Jetzt ist es offiziell: Der Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal geht auch 2024 weiter. Am Mittwoch beschloss das Gremium auf einer nicht-öffentlichen Beratungssitzung, seine Beweisaufnahme auch im kommenden Jahr fortzusetzen. Gehört werden soll dann der Kieler Krisenforscher Frank Roselieb, er hatte das Gutachten seines Kollegen Dominic Gißler, das im Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz entstand, deutlich kritisiert. Nun soll Roselieb im Februar in Mainz gehört werden. Ob es danach weitere Sitzungen geben wird, ist noch unklar: Die weitere Terminplanung wurde zurückgestellt.
Dominic Gißler, Professor für Führung im Bevölkerungsschutz, hatte Ende November vor dem Untersuchungsausschuss aussagen müssen, der Grund: Sein Gutachten, das er im Auftrag der Staatsanwaltschaft Koblenz zur Flutkatastrophe im Ahrtal erstellt hatte. Gißler sollte untersuchen, welche Handlungsoptionen der Ahrweiler Landrat Jürgen Pföhler (CDU) und sein Brand- und Katastrophenschutzinspekteur in der Flutnacht überhaupt noch hatten, um Menschenleben zu retten.
Im Kern geht es weiter um die Frage: Wer trägt die Verantwortung dafür, dass 136 Menschen in der Flutnacht im Ahrtal ihr Leben verloren? Hätten mehr Menschen gerettet werden können, wenn irgendjemand früher und vehementer gewarnt hätte oder überhaupt im Katastrophenschutz andere Entscheidungen getroffen worden wären? Gißler äußerte sich zu diesen Fragen weitgehend ausweichend: Der Gutachter bescheinigte zum einen dem Kreis Ahrweiler, im Katastrophenschutz völlig unzureichend aufgestellt gewesen zu sein, wies eine Mitverantwortung aber auch dem Land Rheinland-Pfalz zu.
Hätten in der Flutnacht im Ahrtal Menschen gerettet werden können?
Das Land sei seiner Aufgabe nicht nachgekommen, seine Landkreise gut für eine Katastrophe aufzustellen. Die Landesregierung habe nicht ausreichend Vorgaben gemacht und zudem nicht überprüft, ob Übungen oder eben die Aufstellung von Katastrophenschutzplänen auch eingehalten würden – der Staat habe in jener Flutnacht „sein hoheitliches Schutzversprechen gegenüber dem Bürger gebrochen“, konstatierte Gißler, der bei seinem Auftritt vor dem Ausschuss auch vehement für eine Professionalisierung des Katastrophenschutzes mit speziell ausgebildeten Fachkräften plädierte.
Doch mit Blick auf die entscheidende Frage – hätten Menschenleben gerettet werden können – blieben Gißlers Aussagen schwammig und widersprüchlich. „In diesem Gutachten steht drin, dass Menschenleben hätten gerettet werden können“, sagte Gißler zwar, betonte zugleich aber, er könne eben nicht exakt angeben, „mit welcher Erfolgsaussicht“ das hätte geschehen können. „Ja, es hätte Chancen gegeben, und die Chancen sind so groß, dass sie eindeutig erkennbar sind“, betonte der Experte: „Aber man dringt eben nicht in den Bereich von 99,9 Prozent vor.“
Genau das aber stieß unmittelbar auf Kritik: „Dieses Gutachten ist von vorneherein so aufgesetzt, dass es für die Staatsanwaltschaft ein bestimmtes Ergebnis bringt“, hatte Ralph Orth, Vater der in der Flutnacht verstorbenen Johanna, direkt nach Gißlers Anhörung im U-Ausschuss im Gespräch mit Mainz& kritisiert. Der Gutachter habe offenbar darlegen sollen, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Toten und den Beschuldigten gebe., kritisierte Orth: „Wir vermuten, dass das offensichtlich ein Gutachten ist, das nicht das Ziel hat, den Sachverhalt objektiv zu beleuchten.“
Kieler Krisenforscher Frank Roselieb wird im Februar 2024 gehört
Orths Anwalt Christian Hecken hatte denn auch im Gespräch mit Mainz& bestätigt: Ja, er habe einen Befangenheitsantrag gegen Gutachter Gißler angekündigt. Das Gutachten sei „nicht nachvollziehbar und widersprüchlich“, seine Aufgabenstellung nicht neutral gewesen, und Gißler habe eben keine Kausalketten zwischen möglichen Handlungen und dem Retten von Menschenlegen aufgezeigt – wie es aber eigentlich in Gutachten üblich sei.
Auch Hecken stützt sich dabei auf die Expertise eines weiteren Experten: Frank Roselieb, geschäftsführender Direktor des Kieler Instituts für Krisenforschung, der Gißlers Gutachten deutlich kritisiert. Und Roselieb soll nun auf Antrag der Freien Wähler im Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag gehört werden. Das werde am 16. Februar 2024 geschehen, beschloss der Ausschuss am Mittwoch – das ist der Freitag nach Rosenmontag. Roselieb solle nun dem Ausschuss „zu einzelnen Beurteilungen“ Gißlers in seinem Gutachten Stellung nehmen, teilte die Landtagsverwaltung mit.
Für Roselieb ist es nicht der erste Gang vor das Untersuchungsgremium: Bereits im April 2022 hatte der Kieler Experte zu den Strukturen im Katastrophenschutz und der Aufgabenverteilung zwischen den Kommunen, den Kreisen, dem Land und dem Bund ausgesagt – es war jene Sitzung am 8. April, in der auch der damalige Innenminister Roger Lewentz sowie Ministerpräsidentin Malu Dreyer (beide SPD) angehört wurden.
Roselieb: Schlechtes Zeugnis für Führungsstärke in RLP
Roselieb hatte bereits damals der Landesregierung in Mainz ein ausgesprochen schlechtes Zeugnis beim Agieren in der Flutnacht ausgestellt: So habe es kein Katastrophenvoralarm-System gegeben, Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) habe mit ihrer abwiegelnden Pressemitteilung für „kommunikatives Chaos“ gesorgt, und generell hätten es die Spitzen der Regierung versäumt, als Krisenmanager in der Nacht tätig zu werden – anders als weiland Helmut Schmidt in der Sturmflut in Hamburg 1962. „Mangelnde Führungsstärke“, hatte Roselieb schon damals konstatiert.
Nun also soll Roselieb nach dem Willen der Freien Wähler zentrale Aussagen in Gißlers Gutachten aus seiner Expertise heraus bewerten – vor allem die Frage nach den Ursachen für schlechte Führungsleistungen in der Nacht, was das Fehlen eines Verwaltungsstabes ausmachte sowie zu den möglichen Erfolgsaussichten einer Evakuierung, auch in letzter Minute. Dazu zähle auch die Frage, wie die Aussage Gißlers zu beurteilen sei, dass eine Evakuierung unter den ungünstigen Ausgangsbedingungen durchaus auch „quick and dirty“ möglich gewesen wäre, betonte der Obmann der Freien Wähler, Stephan Wefelscheid.
Welche Konsequenzen die Anhörung Roseliebs haben wird, und wie es danach mit dem U-Ausschuss weitergeht – das ist bislang unklar. Zwei weitere Beweisanträge wurden am Mittwoch erst einmal zurückgezogen. Die weitere Terminplanung des Ausschusses werde zunächst zurückgestellt, sagte der Ausschussvorsitzende Martin Haller (SPD) nach der Beratungssitzung. Man werde nach Durchführung der Beweisaufnahme am 16. Februar 2024 erneut im Ausschuss beraten. Damit verzögert sich auch der Abschlussbericht für den Ausschuss weiter – und gerät wahrscheinlich in die Wahlkampfzeiten im Vorfeld von Europawahl und Kommunalwahl in Rheinland-Pfalz Anfang Juni 2024.
Info& auf Mainz&: Mehr zur Expertise von Frank Roselieb findet Ihr hier im Internet. Einen ausführlichen Bericht über den Streit um Gißlers Gutachten könnt Ihr noch einmal hier nachlesen.