Rund 600 Menschen haben es an diesem kalten Donnerstagabend schon ihn die Pyramide in Mainz geschafft, etwa 40 stehen noch draußen und hoffen auf Einlass: Der Andrang zum Wahlkampfauftritt von Christian Lindner ist groß. Es sind beileibe nicht alles FDP-Fans, die machen maximal 20 Prozent aus, nein: Viele Mainzer wollen den FDP-Chef einfach mal live erleben. Der liefert einen Rundumschlag zur Krise in Deutschland, zum Ansehensverlust in der Außenpolitik, zu mangelhafter Führung und zu grünen Politik-Experimenten. Lindner teilt dabei ordentlich aus, vor allem gegen SPD und Grüne. Sein Mantra: Vieles muss sich ändern – und „mit der FDP ist am 23. Februar zu rechnen“.
„Es ist ein unfassbar tolles Bild“, staunt David Dietz, Direktkandidat der FDP für die Bundestagswahl in Mainz. Dietz steht auf der kleinen Bühne der Pyramide, einer Mainzer Eventlocation, und blickt in den proppevollen Saal. Rund 700 Menschen werden es am Ende sein, die an diesem Donnerstagabend Christian Lindner sehen und hören wollen – mit so viel Andrang hatte dann doch niemand gerechnet. Seit Wochen suggerieren Umfragen und mediales Trommelfeuer, die Liberalen seien am Ende, die FDP schon aus dem Parlament geflogen – das Interesse an diesem Abend sagt etwas anderes.
Und die Liberalen wollen die Chance nutzen: „Für alle die eine echte Wirtschaftswende wollen“, hebt Dietz an – für alle, die mit ihren Einnahmen nicht nur die Sozialversicherungssysteme füttern wollten, die jungen Menschen einen Finanzaufbau mittels Aktienfonds ermöglichen wollten, „Herzlich Willkommen bei den Freien Demokraten!“ Die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Carina Konrad bläst ins gleiche Horn: Mit den Grünen in der Regierung habe sich „eine naive Staatsgläubigkeit Bahn gebrochen, die wir uns nicht mehr leisten können“, ruft sie in den Saal: „Genau so, wie unsere Sicherheit Priorität haben muss, muss Leistung wieder eine Priorität haben -Leistung muss sich wieder lohnen!“
Mantra: Leistung, Bürokratieabbau, wirtschaftliche Stärke
Es ist das Mantra der Liberalen an diesem Abend und in diesem Wahlkampf: Leistung müsse sich wieder lohnen, die Wirtschaft brauche Befreiung von bürokratischen Fesseln, Deutschland endlich eine anständig gesteuerte Zuwanderung – und Hemmnisse aus dem Bereich Klimaschutz müssen weg. Genau so ruft es Konrad in den Saal, etwa beim Bundesumweltamt: Das habe sich zu einer Behörde entwickelt, „die Umweltschutz blockiert“, behauptet Konrad: „Deshalb stellen wir das Umweltbundesamt in Frage – das kann weg!“
Der Applaus hält sich in Grenzen, das ist an diesem Abend häufig der Fall: Viele sind gekommen, um einfach mal zuzuhören, um den Mann live zu erleben, der am 6. November 2024 so rüde von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aus der Bundesregierung gefeuert wurde, und dem Scholz „mangelnde sittliche Reife“ vorwarf. Wie sehr das Erlebnis bis heute in Lindner brodelt, das zeigt der Abend deutlich: Der FDP-Chef spart nicht mit ironischen Attacken gegen seinen Ex-Chef im Kanzleramt, lässt kein gutes Haar an Scholz‘ Politik und geißelt dessen mangelnde Führungsstärke.
Deutschland stehe „auf der Kippe“, nicht nur bei der Wirtschaft, sondern auch beim internationalen Ansehen, betont Lindner. „Deutschland hat sich angewöhnt, auf der Weltbühne belehrend aufzutreten“, kritisiert er, Deutsche würden inzwischen belächelt, weil sie nicht einmal mehr sagen könnten, welche Interessen man vertrete. „Unsere geopolitische Stärke gründete immer in unserer wirtschaftlichen Stärke“, betont Lindner: „Wir müssen dafür sorgen, dass Europa endlich wieder mit einer Stimme spricht, dann werden wir respektiert – aber nur dann.“
Lindner: „Olaf Scholz ist kein Beispiel für sittliche Reife“
Olaf Scholz aber wirft er indirekt vor, in mehr als einer Hinsicht versagt zu haben – erst Recht in Sachen Ukraine. Viele andere Länder schauten auf Deutschland, „aber wie geht Bundeskanzler Olaf Scholz mit dieser Führungsverantwortung um?“, fragt Lindner rhetorisch: Der Kanzler habe „aus Wahlkampfgründen“ eine Debatte aufgemacht, bei der er die Unterstützung für die Ukraine gegen angeblich Kürzung bei Rentnern auszuspielen suche. „Damit ist Olaf Scholz kein Beispiel für sittliche Reife“, ätzt Lindner, „wer so agiert, der verliert den Führungsanspruch für unser Land.“
Scholz schlage allein aus Wahlkampfgründen Wohltaten vor, kritisiert Lindner weiter, das erinnere ihn an die Kamelle im Karneval, an „kleine Geschenke, mit denen man populär wird.“ Der Unterschied sein indes: „Der Prinz Karneval nimmt für die Kamelle keinen Kredit auf“, sagte Lindner: „Mit Kamelle kann man die Bundesrepublik Deutschland nicht führen – aber die Schuldenbremse ist Ihre Versicherung gegen Politiker, die kurzfristig Geschenke verteilen, um im Wahlkampf populär zu werden – und die Sie hinterher selbst bezahlen müssen.“
Noch härter geht Lindner mit den Grünen ins Gericht: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wirft er vor, einfach nicht lernfähig zu sein. Immer wieder habe er versucht, Habeck die Steuermechanismen bei Kapitalgesellschaften und Unternehmen zu erklären, „ich habe versagt“, bekennt Lindner ironisch. Aber Habeck setze sich in eine Talkshow, „haut mal was raus, um an den Reaktionen zu lernen, was er eigentlich gesagt hat“, ätzt Lindner: „Das ist eine Art experimenteller Zugang zu Politik.“
Lindner über Habeck: „Eine Art experimenteller Zugang zu Politik“
Die Grünen wollten diejenigen bremsen und belasten, die sich mit ihrem Ersparten am Kapitalmarkt eine eigene Altersvorsorge aufbauen wollten, kritisiert Lindner. Sie wollten eine Bürgerversicherung für alle, die „zu einer Staatsmedizin“ führen werde, zu sinkender Qualität und zur Abschaffung der Wahlfreiheit – auch bei der Arztwahl, behauptet Lindner. Die Grünen wollten mit staatlichen Subventionen bestimmen, wie die Wirtschaft sich zu entwickeln habe, das funktioniere aber nicht, sagt Lindner – siehe E-Autos, siehe grüner Stahl, siehe Lieferkettengesetz. „Gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht“, sagt Lindner.
Inhaltlich ähnelt der FDP-Spitzenkandidat dabei in Vielem, was auch CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz nur einen Tag zuvor in Mainz beim Jahresempfang der Wirtschaft sagte. Auch Lindner geißelt Debatten um Work-Life-Balance und Vier-Tage-Woche, um die Abschaffung des Leistungsprinzips bei den Bundesjugendspielen. „Man hat noch niemals eine Gesellschaft dabei beobachtet, ihren Wohlstand zu verteidigen, indem sie weniger arbeitet“, sagt Lindner: „Und auch Arbeit ist nicht die lästige Unterbrechung der Freizeit – sie macht Sinn, sie schafft Teilhabe.“
Aber Lindner ist oft schärfer und stellenweise auch bitterer, als der CDU-Chef, man merkt: Seine Erfahrungen mit der Berliner Ampel haben ihn gezeichnet. „Ich bin nicht dafür, dass Robert Habeck sein Zerstörungswerk fortsetzen darf“, sagt er an einer Stelle. Deutschland könne sich „die grüne Ideologie“ nicht länger leisten, „wir leisten uns einen weltweiten Sonderweg in der Klima- und Umweltpolitik, für den wir nicht geachtet, sondern bespöttelt werden“, kritisiert Lindner. Deutschland verschrotte Technologien, die es noch brauche und nehme die weltweit modernsten Kohlekraftwerke vom Netz.
Abschaffung Soli, Verschlankung des Staatsapparats, Kinderbetreuung
„Unser Ziel darf nicht sein, 2050 eine verarmte Wirtschaftsnation zu sein“, fordert Lindner. Es brauche CO2-Speichermethoden, bessere Nutzung von Wasserkraft und ein Nachdenken über kleine, modulare Atomkraftwerke, wie sie Tech-Unternehmen in den USA zur Energieversorgung für ihre Datenbankzentren planten. Und für Lindners Satz, „den Verbrenner können wir noch lange nutzen“, gibt es spontanen und einen der lautesten Beifallsrunden des Abends.
Die FDP-Pläne fürs Land reißt Lindner nur grob an: Abschaffung des Solis, den ohnehin nur noch Unternehmen zahlen, Steuerreform und Anhebung der zu versteuernden Mindesteinkommensgrenze um 1.000 Euro. Einen grundlegenden Wechsel in der Migrationspolitik, Bürokratieabbau und eine Reform des Bürgergeldes, wie es auch die CDU will. Das meiste davon sei „finanzierbar allein durch die Verschlankung des Staatsapparats“, sagt Lindner – und die Stärkung einer qualitativ guten Kinderbetreuung auch auf dem Land, auch das sei „Teil einer Wirtschaftsförderung.“ Da spricht dann auch der werdende Vater – der 46 Jahre alte Lindner und seine Frau Franca Lehfeldt erwarten im März ihr erstes Kind.
An der AfD hingegen lässt Lindner kein gutes Haar: Die sei eine wirtschaftsfeindliche und generell „eine gefährliche Partei“, ruft er: „Die AfD ist gerade keine bürgerliche Alternative.“ Er sei fest überzeugt, von den derzeit rund 20 Prozent AfD-Wählern könne man „viele zurückholen“ durch „eine gelingende Wirtschaftswende, durch die glaubhafte Perspektive einer wirklichen Migrationswende, durch eine Politik, die die Menschen wieder Ernst nimmt“, sagt Lindner, und betont: „Man darf eine Wählerseele niemals aufgeben.“
Ruppiger Wahlkampf: „Hat jemand eine Torte dabei?“
Ja, der Wahlkampf sei „besonders ruppig“, sagt Lindner – er selbst hatte das persönlich erfahren, als ihn bei einem Wahlkampfauftritt im Norden eine Linken-Politikerin mit einer Torte bewarf. Auch in der Mainzer Pyramide tummeln sich ein paar nach Punk aussehende junge Leute, Lindner geht einfach in die Offensive: „Können wir gewisse Sachen gleich erledigen?“ fragt er: „Hat jemand eine Torte dabei?“ In Mainz bleibt es ruhig, eine Stunde und 20 Minuten lang, hören die Besucher Lindner konzentriert zu, auch bei seinen manchmal langatmigen Ausführungen.
„Wir schreiben: Alles lässt sich ändern“, sagt Lindner zum Schluss noch, damit meine die FDP die Regierung, die Politik des Landes. „Aber es gibt Dinge, die dürfen sich nicht ändern“, betont Lindner zugleich: „Der liberale Charakter unserer Demokratie – der darf sich nicht ändern, der muss bleiben.“ Und dabei komme es entscheidend auf die FDP an, betont Lindner: Selbst ein SPD-Urgestein wie EX-Parteichef Sigmar Gabriel halte ein liberales Gegenwicht im Parlament für erforderlich, berichtet Lindner – Gabriel hatte genau das in einer Talkshow bei Markus Lanz gesagt.
Im Interview mit der Internetzeitung Mainz& sagte Lindner denn auch, er sehe derzeit „ein Momentum“ zugunsten der FDP – und ein Einzug der FDP in den Bundestag verhindere automatisch eine schwarz-grüne Mehrheit. „Wenn wir es schaffen, eine Politik zu machen, die Menschen nicht bevormundet, sondern sie als Erwachsene mit ihrer Verantwortung und Freiheit ernst nimmt“, sagte Lindner im Mainz&-Interview, „ich glaube, dann kann man viele Menschen von der AfD wieder in die politische Mitte holen.“ Aber die Demokratie müsse nun „liefern, weil die Menschen sonst in die Versuchung geraten, sich eine Alternative zur Demokratie zu suchen – oder eine alternative Demokratie“, warnt Lindner noch: „Jetzt ist die Zeit, sich zum Liberalismus zu bekennen.“
Info& auf Mainz&: Das ganze Interview mit Christian Lindner lest Ihr hier auf Mainz&. Alles zur Bundestagwahl in Mainz findet Ihr in unserem Mainz&-Dossier genau hier – auch zu den Auftritten der Kanzlerkandidaten von CDU und Grünen.