Der Andrang war gigantisch: Zwischen 3.000 und 4.000 Menschen wollten am Sonntagnachmittag Robert Habeck in Mainz sehen. Der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister von den Grünen hatte einen Wahlkampfauftritt im Alten Postlager am Mainzer Hauptbahnhof, die Schlange der Interessierten reichte bis auf die Hochstraße. In seiner Rede beschwor „Küchentischkanzler“ Habeck dann den Kampf gegen Populismus und für Freiheit und Demokratie. Beim Thema Wirtschaft blieb der Wirtschaftsminister allerdings reichlich vage, die Ukraine und die Sicherheitspolitik kamen gar nicht erst vor.
„Wir sind überwältigt – Herzlich Willkommen Ihr Vielen“, begrüßte Thorsten Becherer, Direktkandidat der Grünen in Mainz, am Sonntagnachmittag die Gäste im Alten Postlager. Da war es bereits 15.00 Uhr, aber vor der Tür standen noch immer Tausende Menschen Schlange: Der Wahlkampfauftritt des grünen Vizekanzlers und Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck wurde förmlich überrannt. Vor der Tür des Postlagers am Mainzer Hauptbahnhof bildeten sich derart lange Zuschauerschlangen, dass sie bis auf die Mombacher Hochstraße hinaufreichten: Rund 4.000 Interessierte wollten nach Angaben der Grünen den Auftritt des „Kanzlerkandidaten“ Habeck sehen.
„Wir hatten mit 500 gerechnet“, bekannte Becherer denn auch – dabei hätten die Grünen wissen können, dass das nicht ausreichen würde: Praktisch überall stößt der grüne Kanzlerkandidat auf größtes Interesse, seine Auftritt: mehr als ausverkauft. Am Ende schafften es nach Veranstalterangaben 1.500 Zuschauer in die Halle, während noch einmal doppelt so viele vor der Tür bleiben mussten. Mit einer halben Stunde Verspätung konnte es dann losgehen – zunächst mit Reden von Becherer sowie der rheinland-pfälzischen Spitzenkandidatin Misbah Khan.
Das Haus Deutschland bröckelt – Chefbaumeister Robert Habeck?
Khan zeichnete in ihrer kurzen Rede das Bild eines „Hauses Deutschland“: „Das Dach ist undicht, die Wände bröckeln, und es gibt einen blau-braunen Schimmel, der für uns alle gefährlich ist“, beschrieb Khan den Zustand der Republik – ungeachtet der Tatsache, dass die Grünen die vergangenen drei Jahre in der Berliner Ampel mitregiert haben. Die Schuld für den miesen Zustand gab Khan indes der Schuldenbremse und denen, die auf ihre Einhaltung pochen – es war einer der Konfliktpunkte, an denen die Berliner Ampel im November 2024 zerbrach.
„Was machen wir jetzt mit diesem Haus? Kettensäge?“, fragte Khan rhetorisch in die Halle, und forderte: „Lasst uns das Haus gemeinsam sanieren!“ Der Chefbauherr des neuen Hauses soll nach dem Willen der Grünen natürlich ihr Spitzenkandidat Robert Habeck sein, und der wurde bereits bei seinem Einzug in die Halle über einen Balkon frenetisch gefeiert. Viele Anhänger der Grünen waren gekommen, Habeck zuzujubeln und verehrerisch zu feiern. „Ist ja auch Sonntag“, sagte süffisant eine Zuschauerin im Publikum.
Robert Habeck schritt da noch vor der Tür die Schlange der Wartenden ab und entschuldigte sich, dass so viele keinen Einlass mehr fanden. „Wir hätten die Rheingoldhalle mieten sollen“, stöhnte Becherer, und begrüßte Habeck gleich mal als „den beliebtesten Kanzlerkandidaten Deutschlands“. Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit: Zwar erreichte Habeck im ARD-Deutschlandtrend gerade den besten Zustimmungswert bei der Frage „Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit von…?“, aber auch hier lag Habeck bei der Zustimmung gerade einmal bei 28 Prozent.
Habeck in den Umfragen als Kanzlerkandidat dicht hinter Merz
Im ZDF-Politbarometer erhält Habeck derzeit genauso viel Zustimmung wie CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz – und der CDU-Mann liegt bei der Frage „Wen hätten Sie lieber als Bundeskanzler“ mit 44 Prozent vor Habeck, der im Direktvergleich auf 41 Prozent kommt. Zudem hat CDU-Kandidat Merz die deutlich besseren Chancen auf den Job als Bundeskanzler, denn in der Sonntagsfrage liegt die CDU derzeit bei 30 Prozent, die Grünen aber nur bei 15 Prozent – ein Prozentpunkt vor der SPD, aber hinter der AfD mit 21 Prozent.
Habeck lässt sich davon nicht beirren, sein Kernthema in Mainz ist indes nicht die Wirtschaftspolitik, nicht einmal die Friedens- und Außenpolitik, auch nicht die Klimakrise – es ist der Kampf gegen Populismus und für die Demokratie. Das große Interesse der Besucher deutet er um als „dieses Interesse für die Sache, für die Politik, für unsere Partei vielleicht, ganz sicher aber für die Demokratie“, und betont: „Es kommt zur rechten Zeit.“
Denn nicht die Frage, wie Deutschland bis 2035 klimaneutral wird, nicht die Frage, wie die Ukraine mehr Unterstützung bekommt und Deutschland wieder verteidigungsfähig wird, nicht einmal die Frage, wie die deutsche Wirtschaft wieder in Schwung kommen kann ist, was Robert Habeck umtreibt – nein: Es ist das Thema Freiheit und Demokratie.
Habecks Wirtschafts-Bilanz: Krise, Insolvenzen, Arbeitsplatzverluste
Dabei war schließlich Robert Habeck die vergangenen drei Jahre Wirtschaftsminister dieses Landes, drei Jahre, in denen die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich abrutschte, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Zahl der Insolvenzen: auf dem Höchststand. Die Summe der Investitionen in der Wirtschaft: so niedrig, wie lange nicht mehr. In Deutschland geht die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes um, 320.000 Menschen verloren 2024 allein durch Insolvenzen ihren Arbeitsplatz. Schaeffler und Bosch, Continental und Thyssen Krupp, BASF, Ford, und Volkswagen – sie allen planen Arbeitsplatzstreichungen im Zehntausenderbereich, durch die Krise der Autobauer drohen Werksschließungen und Verluste weiterer Hunderttausender Jobs in der Industrie.
Vom amtierenden Wirtschaftsminister der Bundesrepublik dazu: kein Wort. „Die Wirtschaft muss wachsen – das ist in letzter Zeit ein bisschen in Vergessenheit geraten“, sagt Habeck lediglich in wolkiger Form, und betont: „Wir haben zu wenig für Wettbewerbsfähigkeit getan.“ Doch damit meint der grüne Minister nicht etwa sich selbst, Nein: „Die Unternehmen haben nicht genug investiert in das Neue, das Herausfordernde“, behauptet der Minister – Belege dafür bleibt er schuldig.
Stattdessen kritisiert Habeck die CDU, und behauptet, wer Steuern senke, kreiere lediglich „hohe Mitnahmeeffekte, und zwar hohe Mitnahmeeffekte für die Reichen.“ Es gebe keine Garantie, dass Unternehmen die Senkungen auch wieder reinvestierten – da zeigt sich das Bild der Grünen von der Wirtschaft: Zwar redet Habeck von der „Selbstbestimmung“ im Lande, für die Unternehmen will aber er die Regeln bestimmen – und die „zeitgemäß anpassen.“ Das heißt bei Habeck vor allem: „Wir müssen die Investitionsbremse Schuldenbremse neu denken und flexibilisieren.“
Küchentischkanzler Habeck: „Klimaschutz ist Freiheitschutz“
Konkreter wird es nicht, Veränderung sei eben „harte Arbeit“, sagt Habeck, und behauptet, die Alternative sei doch dies: „Geben wir die Klimaschutzziele auf – genau das wird Deutschland jetzt wieder angeboten, das ist zwar folgerichtig, aber falsch – oder stellen wir uns der Debatte?“ Er selbst werde „nicht aufhören, für unsere Ziele zu kämpfen“, ruft Habeck unter viel Beifall in den Saal, denn es gehe doch „nicht um den Schutz des Klimas, es geht um uns, es geht um unser Leben, um menschenwürdiges Leben, es geht um Freiheit! Klimaschutz ist Freiheitsschutz, diesen Schutz sollten wir nicht aufgeben!“
Kritik an seiner eigenen Politik? Fehlanzeige: „Lassen Sie mich zu einem Schmerzpunkt kommen: dem Heizungsgesetz“, sagt Habeck – nur, um dann wortreich und wolkig zu begründen, warum es eben doch gewesen richtig sei, jetzt anzufangen mit der Heizungstransformation. Dass das Heizungsgesetz in weiten Teilen der Bevölkerung zu Entsetzen führte, zu völliger Verunsicherung, einem drastischen Anstieg beim Kauf von Öl- und Gasheizungen und vielfach zu einem Abwenden der Menschen von grüner Politik – bei Habeck kein Thema. Fehler haben immer andere gemacht, das Ende der Globalisierung hat die Märkte gekappt, bei den Wettbewerbsbedingungen im eigenen Land wurde „geschludert“, die billige Energie „wurde uns genommen“.
Stattdessen verbreitet Habeck die Botschaft: „Die Menschen müssen Teil haben am Wohlstand des Landes“ – wie er das erreichen will, sagt er nicht. Er wolle zuhören, betont Habeck, das Label „Küchentischkanzler“ sieht er nicht als Kritik, „sondern es wäre mir eine Ehre“ – schließlich sei der Küchentisch „der politischste Ort der Republik.“ Gehört habe er dort viel von den realen Problemen im Land, dem Problem, eine bezahlbare Wohnung zu finden, dem Problem der hohen Mietnebenkosten, der Angst um den Arbeitsplatz. Lösungen hat der Wirtschaftsminister dafür keine im Gepäck.
„Haben den Strom sauber gemacht, jetzt machen wir ihn günstig“
Nur an einem Punkt präsentiert Habeck einen Vorschlag: „Wir haben in der Vergangenheit Strom staatlich teurer gemacht“, räumt er ein, das sei richtig in Zeiten von Kohlekraftwerken gewesen. Jetzt aber lieferten die Erneuerbaren Energien bereits bis zu 60 Prozent des Stroms im Lande, jetzt sei es richtig, Steuern und Netzentgelte zu senken. „Wir haben den Strom sauber gemacht, jetzt machen wir ihn günstig“, ruft Habeck in den Saal, und verspricht eine Senkung von bis zu 400 Euro pro Haushalt. Und wo er gerade bei Versprechungen ist, schiebt Habeck schnell noch den Wahlprogramm-Punkt hinterher, nach der die Grünen den Führerschein-Erwerb für junge Menschen subventionieren wollen.
Dass gleichzeitig seine grünen Parteifreunde in den Städten der Republik gerade alles tun, Autos zu verdrängen oder gar zu verteufeln – darüber redet der Vizekanzler nicht. Dass der Führerscheinzuschuss von 1.000 Euro nur für Azubis gelten soll, und nur dann, wenn der Arbeitgeber auch etwas drauflegt – auch diese Feinheiten bleiben in Mainz unerwähnt. In den vergangenen Jahren, seit Ende der „Ära Merkel“ sei zu wenig diskutiert worden, „was uns wirklich bewegt hat: unser Verhältnis zu Russland, Regeln des Finanzrahmens, Finanzierung der Bildung vom Bund fernzuhalten“, wie sich Europa weiterentwickeln soll, die Sicherheitspolitik“, klagt Habeck: „All das wurde nicht diskutiert!“
Nur: Habeck diskutiert es eben auch nicht. Stattdessen redet er lieber über Freiheit, über Demokratie und die Gefahr des Populismus. „Wie schaffen wir einen Willen zur Gestaltung? Einen Willen zur Lösung?“, fragt Habeck, und spricht damit vielen aus dem Herzen: „Wie kriegen wir den Kopf hoch, den Rücken gerade, wie schaffen wir es, nicht als Verlierer vom Platz zu gehen?“ Denn der zentrale Konflikt der Zeit sei „die Auseinandersetzung zwischen autoritären Regimen und dem Einsatz für liberale Demokratie“, betont Habeck – und geißelt „den neuen Geldadel, den neuen Techadel“ in den USA, der sich Macht in der Politik kaufe, ebenso wie die autoritären und staatsdirigistischen Modelle wie China.
Habeck: Gibt Faszination mit Disruption und Autoritarismus
Das sei verführerisch, weil dort vieles schneller gehe, es gebe „eine Faszination mit der Disruption“ und dem Autoritarismus, analysiert Habeck – und genau das sei die große Gefahr für die Demokratie: „Dann entscheiden irgendwann die Algorithmen der Plattformen aus China oder die oligarchischen Supermilliardäre in den USA, wie die Wahlen in Deutschland ausgehen“, warnt er: „Das ist nicht der europäische Way of Life, das ist nicht die soziale Marktwirtschaft, das ist nicht die Tradition des Friedenswerks Europas!“
Und so sind die stärksten Momente des Robert Habeck denn auch die, an denen er für die Kunst des Kompromisses wirbt und den „Wirkmechanismus“ des Populismus geißelt, der „eine Debatte mit Lügen so auflädt, dass die Unsicherheit wächst und Menschen sich zurückziehen“. Und das drohe gerade, „den Wahlkampf, der so interessant sein könnte, wie seit Jahren kein Wahlkampf mehr, abzuwürgen“, klagt Habeck. Denn jetzt gehe es darum, die Debatten über die Zukunft des Landes zu führen, die politische Kultur zu ändern und Deutschlands Stärke zu entfesseln: „Dass Deutschland sich immer wieder neu erfinden kann.“
Vielleicht, sagt Habeck noch, „ist es das, warum so viele gekommen sind: Zu Riechen und zu Spüren, dass da etwas im Aufbruch ist.“ Er glaube, dass das schon begonnen habe, sagt Habeck, und entlässt die Menschen mit einem Trick, der sie einbezieht und ihnen das Gefühl gibt, Teil von etwas zu sein: mit einem Auftrag. „Wir brauchen die Menschen dafür, ich brauche sie“, sagt Habeck: „Sorgen Sie dafür, dass der kleine Stein zu einer großen Bewegung wird!“
Info& auf Mainz&: Von den übrigen Parteien sind bisher zwei große Auftritte von Spitzenkandidaten angekündigt: Am 23. Januar kommt FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner zu einem großen Auftritt nach Mainz in die Pyramide. Und am 22. Januar wird CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz erwartet, allerdings nicht zu einem Wahlkampfauftritt, sondern als Hauptredner beim Jahresempfang der Deutschen Wirtschaft. Der Auftritt war bereits organisiert, bevor die Ampel-Koalition in Berlin platzte und vorgezogene Neuwahlen im Raum standen. Bundeskanzler Olaf Scholz hingegen hat – wie schon 2021 – keinen Wahlkampfauftritt in Mainz oder der näheren Umgebung geplant. Unser Mainz&-Dossier zur Bundestagswahl findet Ihr hier auf Mainz&.