Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war völlig klar in ihrer Ansage: „Wir müssen 75 Prozent unserer Kontakt reduzieren“, sagte die Kanzlerin am Mittwoch, es war der Tag, an dem sie einen Teil-Lockdown für den Monat November verkündete. Das Wort vom „Wellenbrecher-Lockdown“ machte schnell die Runde, denn genau darum geht es: die aktuell hochschießende zweite Corona-Welle zu brechen, zu stoppen, nicht ausufern zu lassen. Trotzdem war sofort von „unfair“ die Rede, in der Gastronomie sprach man sogar von „Stigmatisierung“ – warum es darum überhaupt nicht geht, was die „Wellenbrecher-Strategie“ ist und warum #flattenthecurve zurück ist: eine Analyse von Mainz&.
Eine zweite Welle, warnte die Virologin Melanie Brinkmann vom Braunschweiger Helmholtz-Institut, werde „nicht mehr nur lokal begrenzt sein“, es drohe eine flächendeckende Verbreitung des Virus in der Bevölkerung und damit eine viel breiter gestreute Ansteckungsgefahr – kurz: es drohe eine viel schlimmere zweite Corona-Welle. Ein großer Teil der Bevölkerung habe aber offenbar „das Ausmaß der Situation noch nicht realisiert“, kritisierte Brinkmann, es sei aber „eine Illusion, dass wir von einer Besserung sprechen können.“
Das war Ende April, und Deutschland erholte sich gerade so langsam vom Schock der ersten Welle in der Corona-Pandemie. Der erste Lockdown wurde gerade vorsichtig wieder gelockert, die Politik führte nach langem Hin und Her eine Maskenpflicht ein – in der Folge sanken die Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus stetig. Der Sommer kam, die Infektionen sanken in den Bereich von einigen Hundert Fällen – und Corona geriet fast schon wieder ins Vergessen. Die Menschen strömten ins Freie, es wurde sich getroffen, es wurde gefeiert, es wurde verreist – gerne auch wieder an den Ballermann. Die Hygienekonzepte hielten, was sie versprochen hatten.
Dumm nur: Dabei ging bei vielen offenbar das Bewusstsein verloren, dass das Virus immer noch da war. „Wir dachten, wir hätten es im Griff“, sagte vor wenigen Tagen ein Landrat im nördlichen Rheinland-Pfalz im SWR-Fernsehen, der Mann wirkte ein wenig betreten, und das völlig zu Recht: Ganze Teile der Bevölkerung, aber auch in der Politik hatten im Sommer den Kopf regelrecht in den Sand gesteckt. Dabei gab es die anhaltenden Mahnungen aus der Wissenschaft – allen voran von SPD-Gesundheitsexperte und Epidemiologe Karl Lauterbach: Wenn der Winter komme, wenn es kalt und nass werde, wenn die Menschen zurück in geschlossene Räume strömten – dann werde die Infektionsgefahr steigen.
So warnten Lauterbach aber auch Christian Drosten, der Frankfurter Virologe Stürmer und und und. Zuhören mochte man ihnen nicht. Dann kam das Ende der Sommerferien, und in den Nachbarländern Europas rollte eine zweite Coronawelle mit macht. Anfang September erreichte die Welle in Frankreich exponentielles Wachstum – und Lauterbach warnte, es sei nur eine Frage von wenigen Wochen, bis damit auch die Todesrate bei Älteren wieder steige: „Es nur eine Frage der Zeit, und nicht des ob, wann die Sterblichkeit wieder steigt“., betonte Lauterbach am 6. September, und das gelte auch für Deutschland: „Jeder, der denkt, das Coronavirus sei in Deutschland besiegt, täuscht sich.“
Es nützte nichts, Deutschland machte weiter, als wäre nichts – und die Infektionszahlen kletterten weiter. Trotzdem behaupteten Partypeople in Berlin und anderen Hotspots, man müsse unbedingt feiern gehen am Wochenende, „ich brauche das“, sagten junge Menschen in Fernsehkameras. 50. Geburtstage wurden in großem Stil gefeiert, Hochzeiten mit 200 Menschen, und das ohne Maske und Sicherheitsabstand – so wie eine marokkanische Hochzeit eines Wiesbadener Paars in Mainz-Mombach. Shisha-Bars wurden zu Corona-Hotspots und lösten erste tiefrote Zonen aus, so im September in der Studentenstadt Würzburg.
Ende September sprach Lauterbach offen und als einer der ersten von einem zweiten Lockdown – und wurde umgehend diffamiert und als „Panikmacher“ beschimpft. Dasselbe erlebten Medien und Virologen, die vor einer bevorstehenden zweiten Welle warnten. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte in einer Pressekonferenz, wenn das Land so weiter mache, werde man Weihnachten Infektionszahlen von 19.000 pro Tag haben – die Kanzlerin wurde ungläubig bestaunt, ihre Prognose weithin angezweifelt. Die Zahlen stiegen weiter und drehten in den exponentiellen Bereich. „Vor rund vier Wochen wurde mir noch „Panikmache“ vorgeworfen, weil ich genau die Corona-Infektionszahlen vorausgesagt haben, die wir nun haben“, merkte Lauterbach am 19. Oktober an.
Am 15. Oktober traf sich Merkel zum ersten Mal seit Wochen wieder mit den Regierungschefs der Länder, die Kanzlerin mahnte, bat, forderte, betonte: „es ist Schlag 12“, Deutschland sei bereits wieder im exponentiellen Anstieg, da gab es rund 5.000 Neuinfektionen pro Tag. Es nützte nichts: Die Länderchefs konnten sich nicht auf durchgreifende, einheitliche Maßnahmen einigen. Dabei war da längst klar: private Parties, aber eben auch die gestiegenen sozialen Kontakte sorgten für neue Infektionsketten. Die Gesundheitsämter warnten da bereits: man könne die Neuinfektionen nicht mehr nachverfolgen, und eine große Anzahl auch gar nicht mehr auf eine Quelle zurückverfolgen.
Bereits Mitte Oktober hatten Lauterbach und der Virologe Drosten deshalb auf eine neue Strategie hingewiesen: Zeitlich befristete Shutdowns zur Entschleunigung der zweiten Welle könne „eine sinnvolle Maßnahme sein“, schrieb Lauterbach dazu – das war am 25. Oktober. „Der alleinige Appell an die Bevölkerung, die AHAL-Regeln zu befolgen, reicht nicht mehr aus“, konstatierte Lauterbach – inzwischen war Deutschland bei mehr als 11.000 neuen Fällen pro Tag. Und Lauterbach warnte: „Zu viele Fälle übertragen das Coronavirus im Innenraum, daher muss die Zahl der Kontakte selbst sofort reduziert werden – sonst droht in wenigen Wochen harter Lockdown.“
Am Mittwoch einigten sich Bund und Länder genau darauf – unter massiver Kritik, vor allem die Gastronomiebranche geht seither auf die Barrikaden: Der Lockdown sei „unfair“ und treffe gerade die Branche, die in den vergangenen Monaten enorm viel in Hygienekonzepte und Sicherheit investiert habe, heißt es, die Dehoga Rheinland-Pfalz will gar gegen den Lockdown klagen. In der Branche explodiert förmlich der Frust, dabei haben viele Gastronomiebetriebe und gerade auch Hotels im Sommer mit starken Umsätzen Verluste aus dem Frühjahr aufholen können. „Wir stehen besser da als jemals zuvor“, war nicht nur eine einzelne Erfahrung von Restaurants oder Hotels in der Region – gesagt wird das allerdings nur hinter vorgehaltener Hand: Man will die Politik nicht aus der Verantwortung entlassen, der Branche zu helfen.
Tatsächlich aber profitierten viele Restaurants und Hotels vom Trend zum Urlaub in Deutschland, zum Genuss in Freien nach den Lockdown-Wochen, und von der Bereitschaft der Menschen, ihren Lieblingsgastronom vor Ort zu unterstützen. Nun hagelt es Proteste, man könne die Gastronomie doch jetzt nicht „bestrafen“, doch darum geht es überhaupt nicht: geschlossen werden schlicht alle Orte, an denen Menschen aufeinander treffen. „Wir müssen 75 Prozent unserer Kontakt reduzieren“, sagte Kanzlerin Merkel am Mittwoch. Wolle man nun Schulen und Kitas offen halten, ebenso die Geschäfte und die Wirtschaft, dann bleibe nur der Bereich Freizeit, Kultur und Sport.
Die Strategie dahinter heißt: Wellenbrecher-Lockdown, die Idee: ein befristeter Lockdown soll die Infektionsketten in der Bevölkerung unterbrechen, weil alle zuhause bleiben und dem Virus so den Verbreitungsraum entziehen. Wissenschaftliche Studien zeigten, „wie man mit geplanten Lockdown-Intervallen den R-Wert quasi brechen kann“, erklärte Lauterbach, „wenn man konsequent ist reichen zwei Wochen.“ Die Studien beruhen vor allem auf Erfahrungen aus Großbritannien und Israel: Auch in Israel explodierten die Infektionszahlen nach den Sommerferien und nach der Öffnung der Schulen – die Regierung verfügte einen zeitlich begrenzten vierwöchigen Lockdown, inzwischen sind die Neuinfektionen in Israel von 9.000 pro Tag auf 1.000 pro Tag gesunken.
Und Lauterbach ist nicht der einzige, der so etwas forderte: Auch Christian Drosten sprach sich für einen Kurz-Lockdown als „gute Idee“ aus, eine Gruppe hochkarätiger Wissenschaftler forderte in einem Strategiepapier eine drasstische Einschränkung der sozialen Kontakte: „Je früher und konsequenter alle Kontakte, die ohne die aktuell geltenden Hygiene- und Vorsichtsmaßnahmen stattfinden, eingeschränkt würden, desto kürzer könnten diese Beschränkungen sein“, heißt es in dem Papier auf der Homepage des Helmholtz-Instituts, das Papier ist eine gemeinsame Erklärung der Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Präsidenten von Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Leibniz-Gemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft und Nationaler Akademie der Wissenschaften Leopoldina.
Merkel betonte am Mittwoch, es gehe darum, Kontakte zu beschränken, denn die Nachverfolgung funktioniere vielerorts nicht mehr, Infektionsherde könnten nicht mehr identifiziert werden. „Die Kurve muss wieder abflachen, die Zahl der Neuinfektionen muss sich erst stabilisieren und dann weiter sinken“, sagte die Kanzlerin. Damit ist die Strategie des #flattenthecurve vom Frühjahr zurück, damals galt die Ansage: Kontakte reduzieren, Abstand halten und zuhause bleiben, um die Ansteckungsketten zu unterbrechen – die Maßnahmen funktionierten: Der Lockdown unterbrach nachweislich die exponentiell steigende Kurve, das Gesundheitssystem in Deutschland kam – im Gegensatz zu vielen Nachbarländern – nicht an seine Grenzen.
Für den kalten Herbst gilt das nun ganz genauso wieder: „Da jetzt die Zeit kommt, wo wir uns mehr drinnen aufhalten“, sei besonders wichtig, „die überragende Bedeutung der Aerosole zu beachten“, hatte Lauterbach schon Ende Ende September gewarnt – inzwischen weiß die Wissenschaft, dass das Sars-CoV-2 vor allem durch die Luft übertragen wird. Das Virus heftet sich an winzige Aerosole, Luftteilchen, an und reichert sich in Innenräumen an, die nicht gelüftet werden. Ein gerade erschienener Artikel in der englischen Ausgabe der spanischen El Pais zeigt eindrucksvoll, wie schnell: Schon nach einer Stunde steigt die Konzentration der Virus-belasteten Aerosole stark an, nach zwei Stunden sind Klassenräume stark infektiös, nach vier Stunden in ungelüfteten Räumen ist die Infektionsgefahr beinahe bei 100 Prozent.
Das gilt im Übrigen für ALLE Innenräume, für Klassenzimmer ebenso wie für private Wohnzimmer oder eben Bars und Restaurants. Besonders gefährlich seien Räume, in denen keine Maske getragen werde, warnt die Studie – in Restaurants ist gerade das logischerweise an den Tischen, an den gegessen wird, nicht der Fall. „Klassenzimmer, Restaurants, Bars werden ohne massives Lüften im Herbst die Plätze der Superspreader“, hatte Lauterbach auf der Grundlage solcher Studien bereits im September gewarnt.
Die Kritiker des Teil-Lockdowns im November wenden ein, Restaurants seien überhaupt keine Pandemietreiber, Infektionen dort nicht nachgewiesen – doch das stimmt so nicht: Gerade kurz nach den Sommerferien kam es zu mehreren Corona-Hotspots in verschiedenen Restaurants im Bundesgebiet, so unter anderem in der Wiesbadener Villa im Tal – und das, obwohl die Betreiber regelmäßig versicherten, sie hätten alle Hygieneregeln eingehalten. Auch die Gesundheitsämter stellten zumeist keine Verstöße fest – die Infektionen hatte es trotzdem gegeben.
Genau das ist das derzeitige Problem der Behörden: 75 Prozent der Neuinfektionen können nicht mehr zurückverfolgt werden, wo sie die Patienten angesteckt haben, ist schlicht nicht nachzuvollziehen. Als Ansteckungsorte kommen aber all die Plätze in Frage, wo sich Menschen auf engem Raum begegnen: Busse und Bahnen, Bars und Clubs, Restaurants und das heimische Wohnzimmer. Nur: Erfasst wird eben nicht, ob es dort zu Infektionen gekommen ist – entsprechend ungenau sind die Aussagen der Statistiker. So präsentierte das Robert-Koch-Institut vergangene Woche eine Grafik zu Ansteckungsorten, die darin aufgeführten Hauptansteckungsorte waren Arbeitsplatz, Alten- und Pflegeheime, der private Bereich – und zu gut einem Drittel der Bereich „Weitere“.
Die Grafik zeigt aber nur die tatsächlich erfassten und damit bekannten Ausbrüche von mehr als fünf Personen – ob es reale Infektionen im ÖPNV oder in Restaurants oder anderen öffentlichen Orten gibt, darüber können die Ämter keine Auskunft geben. Virologen kritisieren deshalb, die Politik hätte viel früher private Feiern deutlich drastischer einschränken, vielleicht auch mehr Kontaktsperren verhängen müssen – nun bleibe nichts anderes mehr übrig, als die Kontakte drastisch einzuschränken, soll die Welle noch gebrochen werden. Der Lockdown für alle Freizeit- und Kulturbereiche sowie für den Laiensport soll genau dazu dienen: zuhause zu bleiben, Kontakte zu reduzieren. „Bleiben Sie die nächsten vier Wochen einfach so gut es geht zuhause“, bat Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD).
Geschieht das nicht, so werde Deutschland spätestens an Weihnachten 50.000, vielleicht 80.000 Neuinfektionen am Tag haben, sagte Merkel – so berichteten es offenbar Wissenschaftler der Runde der Regierungschefs. Und tatsächlich war bei den Akteuren im Anschluss an die Konferenz eine neue Ernsthaftigkeit, ja eine große Betroffenheit an den Gesichtern abzulesen – was die Regierungschefs bei dem Treffen zu hören bekamen, hatte offenbar viele schockiert und wachgerüttelt. Stimmen Berichte, die im Netz kursieren, dann warnte ein Strategiepapier der Experten vor einem wahren „Dammbruch“ bei den Infektionen – und damit genau vor der „nationalen Katastrophenlage“, die die Kanzlerin in ihrer Pressekonferenz beschwor. Die betonte denn auch, die geltenden Hygienekonzepte seien gut, entfalteten aber „in der aktuellen Situation nicht mehr ausreichend Wirkung.“
Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) unterstrich am Donnerstag, der Lockdown sei „kein Vorwurf an die Gastronomie, im Gegenteil, die haben sich hervorragend eingestellt“, darum gehe es jetzt aber gar nicht mehr. „Es sind Kontakte, die dazu führen, dass es zu Infektionen kommt“, unterstrich auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Es gehe deshalb jetzt nicht mehr darum, in welchem Bereich Infektionen nachgewiesen seien und in welchem nicht – es gehe jetzt schlicht darum, Kontaktmöglichkeiten einzuschränken. „Die Lage ist ernst, auch wenn sich das noch nicht für jeden so anfühlt“, betonte Scholz: „Der November ist der Monat der Wahrheit.“
Info& auf Mainz&: Das Prinzip des #flattenthecurve und warum das so wichtig ist, warum es Leben rettet, könnt Ihr noch einmal hier bei Mainz& nachlesen. Die Ankündigungen der Bundeskanzlerin zum Wellenbrecher-Lockdown im November haben wir hier aufgeschrieben, unseren Bericht von der Pressekonferenz von Altmaier und Scholz zu den geplanten Finanzhilfen findet Ihr hier. Alle Zitate von Karl Lauterbach haben wir seinen Einträgen auf seinem Facebook-Profil entnommen, das Ihr hier findet. Das Stöbern darin lohnt sich: Lauterbach postet fast täglich aktuelle Studien rund um das Coronavirus. Die aktuelle Studie zur Ausbreitung von Aerosolen in geschlossenen Räumen mit einer fantastischen Aufarbeitung haben wir in der englischen Ausgabe der spanischen Zeitung El Pais gefunden – genau hier.