein Fett weg: „Wenn Bürger Dich direkt erwählen, hab‘ ich still bei mir gedacht, dann sich einfach fortzustehlen – was echte Liebe niemals macht“, reimte Krawietz, und gab auch gleich einen Ausblick in Sachen OB-Wahl: „Neue Besen sollen gut kehren“, merkte der Narren-Beobachter an, und brach eine Lanze für denkende Hasen… Derweil er der amtierenden Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) eine „ehrliche Bilanz“ in Sachen Ahrtal empfahl: „Nichts als ewig Lächeln – das hat mit Staatskunst nichts zu tun!“

Fastnachtsquizz zu Rosenmontagszug und Zugplakettcher

„Die Fastnacht, sie will nur friedlich, menschlich sein, sie will von Trübsal uns befrei’n“, reimte Krawietz: „Wenn man vom Alltag Pause macht, will sie die Freude mehren – wer mag denn das verwehren?“ Der Saal mit Sicherheit nicht – er dankte dem tiefsinnigen Protokoller mit stehenden Ovationen. „Die Fastnacht bringt uns Erkenntnis – ita est“, dozierte auch Professor „WeissVonNix aus Funnix“, alias Christian Vahl, und präsentierte seine gesammelten Erkenntnisse der Sprechblasenforschung – ein wahrhaft närrisches Konglomerat sprachlicher Irrungen auf Schildern oder anderen menschlichen Erzeugnissen.

Fastnachtswissen abgefragt: Ulrich H. Drechsler und das Quizz zum Rosenmontag. - Foto: gik
Fastnachtswissen abgefragt: Ulrich H. Drechsler und das Quizz zum Rosenmontag. – Foto: gik

Abgefragt wurde aber auch in der Närrischen Nachtvorlesung: beim Fastnachtsquizz von Ulrich Drechsler mussten die Zuschauer Farbe bekennen, was das Wissen um närrische Zahlen angeht. 119 Rosenmontagszüge wird es in diesem Jahr gegeben haben, die Zuglänge ist dabei mittlerweile auf neun Kilometer angewachsen – und stolze 35 Mal wurde der Weg des Mainzer Rosenmontagszuges in seiner Geschichte bereits geändert.

Und wer hätte gewusst, wie viele Zugplakettcher seit ihrer Erfindung im Jahr 1950 schon insgesamt verkauft wurden? Der Narren-Quizzmaster kann nur schätzen, doch mehr als 3,333 Millionen werden es schon gewesen sein. Da kommen die Altrheinstromer gerade Recht, die in diesem Jahr den ersten Meenzer Fastnachts Eskort-Service bieten, aber leider nur zu zweit aufschlagen – Nummer drei ist derzeit erkrankt.

„Advokat des Volkes“ rechnet mit der Politik ab

Daumen hoch gab’s für die Musikanten, Daumen runter aber für die Politik: Der „Advokat des Volkes“ rechnet ab mit Brexit-Narren in England und Politshow-Darstellern in Berlin, und geißelt den Merzschen Stimmenfang am rechten Rand. Rüdiger Schlesinger hat seine Paraderolle wiederbelebt, wann auch, wenn nicht in diesen Krisenzeiten? Und es ist eben auch des Narren Rolle, des Volkes Stimme Gehör zu verschaffen, und manchmal auch seinem Flehen: „Steht auf, ihr Russen, Seit an Seit“, ruft Schlesinger ins Reich des Despoten Putin, dem zu Trotzen nun oberste Pflicht wäre: „Kämpft – das wär mein Plädoyer!“

Im Namen des Narren-Volkes: Advokat Rüdiger Schlesinger. - Foto: gik
Im Namen des Narren-Volkes: Advokat Rüdiger Schlesinger. – Foto: gik

Der Narren Redefreiheit ist die eine Seite der Fastnacht, die Liebe zur eigenen Stadt die andere. Hatte Nadine Meurer schon zu Beginn das „Mainz-Gefühl“ mit viel Schwung und Herz besungen, setzte eine andere das Ausrufezeichen dahinter: Wohl niemand bringt Meenzer Mundart und Meenzer Eigenart so auf den Punkt, wie Dichterin Hildegard Bachmann, und die hatte zur Nacht-Vorlesung Geschichten aus ihren Büchern und Erzählungen mitgebracht.

Und da wurde es dann mucksmäuschenstill, als Bachmann bekannte: „Meenz, Du bist mein Herzensstadt, die mir so viel zu bieten hat.“ Es wurde ein zauberhaftes Highlight der Nachtvorlesung, wenn die Zuschauer mit der Dichterin durch die Mainzer Altstadt flanierten: „In dunklen Ecken kichert’s leise, auf so ne ganz besondere Weise – und wenn’s Konfetti vom Himmel schneit, dann machen sich alle Narren breit. Und schunkeln die Sterne in dunkler Nacht – dann ist endlich Fassenacht.“

Info& auf Mainz&: Wer die Geschichte von Goya und dem Gemälde von der Beerdigung der Sardine noch einmal nachlesen will, kann das hier auf Wikipedia tun.