Hoher Besuch am Donnerstagmittag in Mainz: Bundespräsident Frank Walter Steinmeier gab sich die Ehre, und würdigte mit einem Besuch beim Verein „Armut und Gesundheit“ die Arbeit des Mainzer Sozialmediziners Gerhard Trabert. Zwei Stunden lang ließ sich Steinmeier herumführen, stieg gemeinsam mit Trabert in das berühmte Arztmobil, sprach mit einem lange wohnsitzlosen Menschen, traf Flüchtlinge und Vertreter von Hilfsorganisationen. Der Mainzer Sozialmediziner Trabert hatte dennoch nach dem Besuch noch einiges an Wünschen – und forderte deutlich mehr Inflationsausgleich für Ärmere und Über-Gewinne von Unternehmen der Rüstungsindustrie abzuschöpfen.
Der Bundespräsident schweigt und lauscht. Es ist die Rolle, die Frank Walter Steinmeier an diesem Tag in Mainz zufällt: aktives Zuhören. Als erster erlebt das Guido Meudt, der Vorsitzende der Pfarrer-Landvogt-Hilfe in Mainz hat viel zu sagen über Armut und Obdachlosigkeit in Deutschland. „Nicht wir haben das Thema gesucht, das Thema hat uns gefunden“, sagt Meudt, und unterstreicht, wie notwendig die Hilfe seines Vereins noch immer in Deutschland ist – leider ist.
1981 wurde der Verein von einer Gruppe engagierter Jugendlicher aus der Mainzer Pfarrei St. Bonifaz gegründet, seit mehr als 40 Jahren setzt er sich für Obdachlose Menschen ein. 2012 erhielt der Verein auf der Mainzer Zitadelle von der Stadt Mainz ein Gebäude in Erbpacht, für 1,2 Millionen Euro wurde es umgebaut. Kernstück ist hier heute eine Teestube, die an 365 Tagen im Jahr für „Menschen in schwierigen Situationen“ da ist – für Wohnsitzlose, Flüchtlinge, Bedürftige aller Art.
An diesem Junimittag gibt es in der Teestube Brötchen, Kaffee und kalte Getränke für den Pulk der Journalisten, der das Areal bevölkert – serviert von Schülern des Willigis-Gymnasiums, die sonst einmal pro Woche für Obdachlose kochen. Rund 50 Kamerafrauen, Reporter und Fotografen sind gekommen, denn der Besuch, der heute erwartet ist, ist der höchste. Mit mehr als einer halben Stunde Verspätung trifft der Bundespräsident ein und kommt ganz leger die Auffahrt hochgelaufen.
Meudt ist seine erste Station, gleich daneben steht der „Street Jumper“, ein Gesundheitsmobil, das Kindern und Jugendlichen Sport- und Spielmöglichkeiten und immer ein offenes Ohr bei Kümmernissen bietet. Hier klettert Steinmeier sogar die Stufen hinauf und posiert gut gelaunt für Fotos – sehr zur Begeisterung von Karl Steffen Winkler vom Street Jumper Team.
Der Bundespräsident kommt nach Mainz – und auf der Zitadelle haben sie alles aufgeboten, was an sozialen Themen zu greifen ist: Geflüchtete Menschen aus Kamerun und Syrien, ein Freiberufler aus der Veranstaltungsbranche, der aus der Krankenversicherung fiel, und dem in der Clearingstelle auf der Zitadelle zu medizinischer Behandlung und Wiederaufnahme in die Krankenkasse verholfen wurde.
Im Arztmobil wartet neugierig Wolfgang Fahr. Im Oktober wird er 90 Jahre alt, viele Jahre lebte er obdachlos auf der Straße. „Wenn ich den Mann nicht gehabt hätte, wäre ich heute nicht hier“, sagt er, „er hat mich von der Straße geholt.“ – „Der Mann“, das ist Gerhard Trabert, der Sozialmediziner, der vor 25 Jahren als erster in Deutschland eine rollende Ambulanz zur aufsuchenden Hilfe für wohnsitzlose Menschen gründete. Fahr ist einer seiner ältesten Patienten und eine echte Erfolgsgeschichte: Mit Hilfe von Streetworkern und einem Bauwagen löste sich Fahr von dem Leben auf der Straße, heute lebt er in einem Seniorenheim.
Nun sitzt er hier auf dem Patientenstuhl im Arztmobil und erzählt dem Bundespräsidenten seine Lebensgeschichte, scherzt gar mit ihm über seine Liebe zum Berliner Fußballclub Union Berlin – und guckt ein wenig ungläubig. „Es bedeutet mit eine ganze Menge“, sagte Fahr anschließend den Journalisten, die ihn fragen, was das Treffen mit Steinmeier ihm bedeute: „Wer hat schon mal Gelegenheit, den Bundespräsidenten zu treffen?!“
Und nun sitzt der erste Vertreter des Staates ganz locker auf der Behandlungsliege, plaudert mit Fahr, und ruft seinen Mitarbeitern zu: Den 6. Oktober, den Geburtstag von Herrn Fahr, „den merken wir uns!“ Dann geht es hinein in die Räume des Vereins „Armut und Gesundheit“, zu noch mehr Gesprächen, zu denen aber nur eine Handvoll auserwählter Journalisten zugelassen ist – der Rest muss draußen bleiben.
Mit seinem Besuch an diesem sonnigen Junitag löst Frank Walter ein Versprechen ein, das er im Februar in der Bundesversammlung gegeben hat. Da war der Sozialdemokrat gerade mit überwältigender Mehrheit als Bundespräsident wiedergewählt worden, doch in seiner Rede zollte er besonders einem Mitkandidaten tiefen Respekt: “Sie haben mit Ihrer Kandidatur auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mehr Aufmerksamkeit verdient: die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land”, sagte Steinmeier an den Mainzer Sozialmediziner gewandt, und fuhr fort: „Dafür, Herr Trabert, gebührt Ihnen nicht nur Respekt, sondern ich hoffe, dass Ihr Impuls erhalten bleibt.“
Trabert war als Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräsidenten angetreten, nicht um zu gewinnen, sondern um seinem Lebensthema Aufmerksamkeit zu verschaffen: Dem Kampf gegen Armut und Benachteiligung in der Gesellschaft. Steinmeier hielt Wort und lud Trabert am 4. März zu einem Gespräch ins Schloss Bellevue, dort lud ihn der Mainzer Arzt und Sozialethik-Professor zum Besuch nach Mainz ein. Nun kam Steinmeier – und brachte viel Zeit und ein offenes Ohr mit.
„Ich bin tief beeindruckt von der Arbeit, die hier vom Verein geleistet wird“, sagte Steinmeier am Ende seines Besuchs: „Dass mitten unter uns, in einem wohlhabenden Land, Menschen auf der Straße, ohne ein Dach über dem Kopf leben müssen, darüber dürfen wir nicht achselzuckend hinweggehen.“ Es sei bei dem Treffen heute vor allem darum gegangen, „wie verbessern wir die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Obdach, wie verbessern wir die Gesundheitsversorgung derer, die zu den Ärmsten, zu den Schwächsten und Verwundbarsten gehören.“
„Der Verein Armut und Gesundheit macht uns auf die Lücken im System aufmerksam“, sagte Steinmeier, „aber er klagt nicht nur öffentlich an, sondern er hilft tatkräftig.“ Besonders lobte Steinmeier die Clearingstelle: Mehr als 50 Prozent der Hilfesuchenden hätten wieder zurück in die Krankenversicherung gebracht werden können. Doch auf die Frage, was er denn für Traberts Verein tun könne, was er denn an Hilfe anbieten könne, machte sich ein wenig Verlegenheit breit.
„Ich empfinde es als meine Aufgabe, in einer Gesellschaft, der es im Vergleich zu vielen anderen besser geht, darauf aufmerksam zu machen, dass es auch bei uns im Lande Obdachlosigkeit und Lücken im System gibt, die von vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen gefüllt werden“, sagte Steinmeier. Seine Aufgabe sei es auch darauf hinzuweisen, „dass wir die Ehrenamtlichen nicht allein lassen dürfen.“ Sprach’s, und machte sich auf den Rückweg – das Besuchsprogramm hatte da bereits ordentlich Verspätung.
„Es war ein sehr intensiver Austausch und Besuch“, sagte danach Gerhard Trabert. Es sei „ein wichtiges Zeichen“, dass der Bundespräsident genau jetzt zu Besuch gekommen sei, „und damit das Thema Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit in den Fokus der öffentlichen Diskussion stellt.“ Das sei deswegen jetzt so wichtig, weil es im Rahmen des Überfalls Russlands auf die Ukraine viel über die Sicherung der Demokratie diskutiert, aber dabei ein Thema gerne vergessen werde: Eine Demokratie könne auch dadurch destabilisiert werden, wenn nicht genügend für soziale Gerechtigkeit getan werde.
„Es werden sich dann immer mehr Menschen von einer Demokratie verabschieden, wenn sie das Gefühl haben, sie werden ausgegrenzt und nicht gesehen“, warnte Trabert – und zog Parallelen zur rechten französischen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, die mit Themen wie Kaufkraftverlust enorme Zustimmungswerte erringen konnte. „Wenn wir nicht für sozialen Ausgleich, für Armutsbekämpfung und Bildungsgerechtigkeit sorgen, dann verlieren wir Menschen für die Demokratie, dann werden Menschen empfänglicher für Populisten“, mahnte der Mainzer Mediziner.
Und dann ließ Trabert doch noch durchblicken, dass er sich eigentlich vom Besuch des Bundespräsidenten noch mehr erhofft hatte: Die 200 Euro soziale Transferleistungen, die der Staat jetzt im Entlastungpaket für Hartz IV-Empfänger vorsehe, „das ist natürlich viel zu wenig“, kritisierte er. Allein um die Inflationsrate ausgleichen zu können, brauche es 32 Euro pro Monat, also gut das Doppelte. „Auch wenn der Bundespräsident nicht so klare Worte sagen kann wie ich – ich erhoffe mir schon durch seinen Besuch, dass die Entscheidungsträger in Berlin doch noch mal überlegen und andere Maßnahmen verabschieden“, sagte Trabert.
Zu finanzieren sei das sehr wohl betonte er: Durch eine höhere Einkommenssteuer für Vermögende, eine Vermögenssteuer – und eine Über-Gewinn-Steuer etwa für die Rüstungsindustrie. „Das darf kein Tabu sein, hier Gelder abzuschöpfen“, forderte Trabert, und das habe nichts mit Neid zu tun, sondern mit sozialer Verantwortung und Verhältnismäßigkeit. Dass er damit sehr weit von Steinmeier als Politiker entfernt sei, dass der Bundespräsident eine andere Rolle habe – ja, das sei ihm bewusst.
„Es ist okay“, sagte der Mainzer. Immerhin: „Wir haben beschlossen, uns in Berlin fortzusetzen“, verriet Trabert noch. Man habe verschiedene Pläne besprochen, die aber erst öffentlich gemacht werden sollten, wenn sie spruchreif seien: „Es ist nicht zuende mit diesem Besuch.“
Info& auf Mainz&: Den Verein „Armut und Gesundheit“ mit all seinen Projekten findet Ihr hier im Internet, mehr zur Pfarrer-Landvogt-Hilfe hier. Warum Gerhard Trabert als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten antrat, könnt Ihr noch einmal hier auf Mainz& nachlesen, ein Porträt von Trabert, dem “Straßen-Doc”, lest Ihr hier bei Mainz&:
Der Straßen-Doc – Seit 25 Jahren kommt Mediziner Gerhard Trabert mit seinem Arztmobil zu Obdachlosen