Die Verlierer der Wahl hatten ihre Erklärung schnell beieinander: Das sei ein „Rechtsruck“ in Deutschland, konstatierte Linksparteichefin Janine Wissler, und auch die Innenministerin stimmte ein: „Wir erleben einen Rechtsruck“, klagte Nancy Faeser, Spitzenkandidatin der SPD in Hessen, die gerade ihr Waterloo erlebt hatte. Echt jetzt? Rechtsruck? Die SPD-Spitzenfrau beschimpfte damit ihre eigenen Wähler, die gerade in Scharen abgewandert waren – zur AfD. Erlebt Deutschland wirklich „einen Rechtsruck“, oder geht es nicht viel mehr um etwas völlig anderes: Um eine Politik „nah bei de‘ Leut“ oder, um es mit Tarek Al-Wazir zu sagen: „Kümmern wir uns“ – um Vernunft um Problemlösungen im Politikbetrieb. Der Mainz&-Leitartikel zur Hessenwahl 2023.

"Auf die Fresse“ - so nannten die Mainzer Narren einst einen Motivwagen in der Fastnacht, damals kippte SPD-Chefin Andrea Nahles aus viel zu großen Latschen... - Foto: gik
„Auf die Fresse“ – so nannten die Mainzer Narren einst einen Motivwagen in der Fastnacht, damals kippte SPD-Chefin Andrea Nahles aus viel zu großen Latschen… – Foto: gik

Die Ampel-Parteien haben am Sonntagabend bei den Wahlen in Hessen und Bayern ein Debakel erlebt – allen voran die Kanzlerpartei SPD: Grüne, SPD und FDP, sie alle wurden gleichermaßen vom Wähler abgestraft. In Hessen liegen SPD und Grüne nahezu gleichauf, und in schöner Eintracht nur noch irgendwo bei 15 oder 16 Prozent. In Bayern rangiert die Partei von Bundeskanzler Olaf Scholz gar noch gerade einmal bei 8 oder 9 Prozent. Einstellig. Unter Ferner-Liefen. Weitgehend unwählbar für den Wähler in Bayern.

Die Liberalen wiederum müssen in Hessen um den Wiedereinzug in den Landtag bangen, in Bayern sind sie schon hochkant herausgeflogen. Braucht keiner, sagt der Wähler. Weiß niemand mehr so genau, wofür die stehen. Und auch die Grünen müssen kräftig Federn lassen: In Bayern behaupten sie sich noch bei um die 15 Prozent, in Hessen werden es nicht mehr – allen Blütenträumen vom Ministerpräsidentenamt des Spitzenkandidaten Tarek Al-Wazir zum Trotz. Die CDU hingegen triumphiert im Land der Mitte: Boris Rhein führt seine Partei auf satte 34,5 Prozent und verzeichnet Zugewinne von 7 bis 8 Prozentpunkten – das gab’s zuletzt kaum noch.

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„Stil, Stabilität und sanfter Erneuerung“ – ein Rechtsruck?

Und der alte und wohl auch noch neue Regierungschef brachte die Formel seines Erfolges elegant auf den Punkt: Die Hessen hätten „Stil, Stabilität und sanfte Erneuerung gewählt“, sagte Rhein – das soll ein Rechtsruck sein? Da ist es wieder, dieses alte Totschlagwort: die „bösen Rechten“ kommen. Eine dunkle Wolke überzieht das Land, ein drohender Sturm, finstere Zeiten, sicher verbunden mit Intoleranz, Ausgrenzung, gell? Die sind doch eh‘ alle „gegen Ausländer.“ Wie sinn-entleert doch diese alten Parolen im hohlen Raum der Ideologieschmieden verhallen – der Bürger schüttelt längst den Kopf und ist gegangen.

Hochrechnung zur Hessenwahl am Sonntagabend im ZDF. - Grafik: ZDF
Hochrechnung zur Hessenwahl am Sonntagabend im ZDF. – Grafik: ZDF

Die Realität trägt am Sonntagabend blau und wird mit 16 bis 17 Prozent zweitstärkste Kraft in den Parlamenten. Ja, das Abschneiden der AfD schockierte viele – überraschen hätte es indes niemanden dürfen: Seit Wochen explodierten die Umfragewerte der AfD, und zwar komplett parallel in dem Maße, wie die Unzufriedenheit mit der Ampel-Regierung in Berlin stieg.

Angefangen hat alles mit dem Heizungsgesetz: Die völlige Ignoranz des Berliner Politik-Raumschiffes gegenüber den Realitäten im Lande zeigte sich hier so deutlich wie nie zuvor. Mit einem Handstreich deutschen Hausbesitzern Öl- und Gasheizungen verbieten, stattdessen horrend teure Wärmepumpen als Alternativen um die Ohren hauen – das musste schief gehen. Bis heute präsentieren SPD und Grüne keinerlei Lösungen für den dringend notwendigen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen im Heizungssektor.

Ignoranz statt Lösungen: Heizungen, Migration, Wohnungsfrage

Gerade konnte man das wieder wunderbar in Mainz beobachten, bei der Präsentation des „Wärmemasterplans“: Achselzucken statt Lösungen – aber die forsche Ankündigung, das Gasheizungsnetz stilllegen zu wollen. Wer so mit 60 Prozent der Hausbesitzer umgeht, muss sich nicht wundern, wenn sich die Menschen in Scharen abwenden. Und die Ignoranz der Regierenden geht ja munter weiter: Es gebe eine „Riesen-Migrationskrise“, klagte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, aber ausgerechnet der Kanzler und seine SPD verweigerten sich jeder Lösung.

Wichtigste Probleme der Hessen bei der Wahl 2023, Umfrage: Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF. - Grafik: ZDF
Wichtigste Probleme der Hessen bei der Wahl 2023, Umfrage: Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF. – Grafik: ZDF

Linnemann traf damit den Nagel auf den Kopf: Ausgerechnet Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schwebte durch den Wahlkampf in Hessen, ohne auch nur einen einzigen Lösungsvorschlag für das Riesenproblem der Flüchtlingsunterbringung in den Kommunen zu machen – die Ministerin verweigerte sich schlicht jeglicher Lösungssuche. Politikwissenschaftler Karl Rudolf Korte warf ihr gar live im ZDF Arroganz bei der Wortwahl und abgehobene Kommunikation vor: Faeser habe nicht einmal in Ansätzen Lösungsmodelle bei der Frage der Aufnahme von Flüchtlingen präsentiert, klagte Korte.

Dabei gibt es geradezu einen Aufstand an der Basis, vergeht kein Tag, wo sich nicht irgendein Bürgermeister oder Landrat zu Wort meldet – egal, ob von SPD, CDU oder Grünen. Die Botschaft ist immer dieselbe: Wir können nicht mehr. Wir haben keine Wohnungen, keine Kitas, schlicht keine Betten mehr, wissen nicht, wohin mit den Menschen, die Ihr uns zuweist! Rechtsruck? Oder vielleicht schlicht: Realitätscheck?

Rechtsruck? Realitätscheck!

Das Problem dabei: Die Hilferufe werden seit Monaten ignoriert, weggewischt – gerne auch mit pauschalen Angriffen wie: Ach, das sei doch die CDU, die wolle „sowieso keine Flüchtlinge“. Was so falsch ist, wie dumm: Auch die CDU will längst Einwanderung, und auch „linke“ Politiker längst einen Stopp der Flüchtlingszahlen. Vor Monaten stand Deutschland vor einem Problem, jetzt steht das Land mitten in einer handfesten Krise – und die Politik in Berlin: schweigt.

Politikexperte und Wahlforscher Karl Rudolf Korte im ZDF-Wahlstudio. - Screenshot: gik
Politikexperte und Wahlforscher Karl Rudolf Korte im ZDF-Wahlstudio. – Screenshot: gik

Das zu konstatieren, hat indes nichts mit „rechts“ oder „links“ zu tun – sondern schlicht mit Realität und dem Hinschauen vor Ort. Dass dies nicht passiert, ist genau der Grund, warum Wähler in Scharen zu Populisten abwandern – in diesem Fall: zur AfD. Denn die werde von den Wählern nicht länger als rechtsextreme Partei wahrgenommen, analysierte Korte messerscharf – sondern als alternative Protestpartei. Das gilt auch für Rheinland-Pfalz, wenn die nächsten Wahlen kommen: Auch hier ist immer öfter der Satz zu hören, man werde jetzt AfD wählen, es reiche mit den Altparteien – die hörten einfach nicht zu.

„Viele Menschen fühlen sich nicht aufgehoben, und nicht verstanden“, konstatierte denn auch Korte am Abend im ZDF-Wahlstudio: Es gehe nicht darum, ob „man gegen Fremdheit ist“, sondern „wie man von der Politik behandelt wird“ – ein arrogantes, abgewandtes Verhalten führe „zu Staatsversagen und Staatsfrust“.

Wer wandert zur AfD? Wähler von SPD, FDP und Linken

Driftet Deutschland jetzt also ab in den Rechtsextremismus? Die Analyse der Wählerwanderung des Hessischen Rundfunks am Sonntagabend ergab: Es waren vor allem Wähler der SPD (20.000), der FDP (18.000) und der Linkspartei (10.000), die sich enttäuscht der AfD zuwandten – auch von den Grünen wanderten rund 7.000 Stimmen zur AfD. Glaubt denn wirklich irgendjemand, dass alle diese Wähler über Nacht zu Rechtsextremen geworden sind? Sozialdemokraten – sogar Linke?

Wählerwanderung zur AfD bei der Hessenwahl 2023 laut ARD-Analyse: Vor allem Zustrom aus den Ampel-Parteien. - Screenshot: gik
Wählerwanderung zur AfD bei der Hessenwahl 2023 laut ARD-Analyse: Vor allem Zustrom aus den Ampel-Parteien. – Screenshot: gik

Natürlich nicht: Die AfD sammelt rund 35.000 Stimmen von den Ampel-Parteien, weil die AfD den Urnengang zu einer „Denkzettel-Wahl für die Ampel“ stilisiert hat. Von den Wählern habe doch gar keiner das Wahlprogramm der AfD gelesen, klagte eine junge Hessen-Wählerin am Abend im Fernsehen. Das stimmt vermutlich – wie für alle anderen Parteien auch. Es kommt nicht mehr an auf Wahlinhalte und Wahlprogramme, denn der Wähler hat bitter gelernt: Nach der Wahl hält sowieso keiner, was er vor der Wahl versprochen hat. Dann regiert die Realität und die Macht des Faktischen – in Zeiten von Krisen und Kriegen sowieso.

Der Wähler ist nicht dumm, und er sieht ziemlich klar – was er will, ist deshalb gar nicht so schwer, und eigentlich auch ziemlich einfach: Er will gehört werden. Er will eine Regierung, die den Menschen das Gefühl gibt, sie löst die Probleme, die anstehen. Nicht ideologisch, nicht weltfremd, sondern pragmatisch-zupackend. Oder, wie Boris Rhein es am Sonntagabend sagte: „Wir sind bei den Menschen vor Ort und hören uns ihre Nöte an – nicht weg sein, sondern da sein.“

Das Prinzip „Nah bei de Leut'“, der Kümmerer, der Anpacker

Das hörte sich nicht aus Zufall an wie das „Nah bei de Leut'“ des früheren SPD-Ministerpräsidenten Kurt Beck. Der Rheinland-Pfälzer hatte das „Sich Kümmern“ verinnerlicht wie kaum ein anderer, er regierte damit höchst erfolgreich 16 Jahre lang. Auch Boris Rhein wurde nun als „präsidialer Kümmerer“ beschrieben. Was lehrt uns das? Es kommt im Kern nicht mehr darauf an, ob ein Politiker von der SPD ist oder von der CDU – es kommt darauf an, ob er sich kümmert. Ob ihm die Menschen egal sind, oder er ihnen zuhört, ob er anpackt und Probleme löst – oder ob ihm Machterhalt und Parteiräson wichtiger sind.

Hatte am Abend gut Strahlen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) ist der klare Wahlsieger in Hessen. - Screenshot: gik
Hatte am Abend gut Strahlen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) ist der klare Wahlsieger in Hessen. – Screenshot: gik

Boris Rhein muss das mit dem Probleme-Lösen noch beweisen, fünf Jahre hat er jetzt dazu Zeit. Nancy Faeser wiederum hat gerade bewiesen, wie weit sie sich von den Menschen im Land entfernt hat: Am Sonntag klagte die Bundesinnenministerin allen Ernstes, man habe doch in Hessen die Regierung stellen wollen. Mehr Realitätsferne geht wohl nicht – Faeser reiht sich ein in eine wachsende Riege abgehobener Sozialdemokraten, die den Geist und die Nöte im Lande nicht im Ansatz begriffen haben – in Mainz war das im Frühjahr bei der Wahl des neuen Oberbürgermeisters zu besichtigen.

In Rheinland-Pfalz findet im Juni 2024 die nächste Kommunalwahl statt, es wird genau darum dann gehen: Wer kümmert sich um die Probleme der Menschen, wer packt an, um Lösungen zu realisieren – und wer schwafelt mit Ideologie von Weltverbesserung oder „Kampf gegen Rechts“ an der Realität der Menschen vorbei. Man muss es so hart sagen, denn manch eine Partei hat das noch immer nicht begriffen. In Hessen ließ sich das am Sonntag bei der Linken beobachten: Statt sich zu fragen, warum linke Lösungen überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden, klagte man über den ominösen „Rechtsruck“.

„Wir brauchen Vernunft und Problemlösungen“

Das ist billig und kurzsichtig, das hat der Wähler im Lande nicht verdient: Er fordert Lösungen, nicht Beschimpfungen – und all die Abgewanderten jetzt als „Rechte“ zu diffamieren, wird nicht helfen. Da passte es ziemlich genau ins Bild, dass die Gruppierung „Hessen gegen Rechts“ am Samstag zur „spontanen Wahlabenddemo am 09. Oktober“ aufrief – für den Fall, dass die AfD „mit mehr als als 5 Prozent in den Landtag einziehen sollte.“ Wahlabend war am 8. Oktober, und die AfD kommt, Stand 23.00 Uhr, auf 18,4 Prozent.

Wahlplakat des grünen Wirtschaftsministers Tarek Al-Wazir in Hessen: "Kümmern wir uns." - Grafik: Grüne Hessen
Wahlplakat des grünen Wirtschaftsministers Tarek Al-Wazir in Hessen: „Kümmern wir uns.“ – Grafik: Grüne Hessen

Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte – und wer zu lange Realitäten verweigert, den bestraft eben der Wähler. Wer ideologie-getrieben und realitätsfern beim Heizen, beim Verkehr, bei der Frage von Einfamilienhäusern und in so vielen anderen Dingen des Alltags agiert, wird die Menschen verlieren – einer, der das bereits verstanden hat, ist ausgerechnet ein Grüner: „Ich glaube, dass es eine Lehre gibt aus diesem Wahlkampf“, sagte Tarek Al-Wazir am Sonntagabend, immerhin seit zehn Jahren stellvertretender Ministerpräsident in Hessen

„Wenn wir als Demokraten nicht gemeinsam arbeiten mit Vernunft und Haltung an der Lösung von Problemen, sondern uns wechselseitig mit Häme überziehen – dann gewinnen nur die Rechtsextremen“, konstatierte Al-Wazir. Nicht Populismus, Polemik und Fakenews brächten die Republik weiter und – das schwang bei Al-Wazir mit: die Wählerquoten der AfD wieder zum Sinken – sondern schlicht dies: „Wir müssen an Lösungen arbeiten – wir brauchen Vernunft und Problemlösungen.“

Wer das jetzt noch „Rechtsruck“ nennen möchte – bitteschön.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Ausgang der Hessenwahl sam t Analyse des Abschneidens der verschiedenen Parteien lest Ihr hier bei Mainz&.