05Stell Dir vor, es ist Lockdown – und niemanden interessiert es so richtig. Seit dem 2. November ist Deutschland erneut im Lockdown, und auch wenn es „nur“ ein Teil-Lockdown ist, die Maßnahmen sind gravierend: Restaurants und Cafés zu, Kultureinrichtungen und Museen geschlossen, Weihnachtsmärkte und Feste abgesagt. Die Zahl der Corona-Neuinfektionen sinkt dennoch nicht, Deutschland hat die Kurve in eine Seitwärtsbewegung abgeflacht, die Zahl der Kranken auf den Intensivstationen aber steigt weiter dramatisch. Weiter geöffnete Schulen, viel zu wenig Homeoffice, aber vor allem eine gefährliche Laissez Faire-Haltung: Sechs Gründe, warum die Corona-Zahlen nicht sinken – und Deutschland in einen gefährlichen Winter taumelt. Die Mainz&-Analyse zur Halbzeit des Teil-Lockdowns.

Mahnt, warnt und fordert, doch dringt immer weniger durch: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). - Screenshot: gik
Mahnt, warnt und fordert, doch dringt immer weniger durch: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). – Screenshot: gik

Die Kanzlerin war präzise wie immer: „Wir müssen jetzt unserer Kontakte einschränken“, sagte Angela Merkel, die Lage sei hochernst, dem Gesundheitssystem drohe der Kollaps. Die Kanzlerin sprach – und niemand schien mehr zuzuhören. Im zweiten Lockdown im November herrscht eine völlig andere Stimmung als im Frühjahr: Als weigere sich die Republik, zum Ernst der Lage zurückzukehren, herrscht in weiten Teilen Business as Usual – mit starken Ermüdungserscheinungen als Nebenwirkung.

Grund 1: Business (fast) as Usual in der Wirtschaft

Ein Grund, über den derzeit praktisch niemand redet: Im Gegensatz zum Frühjahr wurde die Wirtschaft im Großen und Ganzen nicht heruntergefahren. Das ist einerseits gut, dauerte es nach dem Frühjahrs-Lockdown doch Wochen, bis Wirtschaftsabläufe, Produktionsprozesse und Warenzyklen wieder in Gang kamen, die Schäden gingen in die Milliarden. Im November hingegen wird in Fabriken weiter gewerkelt und in vielen Büros weiter vor Ort geschafft, als wäre nichts passiert – nur ein geringer Teil der Arbeitnehmer dürfte aktuell wieder ins Homeoffice geschickt worden sein.

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Virologe Alexander Kekulé vergangene Woche bei Markus Land im ZDF. - Screenshot: gik
Virologe Alexander Kekulé vergangene Woche bei Markus Land im ZDF. – Screenshot: gik

Stattdessen wird noch immer in geschlossenen Räumen getagt und gearbeitet, und nicht immer wird dabei strikt Maske getragen. „Am Arbeitsplatz gibt es noch ganz unterschiedliche Interpretationen der Empfehlungen“, kritisierte vergangenen Donnerstag der Virologe Alexander Kekulé in der Talkshow „Lanz“: „Hätten wir dann eine ganz einfach OP-Maske auf, würden die Infektionen drastisch herunter gehen.“

Ein Hauptansteckungsort, räumte jüngst beinahe verschämt das Robert-Koch-Institut ein, sei derzeit der Arbeitsplatz. Geredet wird darüber nicht, die Politik schweigt dazu – die Gewerkschaften ebenso. Im Frühjahr gab es die dringende Aufforderung, die Arbeitnehmer ins Homeoffice zu schicken, im November redet darüber niemand mehr – obwohl Deutschland gerade den Lockdown in den Dezember verlängern musste, weil die Zahlen eben nicht sinken wie erhofft.

Grund 2: Nahverkehr, Deutsche Bahn, Abstand und Maskenpflicht

Volle Büros und Arbeit as usual, das heißt auch: volle Busse, Bahnen und S-Bahnen. Abstand halten ist so gut wie unmöglich, wenn sich eine große Menge Fahrgäste auf engstem Raum bewegt – ideale Bedingungen für die Ausbreitung des Coronavirus. Auch wenn die Fahrzeuge regelmäßig gereinigt und desinfiziert werden: zwischen den Reinigungen kann sich das Virus in den engen und oft dampfigen Räumen wunderbar ausbreiten. Virologen betonen immer wieder: geschlossene Räume mit vielen Menschen, und die noch dicht an dicht, das bedeute unweigerlich hohe Corona-Infektionsgefahr – und zwar egal, um welchen Raum es sich handelt. „Diese Krankheit breitet sich aus, wenn mehrere Personen in einem Raum sind, und nicht alle haben eine Maske an“, sagte Kekulé bei „Lanz“ knapp.

Busse rollen normal in Coronazeiten, Fahrgäste drängen sich, als wäre alles normal. - Foto: gik
Busse rollen normal in Coronazeiten, Fahrgäste drängen sich, als wäre alles normal. – Foto: gik

Bislang spielt der ÖPNV in der Statistik der Ansteckungen jedoch kaum eine Rolle, doch das liegt nicht daran, dass es dort keine Ansteckungen gäbe: Ansteckungen im ÖPNV werden schlicht so gut wie nicht erfasst. „Wir wissen darüber praktisch nichts“, sagte Dietmar Hoffmann, Leiter des Gesundheitsamtes Mainz-Bingen, kürzlich auf Mainz&-Nachfrage – es gebe kaum Studien oder Erkenntnisse dazu. Viele Neuinfizierte im Herbst 2020 wissen zudem überhaupt nicht mehr, wo sie sich angesteckt haben, die Nachverfolger stochern im Nebel, die Ansteckungsorte verschwinden darin. Nicht anzunehmen indes, dass der ÖPNV eine komplette Ausnahme von der Regel der geschlossenen Räume bildet.

Straßenbahnfahren in Corona-Zeiten: Abstand ist Glückssache. - Foto: gik
Straßenbahnfahren in Corona-Zeiten: Abstand ist Glückssache. – Foto: gik

Die Maskenpflicht im ÖPNV hingegen wird kaum kontrolliert, Bußgelder verhängen dürfen nur Polizei und Ordnungsamt – erst zum Januar 2021 will etwa der Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) eine Vertragsstrafe von 50,- Euro bei Verletzungen durch die Maskenpflicht einführen, erst dann dürfen Kontrolleure auch Strafen gegen Maskenmuffel verhängen. Die Deutsche Bahn beschloss gerade jetzt erst, Ende November, eine veränderte Reservierungspraxis, bei der jeder zweite Sitz frei bleiben soll – schlappe neun Monate nach Beginn der Pandemie.

In den Flugzeugen dürfen die Passagiere dagegen immer noch dicht an dicht sitzen – und zum Essen wird die Maske selbstverständlich abgenommen. Den Beteuerungen der Luftfahrtbranche, die Flugzeuge seien sicher, wird einfach geglaubt. Immerhin gibt es dort umfangreiche Lüftungssysteme – im Gegensatz zu Schulen und Kitas.

Grund 3: Schulen und Kitas sind weiter offen

„Wer sich jetzt noch gruppenweise stundenlang immer wieder in kleinen Räumen trifft, der ist entweder ein unbelehrbarer Kontaktverbotssaboteur, der von der Polizei belangt werden kann“, schrieb der Spiegel jüngst zum Thema Schulen: „Oder er ist Schüler.“ 25 bis 30 Kinder in kleinen Räumen, in Deutschland ist das Normalzustand. Die Maskenpflicht in Schulen gilt nicht in allen Bundesländern und nicht für alle Klassen, Lüftungssysteme sind Mangelware – stattdessen heißt die offizielle Abordnung: Fenster auf. Im November 2020 gibt es in deutschen Schulen in der großen Mehrheit weder intelligenten Lüftungssysteme noch Luftreiniger – neun Monate nach Beginn der Corona-Pandemie. Lehrer und Schulleiter treibt deshalb massiv die Angst vor Ansteckungen um.

Corona-Konzept à la deutscher Politik - aufgespießt von Ralf Böhme. - Copyright RABEE Cartoon
Corona-Konzept à la deutscher Politik – aufgespießt von Ralf Böhme. – Copyright RABEE Cartoon

Praktisch jede Woche müsse sie neue Infektionen unter Schülern oder Lehrern managen, erzählte eine Schulleiterin jüngst gegenüber Mainz&. Absprachen mit dem Gesundheitsamt, Quarantäneanordnungen weitergeben, Kinder abbestellen oder in die Schule beordern – jedes Wochenende gingen dafür Stunden drauf. Seit Wochen drängen Schulleiter, Lehrer und Gewerkschaften deshalb bei den Kultusministern für flexiblere Regeln und vor allem geteilte Klassen, viele wünschen sich tageweise oder wochenweise Wechselunterricht für die jeweils halbe Klasse. Es gebe viele Modelle in den Schubladen, betonen die Schulleiter – umgesetzt werden dürfen sie nicht.

Das Mantra der Kultusminister heißt indes: „Die Schulen bleiben offen“, doch die Beteuerungen wirken zunehmend weltfremd. Dass das Robert-Koch-Institut in seinen Empfehlungen Wechselunterricht und halbierte Klassen ab einer Inzidenz von 50 vorsieht – darüber mag kein Politiker mehr reden. „Schulen sind kein Pandemietreiber“, wehren sie ab, der Satz ist richtig und falsch zugleich: Bei den älteren Jahrgängen, den 14-Jährigen und älter, seien die Jugendlichen genauso ansteckend wie Erwachsene, betonte Kekulé.

Fortdert hartnäckig bessere Corona-Konzepte ein: Der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. - Screenshot: gik
Fortdert hartnäckig bessere Corona-Konzepte ein: Der Epidemiologe und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. – Screenshot: gik

Auch eine Hamburger Studie ergab nun: Vier von fünf Schülern steckten sich außerhalb der Schulen mit dem Coronavirus an – 22 Prozent aber sehr wohl auch in den Schulen. Das spricht dafür, dass viele gute Hygienekonzepte greifen, es macht aber auch deutlich: Ein Hort jenseits von Ansteckungen sind Schulen eben auch nicht. Eine Studie von Kinderärzten zeige, dass in jeder 3. Schulklasse etwa ein Kind positiv sei, sagt SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Das wiederum bedeute: In jeder 3. Klasse könnte es zu #Superspreading kommen, so dass sich dort viele Kinder infizierten, plus Lehrer und Eltern.

„Schließt die Studie das aus? Nein. Ist es wahrscheinlich? Ja, zwar nicht in jeder 3. Klasse, aber in einigen“, schreibt der Epidemiologe auf seinem Facebook-Account. Das wisse man, weil internationale Studien bereits Superspreading in Schulen nachgewiesen hätten, zudem entspreche es der typischen Ausbreitung des Coronavirus in Innenräumen. Lauterbach plädiert deshalb für Masken im Unterricht sowie für geteilte Klassen und intensive Testungen, das sei doch besser, „als im Blindflug die baldige Schließung ganzer Schulen zu riskieren.“ Und auch Kekulé kritisierte: „Nein, wir haben nicht die richtige Schulstrategie, wir hätten die Strategie gebraucht, wo immer es geht, Wechselunterricht zu machen.“

Grund 4: Nimmt die Politik die Pandemie eigentlich ernst?

Womit wir bei der Politik selbst wären. Seit Wochen senden Politiker völlig gemischte Botschaften, in vielen Fällen fragt man sich inzwischen: Nehmen die Politiker selbst eigentlich noch ihren Lockdown ernst? Im Super-Corona-Hotspot Mainz finden trotz 200er-Inzidenzen in der Landespolitik ebenso wie auf der Ebene der Stadt Pressekonferenzen weiter in Präsenzform statt. Im Mainzer Landtag tagen die Ausschüsse zumindest zum Großteil digital – die Stadt Mainz verweigert das trotz mannigfaltiger Forderungen immer noch.

Der Mainzer Stadtrat in seiner September-Sitzung in der Halle 45: Abstand und Masken werden überbewertet... - Foto: gik
Der Mainzer Stadtrat in seiner September-Sitzung in der Halle 45: Abstand und Masken werden überbewertet… – Foto: gik

30 Leute hätten sich jüngst in einem Raum zu einem Ausschuss gedrängt, klagten die Kommunalpolitiker der Fraktion Piraten & Volt – bei der Stadt Mainz sieht man derweil noch immer ungeklärte rechtliche Probleme, obwohl das Land längst den Weg für Online-Sitzungen von Gremien frei gemacht hat, rechtliche Einordnung inklusive. In Sinzig im Hunsrück wollte der Stadtrat vergangene Woche mit seinen 30 Stadträten komplett digital tagen – Haushaltsverabschiedung inklusive.

Schon legendär ist das Heutejournal-Interview von Claus Kleber mit dem nordrhein-westfälischen Familienminister Joachim Stamp (FDP), in dem Kleber den FDP-Mann gleich dreifach beim Reden von realitätsfremdem Unsinn überführte – ansehen könnt Ihr das hier auf Facebook. Eins ums andere Mal sendet die Politik  widersprüchliche Botschaften, noch am Tag, als die Kanzlerin den November-Lockdown verkündete, räumten nicht wenige Politiker ein: Ach, dass es so schlimm kommen werde mit den exponentiell nach oben schießenden zahlen, das habe man ja gar nicht gedacht. Viele Bürger reagierten geschockt, kein Wunder, hatte die Politik doch wochenlang nichts getan oder beschwichtigt.

Konferenz des Bundes mit den Ministerpräsidenten der Länder: Oft steht am Ende eine Kakophonie. - Foto: Bundesregierung
Konferenz des Bundes mit den Ministerpräsidenten der Länder: Oft steht am Ende eine Kakophonie. – Foto: Bundesregierung

Am 16. November 2020 dann konnte man das Schauspiel betrachten, dass binnen nicht einmal einer Stunde drei Regierungschefs nach der vergeigten Bund-Länder-Konferenz völlig unterschiedliche Botschaften verbreiteten: „Wir treffen heute keine Entscheidungen“, betonte Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) nach dem Treffen. „Wir haben für eine Zwischenbilanz einen guten Beschluss gefasst“, sagte die Kanzlerin kurz darauf in ihrer Pressekonferenz. Man habe lange geredet und sich auf einen Appell geeinigt, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) kurz darauf, und fügte dann noch hinzu: „Der Appell ist echt ernst gemeint.“

Wie der Bürger eine Politik ernst nehmen soll, die eine – wie es so schön heißt – „Kakophonie“ der divergierenden Botschaften verbreitet – unklar. Dazu trägt auch bei: Die hohe Politik in Berlin verspricht derweil einen „Wumms“ für die Wirtschaft nach dem anderen, doch bei vielen vor Ort kommen die Hilfen gar nicht oder nur schleppend an: Die November-Hilfen man erst seit dem 26. November beantragen, die Corona-Hilfen ließen die meisten Solo-Selbstständigen und Künstler im Regen stehen, weil dem Bundeswirtschaftsminister nicht beizubringen ist, wie Selbstständige sich finanzieren. Der Schwung, mit dem die Politik in den ersten Wochen der Pandemie agierte – er scheint völlig verpufft.

Ausbreitung des Coronavirus in einer Bar ohne Sicherheitsmaßnahmen wie Masken oder Lüften. - Quelle: El Pais, Screenshot: gik
Ausbreitung des Coronavirus in einer Bar ohne Sicherheitsmaßnahmen wie Masken oder Lüften. – Quelle: El Pais, Screenshot: gik

„Was haben die Politiker eigentlich den ganzen Sommer über getan“, fragten sich nicht wenige Lehrer und Eltern im Herbst: Eine Vorsorge wegen überfüllter Schulbusse? Fehlanzeige. Lüften in Schulen? Nicht vorbereitet. Die versprochenen Lehrerlaptops oder andere digitale Ausrüstung: in den meisten Schulen bislang nicht angekommen. Gerade in diesen Zahlen explodieren erneut Infektionen in gleich zwei großen Flüchtlingseinrichtungen in Rheinland-Pfalz, dazu in Pflegeheimen und Altenheimen – Vorsorge-Konzepte, Schnelltests, genügend Masken, Deutschland ist bei diesen Themen kaum einen Schritt weiter als im Frühjahr.

Der Höhepunkt der Verweigerungshaltung war bei den Ministerpräsidenten selbst zu beobachten. Gleich zweimal ließen die Länderchefs Kanzlerin Merkel mit ihren Warnungen vor steigenden Zahlen und dem Wunsch nach schärferen Maßnahmen abblitzen, beide Male mussten die Länderchefs hinterher feststellen: die Maßnahmen wären dringend nötig gewesen. Stattdessen wird permanent weiter wichtige Zeit bei der Bekämpfung der Pandemie verschenkt, auch, weil die Politik ausstrahlt, es sei schon alles nicht so schlimm.

Grund 5: Nehmen die Bürger die Pandemie eigentlich noch ernst?

Und so kommt es, wie es kommen muss: Bei den Bürgern sinkt die Durchhaltemoral. Wenn Politik so ein Chaos verbreitet, sich Maßnahmen schneller ändern, als man sie sich merken kann, und die Politik mit einer gewissen Nonchalance voran geht – wieso sollte der Bürger sich dann kasteien? Und so machten viele im Spätsommer und Herbst noch fröhlich Party, als die Kanzlerin verzweifelt versuchte, die Republik zur Raison zu rufen. Das Bitte-Bitte der Politik verhallte bei zu vielen ungehört. In Supermärkten drängen sich die Einkaufenden dicht an dicht vorbei, Abstand an der Kasse muss erst wieder eingefordert werden – das Bewusstsein der Pandemie schwindet. Deutschland zuckte mit den Schultern.

Der Tanz auf dem Corona-Vulkan scheint immer noch viel zu vielen richtig Spaß zu machen - glossiert by Ralf Böhme. - Copyright: RABE Cartoon
Der Tanz auf dem Corona-Vulkan scheint immer noch viel zu vielen richtig Spaß zu machen – glossiert by Ralf Böhme. – Copyright: RABE Cartoon

Natürlich: Gut 80 Prozent der Deutschen stehen hinter den Corona-Maßnahmen, ein unglaublich großer Teil übt Verzicht und nimmt Entbehrungen auf sich, steckt zurück, besucht nicht die Großeltern, achtet auf Masken, Abstand und Kontaktregeln. Doch die Oberfläche ist dünn, die Fassade reißt schnell: Vergangenes Wochenende boten findige Mainzer Gastronome in der Innenstadt „Glühwein to go“ an, und was passierte? Sofort bildeten sich Grüppchen fröhlich trinkender Menschen im geselligen Beisammensein – Corona? Kontaktbeschränkungen?

In Saarbrücken musste die Polizei gerade erst vor einigen Tagen eine illegale Privatparty in einer Shisha-Bar auflösen, die Teilnehmer verschanzten sich hinter verschlossenen Türen und Fenstern, bis die Polizei eine Tür aufbrach. Am ersten Tag der Maskenpflicht in der Mainzer Innenstadt war mindestens die Hälfte der Passanten ohne Maske unterwegs – aus Gleichgültigkeit, Uninformiertheit oder gar aus Blockadehaltung. Was auch immer es ist: Deutschland schwankt zwischen Müdigkeit, Abwehrhaltung und einem offenbar massiv grassierenden Egoismus.

Coronaleugner und Maskenverweigerer bei einer Kundgebung am Mainzer Rheinufer Ende Oktober 2020. - Video: SWR, Screenshot: gik
Coronaleugner und Maskenverweigerer bei einer Kundgebung am Mainzer Rheinufer Ende Oktober 2020. – Video: SWR, Screenshot: gik

Derweil verharren die Neuinfektionen mit dem Coronavirus hartnäckig weiter über 20.000 pro Tag, mit 350 bis 450 Personen sterben pro Tag so viele Menschen wie nie zuvor in Deutschland an den Folgen einer Covid-19-Erkrankung – die Super-Hotspots entwickeln sich vor allem dort, wo Coronaleugner und Maskenverweigerern in großer Mehrheit zuhause sind.  Wer aber die Maskenpflicht als „Freiheitsberaubung“ verunglimpft, hat schlicht nicht verstanden, dass es hier nicht (nur) um seine Person geht, sondern darum, sich solidarisch gegenseitig zu schützen.

Wo im Frühjahr Virologen und Wissenschaftler die Schlagzeilen und Interviews beherrschten, dreht sich heute die öffentliche Debatte permanent um die, die sich gegen Vernunft, Wissenschaft und Demokratie positionieren – das ist auch ein gravierendes Versäumnis vieler (nicht aller!) Medien.

Grund 6: Die Nicht-Sanktionen durch den Staat

Mehrere Tausend Menschen durften in den vergangenen Wochen durch Berlin ziehen, oder durch Leipzig, Ende Oktober trafen sich auch ein paar Hundert am Mainzer Rheinufer: Die Coronaleugner ignorierten Maskenpflicht und Abstandsgebote, und damit sowohl geltende Rechte als auch Demonstrationsauflagen. Trotzdem durften sie ungehindert von der Polizei, ja sogar eskortiert von den Beamten, durch die Städte ziehen – und das über Stunden (!) hinweg. Sanktionen? Nein, Busgelder habe man an die Teilnehmer nicht verteilt, räumte nun die Mainzer Ordnungsdezernentin Manuela Matz (CDU) ein, wie solle das auch gehen?

Corona-Leuugner-Demo am 18.11.2020 in Berlin im Regierungsviertel,. fotografiert von Karl Lauterbach, gepostet auf Facebook. - Screenshot: gik
Corona-Leuugner-Demo am 18.11.2020 in Berlin im Regierungsviertel,. fotografiert von Karl Lauterbach, gepostet auf Facebook. – Screenshot: gik

Als im August einige Hundert Menschen in Ingelheim friedlich gegen einen rechten Aufmarsch demonstrieren wollten, fanden sie sich gleich nach ihrer Ankunft in einem Polizeikessel wieder – wohlgemerkt: Ohne auch nur irgendeine Straftat oder Verstoß begangen zu haben. Über Stunden hinweg wurden 250 Menschen einfach mal festgehalten, wer raus wollte, musste seine Personalien angeben – bei 150 meist rechten Coronaleugnern ist so etwas natürlich nicht möglich.

Der Bürger lernt: Verstöße gegen Coronaregeln werden ganz offenbar nicht sanktioniert, ob in Bussen und Bahnen, ob in Restaurants oder eben auf Demonstrationen. Egoismus und Rücksichtslosigkeiten setzen sich durch – auf dem Rücken all derer, die sich strikt an die Regeln halten und auf Freunde, Familie und Feiern verzichten, oft genug unter hohen Einbußen für ihre Lebensqualität. Aber anstatt Konsequenz zu zeigen, anstatt offen zu kommunizieren, anstatt die Bürger bei ihrer Ehre zu packen, wie es die Kanzlerin so erfolgreich im Frühjahr tat, schweigt die Politik nun und lässt den Bürger mit der Not allein – ein kurzes „Wir müssen die Kontakte weiter senken“, muss reichen.

Genau so untergräbt man Moral und Durchhaltevermögen, vermittelt das Gefühl, die Menschen im Stich zu lassen – und droht nur noch einfallslos damit, den Lockdown ins Unendliche zu verlängern. „Zeigen wir Menschen weiter, was in uns steckt“, lautete die Überschrift des Wochenend-Podcasts von Bundeskanzlerin Merkel diesen Samstag. Es steht zu befürchten, dass Deutschland genau das gerade tut.

Kurve der Coronavirus-Infektionen im weltweiten Vergleich, Stand 26.11.2020. - Screenshot: gik
Kurve der Coronavirus-Infektionen im weltweiten Vergleich, Stand 26.11.2020. – Screenshot: gik

Und so steht denn auch Europa im internationalen Vergleich mitnichten so gut da, wie man es in Berlin gerne postuliert: Nach den USA verzeichnet die Corona-Pandemie ihre höchsten Werte genau auf dem europäischen Kontinent – ganz weit entfernt von den niedrigen Zahlen in Australien, Asien und Afrika. Gerade im asiatischen Raum wird erheblich strikter mit Einreisebeschränkungen, Infektionsnachverfolgungen und Schutzmaßnahmen reagiert, Warn-Apps warnen dort tatsächlich – und wirklich jeder trägt eine Maske. Maßnahmen, die man auch in Deutschland umsetzen könnte – wenn man denn wollte. Mehr zum Vergleich Deutschland – Asien lest Ihr zum Beispiel hier auf heute.de.

Info& auf Mainz&: Natürlich wollen wir nicht einfach nur schwarzmalen – es gibt Hoffnung am Horizont, insbesondere durch den jüngst entwickelten Impfstoff der Mainzer Firma Biontech – mehr dazu lest ihr hier. Ein jüngstes Beispiel für die Corona-Krisenkommunikation der Politik könnt Ihr hier auf Mainz& lesen.

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