Das Ausbleiben der Warnmeldungen in der Flutnacht im Ahrtal wirft weiter hohe Wellen, nun ist eine Debatte um die Rolle der Integrierten Leitstelle (ILT) in Koblenz entbrannt. Die Deutsche Feuerwehr-Gesellschaft verteidigte nun ihre Kollegen: Die hätten gar keine andere Wahl gehabt, ein eigenmächtiges Auslösen einer Warnmeldung sei nicht vorgesehen – Schuld seien die strikten Anweisungen aus dem Mainzer Innenministerium, wie schon Mainz& berichtet hatte. Diese Anweisungen kritisieren nun die Freien Wähler ausdrücklich: Es sei doch „völlig absurd“, dass das Wohl und Wehe eines solchen Warnsystems von einer  völlig inflexiblen Richtlinie abhänge. Und was sei denn, wenn niemand mehr da sei, ein Fax zu verschicken?

Einsatzleitstelle der Mainzer Polizei im Polizeipräsidium. - Foto: gik
Einsatzleitstelle der Mainzer Polizei im Polizeipräsidium. – Foto: gik

Zu Wochenbeginn war eine Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Freien Wähler im Landtag bekannt geworden, in der das Mainzer Innenministerium einräumte: Eine breite Warnmeldung der Bevölkerung über das Modulare Warnsystem MoWas war in der Flutnacht von der Integrierten Leitstelle in Koblenz nicht ausgelöst worden – obwohl in der Leitstelle Notrufe in erheblicher Menge eingingen. Das Auslösen der Warnmeldung erfolgte nicht, weil der Landkreis kein Fax schickte, mit dem er die Warnung hätte anfordern müssen.

Der Obmann der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal, Stephan Wefelscheid, hatte das deutlich kritisiert: Es könne doch nicht sein, „dass man auf ein unterzeichnetes Fax aus Ahrweiler wartet, wenn zeitgleich wahnsinnig viele Hilferufe aus dem Krisengebiet eingehen”, sagte Wefelscheid: Warum sei man in der Leitstelle nicht von alleine tätig geworden und habe mal nachgefragt?

- Werbung -
Werben auf Mainz&

 

Kritik daran kommt nun ausgerechnet von der CDU, die ja ebenfalls Opposition ist: „Es dreht sich nicht darum, ob ein Fax oder eine Mail fehlte“, sagte die CDU-Abgeordnete Anette Moesta, die Mitarbeiter der Leitstelle seien schlicht „nicht berechtigt, eigenständig Warnungen abzusetzen, solange die Aufforderung dazu fehlt.“ Wefelscheid zeige mit seinen Äußerungen, „dass er die Abläufe im Rettungswesen und Katastrophenschutz nicht auf dem Schirm hat“, kritisierte Moesta.

Auch Kräfte der Mainzer Feuerwehr halfen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. - Foto: Feuerwehr Mainz
Auch Kräfte der Mainzer Feuerwehr halfen nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. – Foto: Feuerwehr Mainz

Zudem verkenne der Kollege „die tatsächliche Lage“ in der Leitstelle: „Am Flutabend arbeiteten die Leute am psychischen und physischen Limit, sie brauchten selbst Hilfe und baten um Unterstützung“, betonte Moesta. Die Frage, ob die Bevölkerung im Kreis Ahrweiler früher oder umfassender hätte gewarnt werden müssen, setze wesentlich früher und grundsätzlicher an.

Zuständig für den Betrieb der Integrierten Leitstelle in Koblenz ist die Koblenzer Bürgermeisterin Ulrike Mohrs – eine CDU-Politikerin. Mohrs hatte bereits vor vier Tagen gegenüber dem SWR die Arbeit der Leitstelle in der Flutnacht verteidigt: Im Katastrophenfall habe die Einsatzzentrale in Koblenz „nicht den Überblick, um eigenmächtig die Bevölkerung zu warnen“, sagte Mohrs (CDU) im SWR-Interview. Es sei in Rheinland-Pfalz klar geregelt, wer Warnungen auslösen dürfe: Das seien die Gemeinden und die Landkreise. Diese Regelung müsse auch dann gelten, wenn in der Leitstelle viele Notrufe eingingen.

Ob sich die Mitarbeiter der Leitstelle von sich aus darum bemüht hatten, beim Kreis Ahrweiler eine Freigabe für eine Warnmeldung zu bekommen, konnte die Bürgermeisterin im Gespräch mit dem SWR allerdings nicht sagen. Es habe aber „regelmäßigen Kontakt zwischen der Leitstelle in Koblenz und dem Lagezentrum in Ahrweiler gegeben“, sagte Mohrs gegenüber dem Sender. Auch die Bürgermeisterin hatte dem SWR gegenüber bestätigt, dass in der Nacht Tausende Notrufe in der Leitstelle eingingen – am 6. Mai wird Mohrs zu den Vorgängen im Untersuchungsausschuss Auskunft geben müssen.

 

Im Interview mit Mainz& widerspricht Wefelscheid nun den Kritikern entschieden: „Hier geht es nicht um die Frage, ob die Feuerwehrleute ordentliche Arbeit gemacht haben oder nicht“, sagte er: Es sei „völlig unstreitig“, dass die Feuerwehrleute in der Flutnacht härteste Arbeit geleistet hätten, davor habe er „größten Respekt.“ Die entscheidende Frage sei doch, wie die politische Führung der Leitstelle mit den eingehenden Informationen umgegangen sei.

Der Obmann der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal, Stephan Wefelscheid. - Foto: Wefelscheid
Der Obmann der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal, Stephan Wefelscheid. – Foto: Wefelscheid

„Es reicht nicht aus zu sagen, wir haben die ministeriale Richtlinie beachtet, und solange die schriftliche Aufforderung zum Auslösen der Warnmeldung nicht vorliegt, können wir nicht handeln“, betonte Wefelscheid. Die Leitung hätte angesichts der erschütternden Hilferufe aus dem Tal proaktiv auf die technische Einsatzleitung in Ahrweiler zugehen und nachfragen müssen, es müsse aufgeklärt werden, ob das geschehen sei.

Inzwischen ist die Rede davon, dass in der Flutnacht in der Integrierten Leitstelle in Koblenz rund 3.000 Hilferufe von Anwohnern im Ahrtal eingingen – darunter auch dramatische Bitten um Hilfen in größter Not. Die Feuerwehrleute hätten „unstrittig Großartiges geleistet, die Menschen in dieser Lage zu begleiten“, betonte Wefelscheid weiter. Es könne aber doch nicht sein, dass in so einer Lage eine wichtige Warnung unterbleibe, weil eine schriftliche Aufforderung nicht komme.

 

Die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft verteidigt indes das Vorgehen: Das Modulare Warnsystem MoWas, das federführend durch das rheinland-pfälzische Innenministerium betrieben werde, „beinhaltet strikte Anweisungen, wie die einzelnen Warnstufen abzuarbeiten sind“, heißt es in einer Pressemitteilung der Gewerkschaft. Die Konsequenz: „Dem in der ILS tätigen Disponenten bleibt keine andere Möglichkeit, als auf diese Bestätigung/Anweisung zu warten, bevor er die Warnmeldung auslöst.“

Feuerwehren in Deutschland: Erstarrt in Vorschriften? - Foto: Feuerwehr Ingelheim
Feuerwehren in Deutschland: Erstarrt in Vorschriften? – Foto: Feuerwehr Ingelheim

Damit solle verhindert werden, dass es zu fehlerhaften oder unautorisierten Warnmeldungen komme, die in der höchsten Stufe eben zu bundesweiten Unterbrechungen des laufenden Fernseh- oder Radioprogramms führten. Das habe durchaus seinen Sinn, betont die Gewerkschaft weiter: „Man stelle sich vor, einer der Kollegen hätte eigenständig eine nicht vollständige Warnmeldung herausgegeben, in der eine Ortschaft als nicht-betroffen gegolten hätte, und es dort zu Verlust von Menschenleben gekommen wäre, weil keine Hilfskräfte entsandt wurden.“

Durch das Festhalten an den vorgeschriebenen Abläufen ging in der Flutnacht allerdings von der Leitstelle in Koblenz nun gar keine Warnmeldung heraus, die Konsequenz: Tausende Menschen wurden zum Teil im Schlaf von der meterhohen Flutwelle im Ahrtal völlig überrascht, 134 Menschen verloren ihr Leben in den Fluten. Eine Aufforderung zur Evaluierung wurde durch den Landkreis Ahrweiler erst um 23.09 Uhr über Katwarn herausgegeben – und das auch nur für eine Streifen 50 Meter rechts und links der Ahr. Da war das Tal längst in einer bis zu neun Meter hohen Flutwelle versunken.

 

„Es scheint ja völlig absurd zu sein, dass am Ende des Tages das Wohl und Wehe eines solchen Warnsystems von einer Richtlinie abhängt, die offensichtlich so starr ist, dass sie keine Flexibilität zulässt oder auch nur eine Nachfrage verhindert“, kritisierte Wefelscheid. Eine Katastrophenplanung müsse doch immer vom Extremfall ausgehen. „Es stellt sich ja auch die Frage: Was ist denn, wenn eine technische Einsatzleitung nicht mehr existent ist“, fragte Wefelscheid. Es könne doch „eine Katastrophe eines solchen Ausmaßes vorhanden sein, dass schlicht niemand mehr da ist, der eine solche Aufforderung absenden kann“, sagte der Politiker weiter: „Wie ist denn ein solcher Fall geregelt?“

Info& auf Mainz&: Die ganze Geschichte zum ausgebliebenen Fax aus Ahrweiler könnt Ihr noch einmal hier bei Mainz& nachlesen.

Kommentar& auf Mainz&: Warten auf das Fax aus dem Jenseits

Was in der Aufarbeitung der Flutkatastrophe im Ahrtal inzwischen zutage kommt, ist zunehmend unerträglich: Deutschland und seine Politiker sind offenbar so erstarrt in einem Zustand von Wegducken, Nicht-Zuständigkeit und Bürokratismen, dass das Übernehmen von Verantwortung inzwischen völlig ausgeschlossen ist. Eine für Hochwasser zuständige Ministerin lässt sich von ihren Untergebenen bescheiden, für Katastrophenschutz sei man nicht zuständig, die Regularien müssten „strikt eingehalten werden“ – die Ministerin tut: nichts.

Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz vor dem Untersuchungsausschuss: Die Regularien müssen eingehalten werden. - Foto: gik
Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz vor dem Untersuchungsausschuss: Die Regularien müssen eingehalten werden. – Foto: gik

Derselbe Staatssekretär geht im bräsigen Bewusstsein, nicht zuständig zu sein, in aller Gemütsruhe nachhause, isst zu Abend, trinkt ein Bierchen und verfolgt die Nachrichten – als ginge ihn das alles nichts an. Werden schon „die anderen“ richten. „Die anderen“, das sind die Feuerwehrleute, die vor Ort händeringend darum kämpfen, Menschen zu retten. „Die anderen“, das sind die Feuerwehrleute in der Leitstelle, die Stunde um Stunde Hilferufe anhören müssen und – wenn es stimmt – buchstäblich Menschen beim Sterben zuhörten.

Alarm schlagen? „Dürfen“ sie nicht, es fehlt ja ein Fax. Selbstständig Agieren, gar einen Alarm auslösen? Gott bewahre. Mann könnte ja einen Fehler machen. Die Weltenrettung findet heute leider nicht statt, „die Vorschriften“ geben es nicht her. „Warnen können wir nicht“, bilanzierte bereits kurz nach der Flutkatastrophe im Ahrtal der Mainzer Oberbrandmeister Michael Ehresmann im Interview mit Mainz& – das ganze Gespräch samt Analyse könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen.

 

Dass ausgerechnet eine Feuerwehr-Gewerkschaft so ein Vorgehen auch noch verteidigt, lässt einem den Atem stocken, die Argumentation dazu erst Recht: Man stelle sich nur mal vor, durch eine „eigenmächtige“ Warnung wäre in einem Ort nicht gewarnt worden, und dadurch wären Menschen gestorben, heißt es da. Ach wirklich, liebe Gewerkschaft? Man stelle sich nur mal vor, in einem ganzen Tal wäre nicht gewarnt worden, weil man sich sklavisch an Vorschriften klammerte, anstatt Hirn und Herz einzuschalten, und dadurch wären dann 134 Menschen gestorben…

Feuerwehrmann bei einer Übung im Tunnel Mainz-Hechtsheim: Bei Apokalypse Warten aufs Fax aus dem Jenseits? - Foto: Feuerwehr Mainz
Feuerwehrmann bei einer Übung im Tunnel Mainz-Hechtsheim: Bei Apokalypse Warten aufs Fax aus dem Jenseits? – Foto: Feuerwehr Mainz

Nein, in Deutschland warten wir lieber auf ein Fax, das nicht kommt, auch wenn da draußen die Welt untergeht und Menschen am Telefon in höchster Not um Hilfe flehen. Man hat „keine Wahl“, als nichts zu tun – ist das Euer Ernst? Ist wirklich Befehlsgehorsam wieder wichtiger geworden als Denken, Handeln und Retten? Und was, wenn dort draußen schlicht niemand mehr ist? Warten wir dann auf ein Fax aus dem Jenseits – anstatt Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um Menschenleben zu retten? Ja, offenbar ist das der Zustand in Deutschland im Jahr 2021. Und auch noch im Jahr 2022, denn geändert hat das bis heute – niemand. Wahrscheinlich fehlt die Aufforderung per Fax.

“Warnen können wir nicht” – Mainzer Feuerwehrmann Ehresmann über Alarm per Fax, fehlende Fahrzeuge, veraltete Konzepte