Eklat im Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Flutkatastrophe im Ahrtal: Wurde der Ausschuss am Freitag systematisch belogen? Geladen waren am Freitag praktisch ausschließlich Zeugen, die in der Flutnacht des 14. Juli in der Einsatzleitung der Kreisverwaltung Ahrweiler tätig waren. Dieser „Technischen Einsatzleitung“ (TEL) kommt eine Schlüsselfunktion zu, denn von hier aus hätte der Katastrophenalarm ausgelöst werden müssen. Doch die Mitglieder der TEL konnten sich am Freitag überraschend und sehr gleichlautend nicht daran erinnern, ob eine zentral wichtige Position in der Nacht überhaupt besetzt war.
Am späten Nachmittag unterbrach der Ausschuss überraschend seine Sitzung – mitten in der Befragung des TEL-Funkers Jürgen Schmitt. Da waren die Ausschussmitglieder bereits seit geraumer Zeit immer unruhiger geworden. Der Grund trug den Namen „S2“, das Kürzel steht für eine der Leitungspositionen in der Einsatzleitung – und nicht für irgendeine: Wer in einem Einsatzstab auf der Position „S2“ arbeitet, ist für „die Lage“ zuständig. Die Person ist also dafür zuständig, den Überblick über die eingehenden Meldungen zu behalten und daraus einen Lage-Überblick zu bilden, die Lage zu analysieren, und dies dem Team zu spiegeln.
Und nach dem Hören mehrerer Zeugen, stellte sich immer drängender die Frage: War diese zentral wichtige Position am Abend des 14. Juli ab dem späten Nachmittag womöglich gar nicht mehr besetzt? Das Verdächtige dabei: Keiner der Zeugen mochte eine klare Aussage dazu treffen, ob die Position S2 in der Flutnacht überhaupt besetzt war. „Da kann ich nicht wirklich was zu sagen“, lautete eine der Aussagen, „ich weiß es nicht“, eine andere, „kann ich Ihnen nicht genau sagen“ eine dritte Variante.
Die Aussagen warfen Fragen auf, denn nicht erinnern konnten sich auch Mitarbeiter der TEL, die über viele Stunden zentrale Positionen inne hatten – und mithin die Leitung des Krisenstabes darstellten. In diesem Krisenstab wurde den Aussagen zufolge eng zusammengearbeitet, das war auch räumlich zu verstehen: Die Einsatzleitung hatte ihren Arbeitsort in einem gerade einmal etwa 16 Quadratmeter kleinen Kellerraum neben der Tiefgarage der Kreisverwaltung Ahrweiler. Hier saß, weitgehend abgeschirmt die Einsatzleitung.
Um kurz vor 18.00 Uhr dann trat Jürgen Schmitt in den Zeugenstand, und der Nachrichtentechnik-Ingenieur, der in der Flutnacht als Funker und Telefonist in der TEL tätig war, schaffte eine beachtliche Aussage: Schmitt benannte wie aus der Pistole geschossen, und ausgesprochen präzise die Positionen S1 bis S6 – nur die „S2“ ließ er einfach weg. Auf Nachfrage des Ausschuss-Vorsitzenden Martin Haller (SPD), „Die S2 haben Sie jetzt ausgelassen?“ antwortete Schmitt nur lapidar: „Ja.“ Erneut Nachfrage Hallers: „Was können Sie denn dazu sagen?“ lautete die Antwort: „Gar nichts.“
Das brachte das Fass zum Überlaufen. Der Ausschuss zog sich daraufhin zur nicht-öffentlichen Beratung zurück, danach verkündete Haller: „Der Ausschuss ist einmütig zu dem Eindruck gekommen, dass heute über bestimmte Aspekte nicht wahrheitsgemäß ausgesagt wurde.“ Damit stand der Verdacht im Raum: Bei den Vernehmungen im Ausschuss wurde nicht die volle Wahrheit gesagt – womöglich sogar gelogen.
Der Ausschuss habe – und zwar einhellig über alle Fraktionen hinweg – den Eindruck gewonnen, „dass es womöglich Absprachen“ zwischen den Zeugen gab, sagte Haller weiter. Das mache man fest „an teils wortgleichen Formulierungen, und vor allem an Aussagen zur Position S2“, betonte er. Den Zeugen Schmitt belehrte Haller danach eindringlich, dass eine unwahre Aussage gravierende strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können – und beschwor ihn, doch noch einmal genau zu überlegen, ob er seine Aussagen aufrecht erhalten wolle oder vielleicht doch nicht.
„Wir hören jetzt den ganzen Tag: Niemand kann sich erinnern, keiner kann uns sagen, wer die S2 besetzt hat“, sagte Haller, „und zum Teil ist es einfach ganz klar unglaubwürdig.“ Schmitt reagierte empört: „Ich antworte hier wahrheitsgemäß“, betonte er, „ich will auch keinen decken, und ich wüsste auch nicht wofür.“ Er wisse schlicht nicht, wer die S2 besetzt habe, da könne man ihn auch vereidigen. „Besteht die Möglichkeit, dass die Position S2 gar nicht besetzt war?“, fragte Haller. „Das ist auch eine Option“, antwortete Schmitt.
Er komme sich „vor, wie das Ende einer Kette“, beschwerte sich der Zeuge dann noch, und fügte hinzu: „Wenn ich jetzt einen Namen nenne, passiert sehr wohl etwas – dann bringe ich womöglich einen Feuerwehr-Kameraden in eine Bredouille, wo der vielleicht gar nicht hingehört.“ SPD, CDU und Freie Wähler mutmaßten daraufhin, die Mitglieder der TEL wollten sich nicht erinnern – womöglich, um nicht einen ihrer Kameraden zu belasten.
Tatsächlich ermittelt bis heute die Staatsanwaltschaft Koblenz gegen den Leiter der TEL in der Flutnacht, Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Zimmermann. An ihn hatte Landrat Jürgen Pföhler (CDU) schon weit vor der Katastrophe die Einsatzleitung des Kreises delegiert, rechtlich war das möglich. „Ich kenne andere Landräte, die bei einem Einsatz hinter ihrem Einsatzleiter stehen“, hatte bereits am Morgen der ehemalige Kreisfeuerwehrinspekteur Udo Schumacher vor dem Ausschuss ausgesagt.
Pföhler aber hatte mit dem Katastrophenschutz nicht viel am Hut: Ein eigens für Notfälle angeschafftes Satellitentelefon gab der Landrat ungenutzt zurück, weil er mit der Technik nicht klargekommen sei, sagten mehrere Zeugen am Freitag übereinstimmend aus. In der Flutnacht tauchte Pföhler im Krisenstab so gut wie gar nicht auf, zwei Mal sei der Landrat im Raum gewesen, berichteten mehrere Teilnehmer, jedes Mal nur kurz – und das eine Mal in Begleitung von Innenminister Roger Lewentz (SPD). Der Landrat sei zeitweise nicht einmal für Zimmermann erreichbar gewesen, berichtete etwa Thomas Vollmer, Zimmermann habe das so kommentiert: „Scheiße!“
Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Pföhler und Zimmermann wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassung, Zimmermann war ebenfalls am Morgen als Zeuge vor den Ausschuss geladen. Doch Zimmermann machte von seine Aussageverweigerungsrecht Gebrauch – das ist Zeugen für den Fall erlaubt, dass sie sich mit ihrer Aussage selbst belasten könnten.
Die nachfolgenden Zeugen aber zeichneten ein Bild völliger Überforderung und von zunehmendem Chaos, je weiter die Nacht voranschritt. Dabei waren die meiste der Akteure langjährig-erfahrene Wehrführer, Feuerwehrleute oder eben Brandmeister, viele mit 30 Jahren oder mehr an Erfahrung. Doch die hereinbrechende Katastrophe traf die TEL völlig unvorbereitet: Man sei „von einem Hochwasser ausgegangen“, betonten so gut wie alle Zeugen. Die aktuellen Pegelstände seien zwar permanent an die Wand projiziert worden – was eine Pegelprognose von fünf Metern aber für das Ahrtal bedeutete, das war wohl kaum jemandem klar.
„Die TEL besteht aus ehrenamtlichen Mitarbeitern von Hilfsorganisationen“, erklärte Schumacher dem Ausschuss, der auch erfuhr: Das potenzielle Team der TEL bestehe zwar aus 120 Personen – doch in der Regel tauchten davon nur einige wenige auf. Gegen 15.10 Uhr löste der Kreis Ahrweiler die Einsatz-Alarmierung für die TEL aus, Schumacher war einer der ersten vor Ort. „Wir haben gewartet, bis Personal kam“, berichtete er weiter, „wir mussten ja das Personal einsetzen, das kam.“
Wer auf so eine Einsatz-Alarmierung reagiere, sei oft Zufall, berichtete ein anderer Zeuge, mehrfach war an diesem Freitag von akutem Personalmangel die Rede. „Wir hatten ja zu wenig Personal“, berichtete etwa die junge Funkerin Linda Pfeif. Von einem geübten oder gar eingespielten Team konnte keine Rede sein. Pfeif etwa hatte in diesem Team nie gearbeitet, weil sie eigentlich bei der Freiwilligen Feuerwehr in Niederzissen im Einsatz war.
Selbst Frank Jakobs, seit 35 Jahren ehrenamtlich unter anderem in der Freiwilligen Feuerwehr tätig und in jener Nacht als Funker im Einsatz in der TEL bekannte: „Wirklich im realen Einsatz“ in einer TEL sei das für ihn das erste Mal gewesen. Die Informationslage „war chaotisch, über alle Wege chaotisch“, berichtete Jakobs, man sei teilweise mit vier Mann nicht mehr hinterhergekommen, die Meldungen aufzuschreiben.
„Man hat sich wirklich völlig hilflos gefühlt“, berichtete Jakobs: „Ich bin es gewohnt, dass wenn man um Hilfe ruft, schickt man ihm Hilfe. In der Nacht habe ich es zum ersten Mal erlebt dass jemand um Hilfe ruft, und man kann ihm keine Hilfe schicken – das war ein schlimmes Gefühl.“ Das wahre Ausmaß der Katastrophe aber – so berichteten es viele Zeugen übereinstimmend – habe man erst am nächsten Morgen realisiert – oder nach dem Verlassen der Einsatzzentrale.
In der TEL sei es „drunter und rüber gegangen“, berichtete Kai Bandt, der sich im Krisenstab um das Thema Versorgung kümmerte. Bandt gehörte dem TEL-Team seit 2013 an, doch auch für ihn war die Flutnacht erst der zweite Einsatz in so einem Krisenstab. Mehrfach seien im Laufe des Abends Warnmeldungen über Katwarn herausgegeben worden, berichtete Bandt – dass die Meldungen nicht wie vorgesehen, auch über die Warnapp Nina ausgespielt wurden, das erfuhr die Einsatzleitung nicht.
Die Kommunikation nach außen sei zunehmend zum Problem geworden, berichtete Bandt weiter, irgendwann gegen Mitternacht fielen Handynetze und dann auch der Strom in der Kreisverwaltung aus. „Man wusste zu einem späteren Zeitpunkt gar nicht mehr, was los war, was passiert, wo die Flutwelle ist“, berichtete Bandt: „Ich persönlich habe die Lage nicht begriffen.“
Dass der Überblick in der TEL so vollständig verloren ging, war wohl auch dem Problem des fehlenden Personals geschuldet. Sascha Cremer, stellvertretender Wehrleiter, hatte die wichtige Position S2 noch bis 17.00 Uhr ausgefüllt, dann fuhr Cremer auf einen Außeneinsatz – danach war die Position womöglich verwaist. Doch genau diese Frage konnten die Zeugen eins ums andere Mal entweder nicht beantworten – oder sie wollten es nicht
„Kann es sein, dass S2 nach Sascha Cremer nicht besetzt war“, wurde Bandt etwa gefragt. „Eigentlich sollte das nicht der Fall sein“, antwortete dieser dem Grünen-Obmann Carl Bernhard von Heusinger, Aber könne es sein, hakte dieser nach? Bandt blieb eine klare Antwort ebenso schuldig wie Vollmer. Das könne er sich „bei der Lage nicht vorstellen“, wehrte ein anderer Zeuge ab, „eine Lage muss ja geführt werden.“
Doch genau das war offenbar nicht der Fall: Die Darstellung eines Lagebilds sei am Anfang noch erfolgt, sei später aber nicht mehr möglich gewesen, berichtete Vollmer. das bestätigte auch Schumacher: „Eine klassische Lageanalyse gab es nicht“, räumte er ein, wegen der Flut an Meldungen „konnten wir das Lagebild nicht mehr komplettieren und nicht mehr darstellen.“
Vor der Staatsanwaltschaft hatte Schumacher allerdings noch anderes angegeben: „Für S2 hatten wir keine Zeit“, sagte er damals: „S2 ist die Lage, wir hatten aber keine Zeit, die Lage zu besetzen – die Lage hat uns überlaufen.“ Konfrontiert mit dieser Aussage vor dem Ausschuss, sagte Schumacher: „So lange es ging, haben wir versucht, die Lage darzustellen, aber irgendwann ging es nicht mehr.“ Die TEL habe „mit den Mitteln und Möglichkeiten, die wir hatten, alles daran gesetzt die Hilfe zu leisten, die wir leisten konnten“, unterstrich Schumacher, und fügte hinzu; „Das ist einfach keine Situation gewesen, wo eine Einsatzleitung eines kleinen Kreises eine solche Situation in den Griff bekommen kann.“
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