Der Polizeieinsatz in Ingelheim am 15. August schlägt noch immer hohe Wellen: Bei vielen Demonstranten sitzt der Schock bis heute tief, sie berichten von Verletzungen und sogar von Alpträumen. „Das Vertrauen ist einfach weg, wir haben zurzeit Angst vor diesen Menschen“, berichtet eine Mainzer Studentin gegenüber Mainz&. Derweil bestreitet die Bundespolizei die Vorwürfe, sie habe rund 150 Demonstranten in einem engen Tunnel am Ingelheimer Bahnhof eingekesselt – und behauptet: Versammlungsteilnehmer könnten „für Filmaufnahmen bewusst eine panische Situation durch gestellte Hilferufe vorgetäuscht haben, um die Polizeikräfte nach der Demonstrationslage zu diskreditieren.“
Am 15. August war ein Polizeieinsatz gegen linke Demonstranten in Ingelheim eskaliert: Gegen einen Aufmarsch von 24 Rechtsextremisten wollten rund 400 Menschen aus dem bürgerlich-linken Spektrum protestieren, doch statt demonstrieren zu dürfen, wurden sie stundenlang in einem Polizeikessel an einem Verkehrskreisel eingesperrt. Wie die Mainzer Polizei inzwischen selbst einräumt, wurde mehrfach Pfefferspray und Schlagstöcke gegen Demonstranten eingesetzt, weil diese versucht haben sollen, Absperrungen zu durchbrechen.
Viele Demonstranten berichteten danach von völlig unverhältnismäßiger Gewalt gegen friedliche Teilnehmer: Mehrfach sei ohne Vorwarnung und ohne Anlass mit Pfefferspray gegen die Menge vorgegangen worden, eine Sanitätsgruppe spricht von 116 Verletzten, davon allein 90 durch Pfeffersprayeinsätze. Eine Woche danach fand vergangenen Samstag in Ingelheim erneut eine rechte Demonstration statt, den sechs rechten Teilnehmern standen rund 275 Gegendemonstranten des linken Spektrums gegenüber, darunter auf Mitglieder des Ingelheimer Stadtrats sowie der Ingelheimer Bürgermeister Ralf Claus (SPD) persönlich.
Dieses Mal blieb alles friedlich, doch vielen Demonstranten steckte das Erlebnis vom vergangenen Samstag noch sichtlich in den Knochen. „Seit Samstag bin ich wütend“, sagt eine Frau mittleren Alters, unbeirrt hält sie ein Schild hoch, „gegen Polizeigewalt“ steht darauf. Die Lehrerin kommt aus Landau, ihr Sohn war am 15. August in Ingelheim, um gegen den rechten Aufmarsch zu demonstrieren. Zwei Mal habe er Pfefferspray abbekommen, berichtet die Lehrerin, das eine Mal sei so schlimm gewesen, dass sie ihn nach seiner Rückkehr ins Krankenhaus nach Karlsruhe habe fahren müssen: „Es hörte einfach nicht auf zu brennen“, berichtet sie.
Nein, ihr Sohn sei kein linker Randalierer, betont sie, der wahllose Angriff gegen alle Demonstranten hat sie sichtlich geschockt: „Wenn da welche dabei sind, die Flaschen werfen, soll man die ‚rausziehen, aber man kann doch nicht 250 Leute pauschal bestrafen“, kritisiert sie: „Wenn einer im Supermarkt klaut, bestraft man doch auch nicht alle Kunden – was da passiert ist, das geht gar nicht.“ Verletzt wurde auch ein Mitarbeiter der Daimler AG, den Mann aus der Produktion traf ein Schlagstock so fest an der Hand, dass er zwei Tage krank geschrieben werden musste, berichtet er gegenüber Mainz&. Seinem Kumpel sei von der Polizei die Brille zerstört worden, einem am Boden Liegenden habe ein Polizist fünfmal in die Nieren getreten, behauptet er.
Der Daimler-Mitarbeiter war auch mit dem Zug nach Ingelheim gekommen, von der Treppe aus sah er, wie die Polizei „die Leute richtig in den Tunnel gedrängt hat.“ Die Bundespolizei weist die Vorwürfe über eine Einkesselung in der tunnelartigen Unterführung indes zurück: Eine Einschließung in dem Tunnel sei „zu keiner Zeit beabsichtigt“ gewesen, der Ausgang in Richtung Versammlungsort „jederzeit offen und passierbar“ gewesen, teilte die Bundespolizei auf Mainz&-Anfrage mit. Die gemeinsamen Einsatzabsprachen von Landespolizei und Bundespolizei für den Tag hätten vorgesehen, rechte und linke Demonstranten schon bei der Anreise zu trennen, die Bundespolizei sei für die Trennung im Bahnhof zuständig gewesen.
„Den linksorientieren Versammlungsteilnehmern wurde die Möglichkeit gegeben, über die Unterführung in Richtung Boehringer in den Versammlungsraum zu gelangen“, teilte die Bundespolizei weiter mit, der Ausgang sei „zu keinem Zeitpunkt abgesperrt“, sondern frei passierbar gewesen. Es hätten aber mehrere der linken Demonstranten versucht, die Absperrung der Bundespolizei zu durchbrechen, um einer Person der rechten Kundgebung zu folgen, dabei sei eine erste Absperrlinie der Bundespolizei überlaufen worden. „Die zweite Absperrlinie konnte das weitere Vordrängen verhindern, indem einfache körperliche Gewalt angewendet, teilweise der Schlagstock sowie Pfefferspray gezielt eingesetzt wurde“, heißt es weiter. Auch sei gegenüber den Versammlungsteilnehmern „links“ jederzeit „offen und durchgängig kommuniziert“ worden, wo sie langsollten.
Dem widersprechen inzwischen vielfach Zeugen, sie berichteten gegenüber Mainz& und anderen Medien, von einer Kommunikation sei nichts zu hören gewesen, die Verwirrung, wo es zur Kundgebung gehen sollte, groß gewesen. In dem Tunnel habe drangvolle Enge geherrscht, „als der Tunnel voll war, haben die von beiden Seiten zugemacht, Helme aufgezogen und sind mit Schlagstöcken da rein“, hatte unter anderem ein Mitglied der hessischen Linken gegenüber Mainz& berichtet – die Eskalation und die Gewalt seien an dem Tag eindeutig von der Polizei ausgegangen. Eine Videoaufnahme zeigt, wie sich in der dichten Enge Panik breit macht, Schreie und Rufe „Lasst uns raus“ sind zu hören.
„Eine Panik wurde in der Unterführung zu keinem Zeitpunkt festgestellt“, heißt es hingegen von Seiten der Bundespolizei, man vermute vielmehr: Versammlungsteilnehmer könnten „für Filmaufnahmen bewusst eine panische Situation durch gestellte Hilferufe vorgetäuscht haben, um die Polizeikräfte nach der Demonstrationslage zu diskreditieren.“
Der Autor des Videos weist das zurück: „Wie soll ich denn eine Situation stellen, in der alle panisch schreien“, sagte er gegenüber Mainz& zu dem Vorwurf. Die Videos gäben exakt die Situation wieder und seien ungeschnitten, lediglich die Gesichter der Demonstranten habe er unkenntlich gemacht – das ganze Video könnt Ihr hier auf Twitter ansehen. Die Lage sei „lebensgefährlich“ gewesen, Menschen neben ihm hätten keine Luft bekommen. Der junge Mann, der sich auf Twitter Artemisclyde nennt, will seinen echten Namen nicht nennen: „Wenn ich meinen Klarnamen angebe, kann ich nicht garantieren, dass ich hinterher sicher bin“, sagt er.
Er müsse befürchten, dass die Polizei mit Hilfe der Daten gegen ihn und andere Demonstranten vorgehe „das ist auch schon passiert“, betont Artemisclyde. Dass die Polizei „sofort in die Abwehrhaltung geht zeigt doch: es wird keine Aufklärung geben“, kritisiert er, „man steht zusammen gegen die Bevölkerung.“ Auch der Daimler-Mitarbeiter, Vertrauensmann der IG Metall, berichtet von versuchten Einschüchterungen ihm gegenüber: Als er wegen seiner verletzten Finger einen Krankenwagen gerufen habe, „wurde mir gedroht, wenn ich da mitfahre, bekomme ich eine Anzeige gegen mich“, sagte er gegenüber Mainz&.
Das berichten auch weitere Teilnehmer vom 15. August: Wer eine Anzeige gegen Polizisten stelle, dem werde mit einer Gegenanzeige gedroht, berichten mehrere hier. „Der Polizei wird tendenziell mehr Glauben geschenkt“, sagt Marie, eine 27 Jahre alte Studentin der Sozialen Arbeit aus Mainz. Wenn sie Anzeige gegen die Polizei wegen des Pfeffersprayeinsatzes stelle, müsse sie eine Gegenanzeige befürchten: „Gewalt gegen Polizisten wird aber sehr viel härter behandelt als Einsatz von Pfefferspray“, sagt sie, deshalb scheuten viele vor einer Anzeige gegen Polizisten zurück. „Wir sollen jetzt eine Anzeige aufgeben, bei denen, die uns verletzt haben – und die kontrollieren sich dann selbst, das ist absurd“, sagt sie.
Marie war an dem Samstag ebenfalls in Ingelheim, mit rund 250 anderen wurde sie in dem Kessel am Ingelheimer Kreisel festgehalten. Die Polizei habe wiederholt und ohne Vorwarnung angegriffen, auch friedliche Menschen am Kreisel, berichtet auch sie: „Die Leute wurden in den Kessel gedrückt, es waren aber viel zu viele Menschen für den kleinen Bereich“, berichtet Marie: „Die Leuten wollten den Platz verlassen, was ihr gutes Recht war, da kamen erneut Schlagstock und Pfefferspray zum Einsatz.“ Nein, von den Eingekesselten sei „keinerlei Aggression ausgegangen“, allein schon weil die Hälfte verletzt gewesen sei.
Sie selbst sei irgendwann vor der Polizeikette geflohen, „vor dieser Kette, die einfach losknüppelt“, sagt sie, sie habe eine Panikattacke bekommen, sei weinend und schreiend zusammengebrochen. „Ich habe deswegen bis heute Alpträume“, erzählt sie, „die sind doch da, um uns zu schützen.“ Stattdessen hätten da noch sechs bis acht Polizisten gestanden, „die haben mich ausgelacht“, berichtet sie, so hat sie es empfunden. „Ich hatte noch nie so eine Angst, das habe ich noch nie erlebt“, berichtet Marie, und fordert mit Blick auf den Einsatzleiter Alban Ragg: „Eine Entschuldigung von Herrn Ragg ist überfällig.“ Das Vertrauen in die Polizei, sagt sie noch, sei „gerade einfach weg“, sie könne sich einfach nicht sicher sein, „ob die mich schützen oder gerade angreifen.“ An diesem Samstag, fügte sie noch hinzu, „war die Gefahr die Polizei, die haben total freigedreht.“
Info& auf Mainz&: Mainz& hat mit allen im Text genannten Personen lange und ausführlich persönlich in Ingelheim gesprochen, alle Personen wirkten ausgesprochen authentisch, ihre Geschichten glaubhaft – und sie haben uns ihre Geschichten unabhängig voneinander erzählt. Mehr zu den Augenzeugenberichten sowie zu den Videos vom 15. August in Ingelheim lest Ihr hier bei Mainz&, einen ersten Bericht dazu haben wir hier veröffentlicht.
Die Mainzer Polizei hat inzwischen eine Aufklärungsgruppe eingesetzt, gegen sechs Polizeibeamte wird wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Die Mainzer Polizei hat alle Betroffenen aufgefordert, Anzeigen zu erstatten und Videos und Fotos auf dem Hinweisportal https://rlp.hinweisportal.de/ hochzuladen. Die grüne Innenpolitikerin Pia Schellhammer verweist dagegen auf die neutralere Bürger- und Polizeibeauftragte des Landes Rheinland-Pfalz, hier können Bürger Beschwerden über staatliche Stellen einreichen – Barbara Schleicher-Rothmund findet Ihr hier im Netz mit allen Kontaktdaten.