Nicht nur die Oberbürgermeisterwahl in Mainz findet in diesem Jahr unter besonderen Vorzeichen statt, nun gerät auch die OB-Wahl in Wiesbaden in heftige Turbulenzen: Am Donnerstag verkündete der Wiesbadener Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) überraschend, er werde nicht zur Wahl antreten. Am Donnerstagabend wollte die Wiesbadener OB Gerich eigentlich offiziell als ihren Kandidaten für die Wahl am 26. Mai nominieren, am Morgen zog Gerich aber seine Kandidatur zurück. Der einstige SPD-Hoffnungsträger zieht wegen massiver Vorwürfe von Vorteilsnahmen im Amt, Vetternwirtschaft und die Bevorzugung von Freunden zurück – erneut stürzt ein OB über Einladungen zu Reisen. Gerich selbst sprach von einer „Schlammschlacht“ und einer „Schutzkampagne“, inzwischen erhielten aber auch sein Ehemann und sein Vater anonyme Drohungen – das gehe zu weit.
Seit Wochen erlebt die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden eine wahre Schlammschlacht. Im Mittelpunkt der Vorwürfe: Eine Reise, die Gerich 2014, kurz nach seinem Amtsantritt als Wiesbadener OB nach Andalusien unternahm. Gerich unternahm die Reise gemeinsam mit seinem Ehemann und einem langjährigen Freund, Ralph Schüler, und dessen Ehefrau. Das Pikante dabei: Kurz nach der Reise wurde Schüler, ein CDU-Mann, Geschäftsführer dreier Wiesbadener Tochtergesellschaften, darunter einer wichtigen Immobilienholding.
Ende 2018 wurde Schüler wegen massiver Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten und Geldflüsse an Parteifreunde von seinen Ämtern freigestellt, seither reitet der Ex-CDU-Schatzmeister einen Rachefeldzug. Schüler zeigte sich Ende Dezember 2018 selbst bei der Staatsanwaltschaft an, in einem offenen Brief vor zwei Wochen bezichtigte er Gerich der Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme: Gerich habe sich von ihm in Andalusien umfangreich einladen lassen, man habe ja auch „was zu feiern gehabt“, lässt er sich in Medienberichten zitieren. Zudem habe sich Gerich später auch von dem Münchner Gastronom Roland Kuffler zu Reisen und Essen einladen lassen – kurz danach sei Kufflers Gastronomie-Konzession in der Wiesbadener Spielbank verlängert worden. Kuffler leitet inzwischen auch die Gastronomie im neuen Wiesbadener Rhein Main Congress Centrum.
Gerich weist bis heute alle Vorwürfe zurück. Die Reisekosten für die Andalusienreise habe er Schüler im Anschluss an die Reise erstattet. Die Reisen mit Schüler und Kuffler nennt Gerich heute „einen Fehler“, das würde er „heute nicht mehr so machen“, betonte er im Revisionsausschuss der Stadt Wiesbaden. Der Urlaub mit Schüler sei schon länger geplant gewesen, das Zusammenfallen mit Schülers Berufung ein Zufall – zudem habe er Schüler ja nicht im Alleingang berufen. Er sei zu Beginn seiner Amtszeit zu „blauäugig“ gewesen, sagte Gerich noch. Gegen Gerich ermittelt inzwischen aber auch die Staatsanwaltschaft, sie sieht einen Anfangsverdacht wegen Vorteilsnahme im Amt.
Und Schüler legte nach: In einem Offenen Brief spottete er, Gerich sei zwar „oft blau, aber nie blauäugig“ gewesen. In dem Brief bezichtigte Schüler seinen ehemaligen Freund, die Landeshauptstadt „für private Zwecke missbraucht“ zu haben, und er drohte mit weiteren pikanten Enthüllungen, wenn Gerich wieder als OB antrete. Übrigens teilte Schüler auch gegen seine eigenen Parteifreunde aus: Bei seiner Selbstanzeige zeigte er auch gleich den Wiesbadener CDU-Vorsitzenden Oliver Franz und den langjährigen Landtagsabgeordneten Horst Klee wegen illegaler Parteienfinanzierung und Untreue an. Schüler behauptet, Klee habe über Jahre hinweg eine Bürokraft seines Büros als Landtagsabgeordneter für Parteiarbeit zur Verfügung gestellt, das wäre nach dem deutschen Parteiengesetz eine illegale Parteienfinanzierung. Franz wiederum solle auf Parteikosten „Lokalrunden ausgegeben haben“, zitiert die Frankfurter Rundschau Schülers Vorwürfe.
Gerich sprach am Donnerstag von einer „Schmutzkampagne“ und „Schlammschlacht“ gegen seine Person. Er habe „Fehler gemacht“, die er bereue, aber egal, was „behauptet, geschrieben und fabuliert“ werde: „Ich war zu keinem Zeitpunkt, weder vor noch während meiner Amtszeit korrumpierbar oder bestechlich“, betonte Gerich. Inzwischen aber bekämen auch sein Ehemann sowie sein Vater anonyme Drohbriefe, damit sei „die Grenze des Zumutbaren“ überschritten. „Das möchte ich niemandem mehr zumuten“, sagte Gerich, deshalb habe er sich entschlossen, nicht erneut als OB zu kandidieren.
Die vergangenen fünfeinhalb Jahre seiner Amtszeit seien für Wiesbaden „eine erfolgreiche Zeit“ gewesen, betonte Gerich zugleich. Als Erfolge nannte er unter anderem das Ende für Bauruinen und Brachen“ in der Wiesbadener Innenstadt, die Rückkehr der Hochschule Fresenius nach Wiesbaden, das Projekt emissionsfreier Nahverkehr, ein Ersatzneubau für das Schwimmbad an der Mainzer Straße sowie „eine gelebte Kultur der Bürgerbeteiligung.“ In Gemeinschaftsarbeit sei es gelungen, viele wichtige Entscheidungen zu treffen, Projekte auf den Weg zu bringen und wichtige Weichen für die Zukunft zu stellen.
Jetzt aber gebe es „eine bewusst von nur wenigen Personen betriebene Schlammschlacht“ gegen seine Person, aber auch gegen Institutionen und andere Personen in der Stadt, und es sei nicht absehbar, dass diese bald enden werde, sagte Gerich am Donnerstag: „Im Gegenteil, wahrscheinlich würde sie noch intensiver.“ Mit den anonymen Drohbriefen gegen seinen Ehemann und seinen Vater sei nun aber „ein Ausmaß erreicht, welches ich niemandem mehr zumuten möchte“, betonte Gerich: „Die Grenze des Zumutbaren wurde überschritten.“ Er habe deswegen zum Schutz seiner Familie, seiner Mitarbeiter, aber auch seiner selbst entschieden, nicht erneut für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren. Der Schritt falle ihm schwer, aber er wolle damit auch Schaden von der Stadt Wiesbaden abwenden, fügte Gerich in seiner persönlichen Erklärung, die Mainz& vorliegt, hinzu.
Seiner Partei hinterlässt Gerich einen Scherbenhaufen: Vier Monate vor der OB-Wahl steht die SPD ohne Kandidat da, ein aussichtsreicher Ersatz ist nicht in Sicht. Gerich hatte 2013 Wiesbaden quasi im Handstreich erobert: Mit einem schwungvollen Wahlkampf und mit dem damals neuen Instrument von 10.000 Hausbesuchen fegte der Unternehmer völlig überraschend den anerkannten CDU-OB Helmut Müller aus dem Amt.
Der heute 44 Jahre alte Gerich wuchs bis zu seinem 17. Lebensjahr in einem Kinderheim in Wiesbaden-Biebrich auf, einer Lehre als Bau- und Möbeltischler folgte eine Stelle als hauptamtlicher Übungsleiter für den Fachbereich Turnen beim Turnverein Biebrich. Im Kinderheim lernte der junge Sven seinen Adoptivvater Gustav Gerich kennen, Besitzer einer alteingesessenen Druckerei in Wiesbaden-Biebrich. Sven lernte das Handwerk eines Offset-Druckers, seit dem Jahr 2000 führte er gemeinsam mit seinem Adoptivvater das Unternehmen als gleichberechtigter Gesellschafter.
In die Politik holte ihn Wiesbadens Alt-OB Achim Exner. 2003 trat Gerich in die SPD ein, wo er eine Blitzkarriere hinlegte. 2006 wurde er Stadtverordneter, 2009 Parlamentarischer Geschäftsführer der Fraktion und im September 2011 deren Vorsitzender. Im OB-Wahlkampf 2013 setzte er mit einem intensiven Haustürwahlkampf völlig neue Akzente, seine Kampagne wurde später zum Vorbild für den Wahlkampf des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann (SPD). Gerich präsentierte sich als nah bei den Menschen, stellte sich gegen „Konzern Wiesbaden“-Denken, Parteiengeklüngel und Kurstadt-Piefigkeit – und hatte Erfolg: Sein Sieg in der Stichwahl gegen Müller im März 2013 war eine Sensation, nun fällt der 44-Jährige, der in der SPD als Vorbild eines bürgernahen, dynamischen OB galt, tief.
Der hessische SPD-Chef Thorsten Schäfer-Gümbel sagte, die SPD bedauere es, „dass damit ein erfolgreicher und innovativer Oberbürgermeister nicht erneut kandidiert, der als treibende Kraft die Geschicke der Stadt zur Wohle ihrer Bürgerinnen und Bürger gestaltet hat.“ Gerich habe frischen Wind in die Stadt gebracht und stehe für gelebte Bürgernähe, „dass er dieses persönliche Opfer bringt, um ein unwürdiges Spektakel zu beenden, das politische Gegner inszeniert haben, ist ein Dienst an der Stadt“, betonte Schäfer-Gümbel. Gerichs Rückzug schmerze, er könne aber gleichwohl auf den Rückhalt der hessischen SPD zählen.
Wie es bei der Wiesbadener SPD nun weiter geht, wollte die Partei am Donnerstagabend beraten – der Parteitag wurde abgesagt. Bislang gehen bei der Wiesbadener OB-Wahl nun für die CDU der Dachdeckermeister Eberhard Seidensticker ins Rennen, die Grünen nominierten am Dienstagabend ihre frühere Umweltdezernentin Christiane Hinninger.
Info& auf Mainz&: Mehr zu den Vorwürfen gegen Oberbürgermeister Sven Gerich sowie seinem Auftritt vor dem Revisionsausschuss findet Ihr hier bei den Kollegen vom hr und hier bei den Kollegen der Frankfurter Rundschau. Die Vorwürfe Schülers gegen die CDU-Kollegen beschreibt die FR hier genauer.