Mainz& Revisited: Aus aktuellem Anlass wiederholen wir noch einmal unsere Reportage aus dem Dezember 2021 — An diesem Dienstag sind es genau fünf Monate, seit eine gigantische Flutwelle durch das Ahrtal raste, 134 Menschen in den Tod riss, mindestens 8000 Häuser zerstörte oder schwer schädigte. In der Nacht des 14. Juli hatte Andy Neumann das erste Mal richtig Angst, Todesangst. Vier, fünf Stunden, eine ganze Nacht lang, bangte Neumann um das gerade erst gebaute Haus, die Terrasse, das Inventar und schließlich um das Leben seiner Familie und sein eigenes. Das Chaos danach, das Aufräumen, der Kampf gegen Schlamm, Versicherungen und die eigenen Traumata – über all das hat Neumann ein Buch geschrieben: „Es war doch nur Regen!?“ ist ein Protokoll der Katastrophe im Ahrtal, und zugleich eine schonungslos offene Abrechnung mit Politik und Behördenversagen.
„Die Lage ist immer noch ernst, aber nicht hoffnungslos“, sagt Andy Neumann, als Mainz& ihn in seinem Haus in Ahrweiler erreicht, auf den Tag drei Monate nach der Katastrophe, die das Leben von 40.000 Menschen auf einen Schlag veränderte. Sein erst vor drei Jahren gebautes Haus ist jetzt wieder ein Rohbau, das Erdgeschoss entkernt, die Räume leer. „Wir haben heute die neuen Fenster bekommen“, berichtet Neumann glücklich, „wir bauen das Haus wieder auf.“
Fünf Monate nach der Katastrophe ist es ruhiger geworden im Ahrtal, die Aufräumarbeiten sind erst einmal weitgehend erledigt – abgeschlossen ist die Katastrophe aber noch lange nicht: Viele Orte im Ahrtal sind Geisterstädte. In den zerstörten Häusern wohnen nur noch wenige Menschen, in den Ruinen laufen die Bautrockener. Vor allem nachts brennt hier kaum mehr ein Licht, die Menschen sind aus den kalten, klammen Häusern mit ihren gähnend leeren Wänden geflüchtet, wohnen bei Freunden, in Ferienhäusern, Pensionen, zum Warten verdammt – auf Gutachter, Pläne, Bauerlaubnis.
Die Aufarbeitung der Katastrophe in der Politik hat gerade erst begonnen, kommenden Montag startete der Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Flutkatastrophe zu einer Exkursion ins Ahrtal, im Januar wird es die ersten Anhörungen von Sachverständigen zur Wetterlage vor der Flut geben. In den jetzt ruhigeren Tagen kommen bei vielen Betroffenen nun die Erinnerungen wieder hoch: Erinnerungen an die Horrornacht, in der das Wasser stieg und stieg, vor der niemand ausreichend gewarnt hatte, die Leben hinwegriss und Existenzen und vor allem viele Gewissheiten.
Auf rund 150 Seiten hat der Ahrweiler Andy Neumann nun seine Erlebnisse der Flutnacht verarbeitet, angefangen von dem Abend des 14. Juli, als er noch zu seiner Frau in ihrem Haus in Ahrweiler sagte: „Entspann Dich.“ Es war ja nur Regen, der draußen fiel. Das Haus der Neumanns, es steht 200, 300 Meter weit weg von der Ahr. Gegen 20.15 Uhr fährt noch die Feuerwehr am Haus vorbei, schreibt Neumann, warnt vor einer „sehr hohen Hochwassergefahr“, vor Überflutungen, Stromausfall und Verkehrsbehinderungen. Man solle sich „möglichst nicht in Kellern, Tiefgaragen und tieferliegendem Gelände“ aufhalten, das Wetter im Auge behalten und das Abflusssystem, auf die eigene Sicherheit achten.
Neumanns haben keinen Keller, was sie hören ist: Hochwasser, vielleicht noch Stromausfall. „Was ich nicht heraushören kann“, schreibt Neumann, „ist: »Sie befinden sich in einer Gefahrenzone, es ist hier mit Überflutungen zu rechnen, die nicht nur Keller oder Tiefgaragen betreffen werden. Bringen Sie sich sofort in Sicherheit!« Aber wer weiß, vielleicht liegt das an mir.“ Neumann ist nicht irgendein Laie in Sachen Katastrophen, der 46-Jährige ist Kriminalbeamter im Bundeskriminalamt in Meckenheim bei Bonn und in einer Führungsfunktion für die Terrorbekämpfung zuständig. Was er erlebt in jener Nacht und in den Tagen und Wochen danach, dafür hat er nur eine Beschreibung: „Für mich ist das hier Staatsversagen“, sagt Neumann im Gespräch mit Mainz&.
In jener Nacht des 14. Juli steigen die braunen Fluten der Ahr Stufe um Stufe empor, in seinem Haus, vom Erdgeschoss immer weiter nach oben. Nur vier Stufen vor dem ersten Stock, in den sich die Familie geflüchtet hat, in der seine zwei kleinen Kinder schlafen, macht die Brühe halt. Neumann beschreibt, wie mit dem Wasser auch die Angst steigt, wie er die Feuerwehr anruft, wie er versteht: Es wird keine Hilfe kommen. Wie er – der Profi – Todesangst bekommt. In den Stunden der Katastrophe und beim Aufräumen danach seien die Menschen schlicht auf sich gestellt gewesen, sagt Neumann, und er beschreibt das wieder und wieder. „Es gibt keine Anweisungen, keine Kommunikation, keine Anlaufstelle, nur »Hilf Dir selbst«“, schreibt Neumann am 17. Juli, und wenige Tage später: „Kommunale Koordination und Kommunikation mag stattfinden, aber sorry, es kriegt keiner mit.“
Neumann nimmt den Leser mit durch diese ersten Tage und Wochen, beschreibt den Kampf gegen den Schlamm und für Strom – ein Aggregat!! –, das Ringen um Normalität in einer Krise, in der nichts mehr normal und kein Stein auf dem anderen ist. Auch er und seine Familie leben seit der Flutnacht im Ferienhaus eines Freundes. Wasser hatten sie nach nach zwei, drei Wochen wieder im Haus im Ahrtal, Strom nach einem Monat – Leben können sie dort noch nicht.
Neumanns Buch ist eine Reise durch Lachen und Weinen und Fassungslosigkeit und Irrsinn, und sie macht diese Ausnahmekatastrophe für Menschen außerhalb und innerhalb des Ahrtals ein Stück weit begreifbar. Der Staat glänzt durch Abwesenheit, Hilfe kommt von den unzähligen Helfern, Freunden, fremden Menschen von außerhalb, aber auch von Polizei und der Bundeswehr – „fantastisch, waren die“, schwärmt Neumann. Der Staat habe gefeiert, „wenn das THW wieder eine Brücke gebaut hat“ und so super das sei: „Wenn daran festgemacht wird, dass der Staat funktioniert hat, ist das einfach lachhaft“, schimpft er.
Der Politik wirft er mangelhaftes Management vor, Verlogenheit und Ignoranz: „Im Tal kauft niemand der Landesregierung die Schönrednerei ab“, sagt Neumann. Die Menschen im Tal, die Helfer, „die sind allesamt über sich hinausgewachsen“, der Staat aber, der habe sich vielleicht zu 20 Prozent gekümmert. „Wir wären hier“, sagte Neumann noch, „schon gerne näher an der 100.“ Ja, es sei enorm viel Gutes passiert, vor allem durch die ganzen Helfer, aber genau darauf habe sich „der Staat schon entspannt ausgeruht“, findet er: „Das kann nicht der Anspruch eines Staates wie Deutschland sein.“ Die Enttäuschung, vor allem über die Politik, die sei groß, sagt er, „die empfindet hier jeder.“
Es ist nicht das erste Buch, das Neumann schreibt: Im April 2020 erschien sein Thriller „Zehn“ im Gemeiner Verlag, ein Kriminalroman, die Idee zum Buch über die Ahrflut entstand eher per Zufall: Noch in der Flutnacht postete Neumann seine ersten Gedanken auf Facebook, „eigentlich um meine Erfahrungen von der Seele zu schreiben“, sagt er. Der Post wurde hundertfach geteilt, Neumann schrieb weiter – am Ende sorgten die zahlreichen Rückmeldungen dafür, dass aus den Facebook-Protokollen in nur sieben Wochen ein Buch wurde. „Ich kriege Nachrichten aus der ganzen Republik“, sagt Neumann, „auch solche: das Buch wäre besser gewesen als zehn Therapiestunden.“
Nach nur zwei Monaten hat das Buch bereits die 7. Auflage erreicht, den Erlös der Auflagen 1 bis 5 wollen Neumann und der Gmeiner-Verlag ins Ahrtal geben. Neumann sagt, er wolle damit Aktivitäten für Familien und Renaturierungsprojekte unterstützen. „Am kommenden Freitag werden wir gemeinsam eine sensationell schöne Summe ausschütten“, schreibt Neumann auf seiner Facebookseite: Er freue sich darauf, „als Autor weiter dazu beitragen zu können, dass manches, was hier an der Ahr unglaublich ist, weiter laufen kann!“
Info& auf Mainz&: Mehr zu Katastrophe im Ahrtal könnt Ihr noch einmal hier bei Mainz& nachlesen, unseren ersten, persönlichen Erfahrungsbericht, der vieles in Sachen „Wo ist der Staat“ ganz ähnlich wiederspiegelt, lest Ihr hier auf Mainz&. Eine Bilanz nach drei Monaten Flutkatastrophe haben wir hier auf Mainz& gezogen.
Das Buch von Andy Neumann „Es war doch nur Regen!?“ ist im Gmeiner-Verlag erschienen und kostet 14,- Euro. Kaufen kann man es natürlich in den üblichen Buchhandlungen – oder hier direkt beim Gmeiner-Verlag.