Das Land Hessen will gemeinsam mit Bayern, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein die Quarantäneregeln bei Corona-Infektionen kippen: Man wolle „die generelle Isolationspflicht für positiv getestete Personen aufheben“, teilte Hessen mit. Wann es aber so weit sein wird, ist noch unklar: Die Regelung sei noch „in Vorbereitung“, hieß es am Dienstag aus Hessen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kritisierte das Vorhaben angesichts von 1000 Toten pro Woche scharf. Derweil zeigen Studien: Jede Re-Infektion birgt massive Risiken – und: Jeder Zehnte geht trotz Krankheit arbeiten.
Wer künftig positiv auf das Coronavirus getestet wird, soll sich in Zukunft in Hessen nicht mehr in häusliche Isolation begeben müssen – das kündigte das Nachbar-Bundesland vergangenen Freitag an: Gemeinsam mit Baden-Württemberg, Bayern und Schleswig-Holstein habe man sich auf „gemeinsame Empfehlungen verständigt“, nach der die häusliche Quarantäne nach einem positiven Coronatest künftig entfallen soll. Bislang müssen sich positiv Getestet noch mindestens fünf Tage in Quarantäne begeben.
„Wir läuten eine neue Phase im Umgang mit der Pandemie ein“, sagte Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne). Es sei „Zeit, den Menschen wieder mehr Eigenverantwortung zu übertragen.“ Wer krank sei, solle zu Hause bleiben, der Schutz vulnerabler Gruppen „wird selbstverständlich weiterhin aufrechterhalten.“ Aus Sicht der vier CDU-regierten Länder bedürfe es „einer neuen Phase im Umgang mit der Pandemie“, denn man befinde sich „am Übergang zu einer Endemie.“
„So lange das derzeit herrschende Omikron-Virus nicht von einer pathogeneren Variante verdrängt wird, die unser Gesundheitssystem überlasten könnte, ist der Schritt verantwortbar und geboten“, sagte Hessens Gesundheitsminister Kai Klose (Grüne): „Der bestehende Schutz durch Impfungen oder durchgemachte Infektionen in Deutschland macht ihn möglich.“
Tatsächlich aber ist die derzeitige Omikron-Variante mitnichten so harmlos, wie es die Gesundheitspolitiker glauben machen wollen: Der Wochenbericht des Robert-Koch-Koch-Instituts registriert seit Mitte Oktober erneut steigende Todeszahlen von Menschen nach einer Corona-Infektion – die Zahlen stiegen von 800 pro Woche auf derzeit rund 1.000 Corona-Tote pro Woche. An diesem Mittwoch meldete das RKI allein 223 Todesfälle binnen 24 Stunden – und 38.610 Neuinfektionen.
Die Dunkelziffer dürfte dabei beträchtlich sein, Fachleute gehen von mindestens dreifachen bis vierfachen Zahlen aus, der Grund: Die meisten Infizierten machen überhaupt keinen PCR-Test mehr, nur diese gehen aber in die offizielle Statistik ein. Seit der Abschaffung der kostenlosen Bürgertests sank die Testrate zudem dramatisch, die Sieben-Tages-Inzidenzen geben seither den wahren Pandemieverlauf nur noch im Ansatz wieder. Die jüngste, massive Herbstwelle wurde indes von Politik und Öffentlichkeit weitgehend ignoriert – obwohl sie massive Ausfälle in Kliniken, bei Busunternehmen und anderswo zur Folge hatte.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kritisierte das Vorhaben der vier Bundesländer denn auch scharf: „Mit 1.000 Coronatoten pro Woche, am Vorabend einer Winterwelle mit neuen Varianten, und einer zunehmenden Zahl von Beschäftigten mit Long Covid macht Aufhebung der Isolation keinen Sinn“, schimpfte Lauterbach auf Twitter: „Der Arbeitsplatz muss sicher bleiben, Arbeitnehmer brauchen Schutz.“
Jeder Zehnte geht trotz positivem Coronatest zur Arbeit
Tatsächlich ergab gerade erst eine eine repräsentative Umfrage der Krankenkasse Pronova BKK: Die Mehrheit der Berufstätigen in Deutschland geht laut einer Umfrage krank zur Arbeit, wie die ZEIT berichtete – und jeder Zehnte erscheine sogar trotz positivem Coronatests im Büro. Nur 33 Prozent der Befragten blieben demnach bei einem leichten Corona-Verlauf so lange zu Hause, bis sie wieder gesund waren. Und generell blieben nur 28 Prozent der Deutschen demnach bei Krankheit konsequent zu Hause.
Mediziner warnen deshalb: Ein Aufheben der Quarantäne würde die Gefahr einer Corona-Infektion am Arbeitsplatz sowie auf dem Weg dorthin dramatisch erhöhen. Auch riskierten die Betroffenen bleibende Schäden nach einer Corona-Infektion, wenn sie die Viruserkrankung nicht genügend auskurierten.
Dazu finden Mediziner immer mehr Hinweise darauf, dass sich eine dauerhafte Vollimmunität gegen das Coronavirus womöglich gar nicht einstellt: Die Rate der Re-Infektionen steigt seit Monaten erheblich, Fälle von drei oder vier Erkrankungen sind keine Seltenheit mehr – oft sogar finden Wiederansteckungen sogar innerhalb weniger Wochen nach einer durchgemachten Infektion statt.
Die Idee einer „Superimmunität ist nicht nur trügerisch, sondern falsch“, das zeige nun eine aktuelle Studie aus den USA, berichtete gerade der Fernsehsender NTV auf seiner Online-Seite. Die Studie zeige vielmehr, dass diese erneuten Re-Infektionen mit dem Coronavirus oft erhebliche gesundheitlichen Folgen hätten, und das Risiko für Schäden in den verschiedensten Organsystemen deutlich erhöhten. Dazu gehörten Erkrankungen der Lunge, des Herzens, des Gehirns, des Blutes, des Bewegungsapparats und des Magen-Darm-Trakts – und das Risiko, an Covid-19 zu sterben.
Pro Corona-Infektion steigt Risiko für Tod und schwere Schäden
Für die Studie hatten Forschende der Washington University School of Medicine in St. Louis und des Veterans Affairs St. Louis Health Care System „etwa 5,8 Millionen anonymisierte Krankenakten in einer Datenbank des US Department of Veterans Affairs analysiert, des größten integrierten Gesundheitssystems der USA“, wie NTV berichtete. Die Patienten repräsentierten mehrere Altersgruppen, ethnische Gruppen und Geschlechter, mehr als fünf Millionen von ihnen hatten bis zum Zeitpunkt der Studie kein einziges Mal Corona.
Diese Gruppe wurde verglichen mit Patienten, die nur einmal mit Corona infiziert waren (rund 443.000 Personen) sowie einer weiteren Gruppe (fast 41.000 Personen), die zwei, drei oder vier dokumentierte Infektionen hatten. Die Ergebnisse, die in der renommierten Zeitschrift Nature veröffentlicht wurden, waren eindeutig: Das Risiko für schwere Verläufe, für Krankenhauseinweisungen und für Lungenprobleme oder gar Tod stieg mit jeder neuen Infektion weiter an.
Menschen mit Covid-19-Reinfektionen hatten demnach ein doppelt so hohes Sterberisiko und ein dreimal höheres Risiko für einen Krankenhausaufenthalt wie Menschen ohne Reinfektion. Die Wahrscheinlichkeit, Lungenprobleme zu entwickeln, lag dreimal so hoch wie bei Patienten, die sich nur einmal mit dem Virus infiziert hatten. Eine Reinfektion trug demnach auch zu Diabetes, Nierenerkrankungen und psychischen Problemen bei – die ganze Studie könnt Ihr im Original hier nachlesen.
Long Covid inzwischen wohl so verbreitet wie Diabetes
Damit zeigt sich: Mit dem Aufheben aller Vorsichtsmaßnahmen erhöht sich die Gefahr einer erneuten Ansteckung – und damit die Gefahr von Gesundheitsschäden erheblich. Dazu kommt: Auch die Zahl derer, die unter Long Covid-Beschwerden nach einer Infektion leiden, nimmt zu. Long Covid werde bald zu den wichtigsten chronischen Erkrankungen in Deutschland gehören, warnte jüngst sogar Lauterbach persönlich – Ärzte bestätigen das: Mehrere 100.000 Menschen dürften allein in Deutschland bereits an Long Covid leiden.
Weltweit seien schätzungsweise bereits zwischen zwei und fünf Prozent der ursprünglich Infizierten später an Post Covid – den Langzeitfolgen des Coronavirus – erkrankt, sagte schon im Frühjahr dieses Jahres der Berliner Lungenarzt Christian Gogoll im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“. Damit seien Post Covid Folgen bereits ungefähr so häufig wie Diabetes Typ 1″, warnte Gogoll – schon die Gutenberg Long Covid-Studie der Mainzer Universitätsmedizin hatte Ende 2021 festgestellt: 40 Prozent der Corona-Infizierten damals waren von Folgeschäden wie Long Covid oder Post Covid betroffen.
Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer kritisierte deshalb auch die geplante Lockerung der Corona-Quarantäne als zu früh: „Wir sind noch nicht in der endemischen Phase“, betonte Stürmer im Interview mit der Hessenschau. Man wisse noch immer zu wenig über Covid, und erst recht über Long Covid – und die Winterwelle stehe erst noch bevor: Spätestens im Januar werde es erneut zu einem massiven Anstieg der Infektionszahlen kommen, betonte Stürmer. Rüttele man jetzt an der Isolationspflicht, werde diese Welle umso heftiger ausfallen.
Quarantäne wichtiges Mittel, Ansteckungen zu vermeiden
Die Quarantäne sei „ein sehr wichtiges Mittel, Infektionen zu vermeiden“, sagte Stürmer im Interview mit Rheinland-Pfalz aktuell. Die Eigenverantwortung werde nicht funktionieren, „und wir unterschätzen nach wie vor das Risiko von Long Covid“, betonte Stürmer: „Wir gehen ein zu hohes Risiko ein, solche Fälle zu provozieren.“ Dazu fordern seit Wochen chronisch Kranke in den sozialen Netzwerken, die Politik müsse auch die Vulnerablen schützen, die eben nicht in Heimen oder Kliniken lebten, sondern mitten im Leben stehen – sie viele von ihnen fühlen sich von der Politik komplett im Stich gelassen.
Die jetzigen Lockerungspläne der Bundesländer hatte allerdings erst eine Änderung der Bundesregierung selbst ermöglicht: Seit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes können die Länder über solche Vorgaben eigenmächtig entscheiden – Experten hatten schon damals eindringlich vor einem Flickenteppich an Regelungen gewarnt.
Hoch rechnet mit neuer Infektionswelle ab Dezember
In Rheinland-Pfalz teilte das Gesundheitsministerium auf Anfrage mit, man prüfe den Vorstoß zur Lockerung der Isolationspflicht – Gesundheitsminister Clemens Hoch (SPD= hatte selbst bereits ein solches Vorgehen gefordert. „Rheinland-Pfalz begrüßt weiterhin, dass hierüber erneut diskutiert werden soll, befürwortet in dieser Frage aber ein möglichst einheitliches Vorgehen“, sagte Hoch nun dazu. Im Gesundheitsausschuss des Landtags hatte Hoch aber noch am Dienstag selbst betont: Die Corona-Pandemie sei nicht vorbei, er rechne mit einem erneuten Ansti4eg der Infektionen ab Dezember – dieser Anstieg zeige sich bereits im neuen Abwasser-Monitoring.
Derweil kippten Bayern und Baden-Württemberg die Isolationspflicht bereits in dieser Woche. Wann genau Hessen nun seine Regelung lockern will, steht derweil noch gar nicht fest: Eine entsprechende Änderung der Corona-Verordnung werde „derzeit innerhalb der Landesregierung beraten“, teilte das Hessische Gesundheitsministerium auf Mainz&-Anfrage mit: „Ein konkreter Zeitplan besteht derzeit noch nicht.“
Info& auf Mainz&: Ausführliche Informationen zur Gutenberg Long Covid-Studie findet Ihr hier auf Mainz&.