Es war ein Paukenschlag in der Geschichte von Mainz und ein kommunalpolitisches Erdbeben, als am 5. März 2023 das Ergebnis der Oberbürgermeister-Stichwahl feststand: Mit 63,3 Prozent hatten sich die Mainzer ausgerechnet für den parteilosen Kandidaten entschieden – den gerade 39 Jahre jungen Unternehmer Nino Haase. An diesem Freitag ist der inzwischen 40-Jährige genau 100 Tage im Amt. Was also hat sich getan im Staate Mainz? Merkt man etwas vom frischen Wind im Mainzer Stadthaus? Tatsächlich hat sich etwas spürbar verschoben im Machtgefüge von Mainz, das Mainzer Rad, es tickt nun anders – und es tickt schneller und moderner als zuvor. Eine Analyse von Mainz&-Chefredakteurin Gisela Kirschstein.
Nino Haase holt tief Luft – das hat er in den vergangenen 100 Tagen oft getan. An diesem Samstagnachmittag aber geht es darum, die Contenance zu behalten angesichts Hunderter schadenfroher Zuschauer und eines Zubers mit eiskaltem Wasser. Nino Haase steht am Mikrofon, der Oberbürgermeister von Mainz lobt die jungen Auszubildenden, die hier gerade auf offener Bühne vom „Schmutz“ der Lehrzeit freigewaschen werden – das Buchdrucker-Gautschen ist nicht nur eine große Gaudi und ein Highlight der Mainzer Johannisnacht, es ist auch ein uralter Brauch der Buchdrucker-Zunft.
Haase steht leger im Hemd mit offenem Kragen und leichter Sommerhose auf der Bühne, der Neue an der Stadtspitze tritt gerne leger auf – doch heute hat das noch einen tieferen Sinn: „Dass ich hier heute nicht im Anzug stehe, das war natürlich ein ganz großer Zufall…“, bekennt Haase. Es ist ein typischer Satz von ihm: leicht distanziert, voller Selbstironie und trotzdem randvoll mit Selbstbewusstsein. Denn natürlich weiß Haase ganz genau: Er ist der Ehren-Gautschling des Jahres, gleich wird er mit großem Hallo im eiskalten Zuber landen – und so kommt es dann auch: Sie tunken ihn tief, und noch einmal tiefer. „Eine große Ehre“, sagte Haase hinterher, und man sieht: Er meint es auch so.
Redner und Repräsentanz: guter Einstand
Seit genau 100 Tagen hat die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt Mainz einen neuen Stadtchef, und der ist so ziemlich das Gegenteil von seinem Vorgänger, dem Sozialdemokraten Michael Ebling. War der Jurist Ebling sein Leben lang hauptberuflicher SPD-Politiker mit Stationen als Ortsvorsteher, im Stadtrat, als Dezernent und schließlich als Staatssekretär in Landes-Ministerien, so kommt der studierte Chemiker Haase erst aus der Wissenschaft und dann aus der freien Wirtschaft ins Amt – ein Politik-Seiteneinsteiger, dazu auch noch unabhängig von jeglicher Partei.
Genügend Gegner unkten denn auch im Vorfeld: Haase könne doch ohne eine Partei im Rücken gar nichts bewirken, im Stadtrat werde er keinerlei Einfluss haben – und überhaupt: Von Verwaltung und der Leitung einer Großstadt habe der Neuling doch gar keine Ahnung. Die Wähler schreckte das nicht: Angewidert von jahrzehntelangem Geklüngel und einer SPD-Dominanz in Mainz, abgeschreckt aber auch von allzuoft Ideologie-gelenkter Politik der Grünen, setzten sie am 12. Februar und am 5. März auf Neuanfang – Haase zog mit dem sensationellen Ergebnis von 63,3 Prozent gegen seinen grünen Gegenkandidaten ins Mainzer Stadthaus ein.
An diesem Freitag sind es genau 100 Tage, seit Haase im Mainzer Stadtrat feierlich vereidigt und ihm die Amtskette umgelegt wurde. Doch was hat sich seither getan? Viele Mainzer werden „den Neuen“ vor allem in einer Form erlebt habe: als Redner bei irgendeinem Fest, irgendeiner Begrüßung, irgendeiner Einweihung. 50 Prozent seiner Termine machten repräsentative Aufgaben aus, bekannte Haase nun im Interview mit Mainz&.
830 Termine, klare Sprache – Upgrade für die Stadt?
Das Tempo und die Dichte waren enorm: 830 Termine habe er in den ersten 100 Tagen absolviert, berichtete Haase nun – der OB nur ein Grüßaugust? Der Eindruck täuscht gewaltig: Dass sich der Neue im Amt so viel getummelt hat, ist zunächst einmal ein gutes Zeichen. Haase bei der Einweihung einer Kita. Haase bei der Feuerwehr. Haase bei der Einweihung des neuen Rheinufers, beim Startschuss zum Gutenberg-Marathon, beim Straßenbahn-Jubiläum, bei der Mainzer Museumsnacht.
Klar, alle diese Termine hätte ein anderer OB vermutlich auch absolviert, doch bei Haase fällt auf: Er ist nicht einfach nur kurz da, spricht drei Sätze und verschwindet wieder. Der Neue interessiert sich, hört zu, fragt nach – bei der Einweihung der Kita in Zahlbach nimmt sich Haase weit mehr als eine Stunde Zeit, lässt sich durch die Kita führen, alle Stationen zeigen, fragt nach Erfahrungen und Problemen. Und: Wo immer Haase redet – er macht eine gute Figur. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Nicht jedem Politiker ist eine gute Performance in egal welcher Umgebung gegeben.
Überhaupt fällt am Ende der ersten 100 Tage auf: Es wird anders kommuniziert im Mainzer Stadthaus. Auf dem Facebook-Account der Stadt tummeln sich deutlich mehr fröhliche Menschen als vorher, die Sprache ist klarere und moderner geworden: Jetzt wird mit Slogans wie „Statt 0815. Stadt upgraden“ für neue Mitarbeiter in der IT geworben. Dass für Haase Mitarbeiterklima-Stärken keine leeren Floskeln waren, spürt man: Neun-Euro-Ticket für städtische Angestellte und gar Null-Euro-Ticket für Azubis – das sind Ansagen.
Modernere Kommunikation, ein Instagram-Kanal, pfiffige Reels
Auf dem neuen Instagram-Kanal der Stadt läuft nun eine Art digitale Sprechstunde mit dem neuen OB – „Q&A“ genannt -, die Mainzer Dezernenten, von denen man vorher oft monatelang nichts sah und hörte, stellen in kleinen Filmen aktuelle Projekte vor – professionell von einer eigens angeworbenen Mitarbeiterin in Szene gesetzt. Es gibt pfiffige Reels zum Schmunzeln und inhaltsreiche Interviews, Portraits von Mitarbeitern und die Vorstellung neuer Initiativen wie etwa der PART – Haase hat die Social Media-Kanäle fraglos in die Moderne gebeamt. Das ist nicht banal: Wer interessiert sich schon als Mitarbeiter, als Unternehmer oder als Einwohner für eine Stadt mit verstaubtem Image?
Und auch im Stadtrat weht – zögerlich noch, aber spürbar -, ein neues laues Lüftchen: Auf gleich zwei fraktionsübergreifende Anträge konnten sich Ampel-Fraktionen und CDU-Opposition in der vergangenen Sitzung einigen – wie das weiter geht, dürfte angesichts des heraufziehenden Kommunalwahlkampfes noch spannend werden. Ob sich der parteilose OB Haase mit seinen Anliegen im Rat durchsetzen kann – noch ist dieses Kapitel nicht geschrieben.
Tatsache ist: Den massiven Konflikt zwischen Oberbürgermeister Ebling und den Ortsbeiräten hat Haase leise und sehr schnell abgeräumt. Eine Obergrenze für Anfragen an die Stadt – kein Thema mehr. Das Budget wurde ebenfalls erhöht, der OB tourt durch die Beiräte, dieses Versprechen wäre schon mal eingelöst. Dazu gibt es keine Bürgerbeteiligung, bei der sich Haase nicht blicken ließ – zur ersten großen Probe dürfte derweil der Start für die Bürgerbeteiligung für ein neues Rheinufer werden, die kommenden Montag beginnt: Haase muss dann zeigen, ob er sich gegen das Umweltamt und die Phalanx der Grünen durchsetzen, und Bürgeranliegen verwirklichen kann – gleiches gilt für die Neugestaltung der Mombacher Straße.
Toiletten, Mülleimer, Marktfrühstück – plötzlich Schwung drin
Bislang passiert vieles vom neuen OB eher hinter den Kulissen: Dass in Mainz jetzt plötzlich größere Mülleimer die Jahrzehnte alten Mini-Eimer ersetzen werden, war durchaus eine Überraschung zum 100. Amtstag-Jubiläum. Im Nebensatz lässt Haase auf Instagram fallen: Das neue Toilettenkonzept kommt jetzt auch – bis Jahresende. Jahrelang druckste die Stadt in Sachen Marktfrühstück herum, weder größere Mülltonnen, noch eine vernünftige Organisation der Abfahrt der Marktbeschicker waren machbar – Haase hat sie einfach mal umgesetzt. Auch dass der Weinstand der Mainzer Winzer an den Fischtorplatz zurückkehrte – plötzlich ist so etwas eine Leichtigkeit.
Und Haase kann noch mehr zu seiner 100-Tage-Bilanz vorlegen: Photovoltaik auf großen Parkflächen – die konkrete Prüfung läuft. Autos von Anwohnern in Parkhäusern – die PMG muss ein Konzept liefern, Modellstraßen zur Erprobung wurden bereits definiert. Kostenloser ÖPNV an Samstagen – die Mainzer Mobilität soll ein Konzept vorlegen, in welchem Rhythmus man sich das vorstellen kann. Keine Frage: Im Mainzer Stadthaus sind auf einmal Schwung und Zug drin, es weht durchaus ein frischer Wind durch die Korridore – und manch Dezernent strahlt auf einmal die Freude am Amt aus den Knopflöchern, als hätte man ihn frisch gewaschen und neu gebügelt.
Das neue Tempo im Mainzer Stadthaus kommt indes nicht überall gut an: Dass Haase am Donnerstag flugs ein Programm für Kita-Personal+ vorstellt, die Vorlage dazu aber erst einen Tag vor einer Gremiensitzung auf dem Tisch liegt, nahmen die Ampel-Fraktionen SPD, Grüne und FDP gleich mal zum Anlass für einen Querschläger Richtung OB: Man brauche angemessene Vorlaufzeit im demokratischen Gremienverlauf, klagten die Fraktionschefs – dabei hatten sie just im vergangenen Stadtrat selbst einen Antrag zum exakt gleichen Thema gestellt.
Das Mainzer Rad dreht sich jetzt schneller
So mancher wird sich wohl in den kommenden Jahren umstellen müssen – der neue OB gedenkt nicht alles so zu machen, wie es bislang war. Beim Protokoll der Stadt gibt es jetzt wohl öfters mal Ohnmachtsanfälle: Wenn der neue OB nämlich bei offiziellen Terminen wie bei beim Empfang des belgischen Botschafters im Mai die Amtskette trägt – ohne Krawatte am Hemdkragen. Schlimmer dürfte da wohl ein anderer Neulings-Fauxpas sein: „Jedes Mal, wenn ich Johannisfest statt Johannisnacht sage, fällt im Amt für Öffentlichkeit jemand in Ohnmacht“, bekannte Haase bei der Fest-Eröffnung.
Ja, viele Fragen und Themen sind weiter offen: Mehr Grün in der Stadt und der Umbau der Mobilität, vor allem das Rüsten der Stadt für den Klimawandel – und beim Heizungsgesetz kommt in Sachen kommunale Wärmeplanung auch noch ein Mammutprojekt auf Mainz zu. Doch Tatsache ist auch: Haase hat gerade einmal 100 Tage hinter sich – aber noch 2.920 Tage seiner Amtszeit vor sich. Gegenwind wird nicht auf sich warten lassen, die erste Schonzeit ist mit den ersten 100 Tagen traditionell vorbei – und die Herausforderungen kommen noch.
Doch klar ist auch jetzt schon: Diesen OB kann man zwar auf ein schlingerndes Karussell setzen oder in einen eiskalten Zuber tunken – die Butter vom Brot nehmen, lässt er sich nicht. Die Wohnbau-Geschäftsführer haben das schon gemerkt: Statt zwei neuen vorzeitigen Geschäftsführern, bekam das stadtnahe Unternehmen erst mal nur einen neuen Chef – und eine Belehrung in Sachen ordnungsgemäßer Unternehmensführung gleich obendrauzf. „Wir halten uns jetzt an unsere Corporate Governance Richtlinien“, sagt Haase trocken. Das wäre in der Tat eine Zeitenwende für das goldige Mainz.
Info& auf Mainz&: Das Mainz&-Interview zu 100 Tage OB Nino Haase lest Ihr hier auf Mainz&.