Ein anonymes Schreiben mit massiven Vorwürfen über Vetternwirtschaft, Untreue und diverse Vergünstigungen erschüttert derzeit die Mainzer Stadtpolitik. In dem Schreiben erheben die Verfasser auf fünf Seiten detaillierte Vorwürfe gegen Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD) sowie weitere Dezernenten der Stadtspitze und sprechen von „einem Geflecht aus Korruption und Intransparenz“ im Mainzer Rathaus. Das Schreiben ging am Dienstag bei diversen Medien in Mainz ein und wurde auch an die Staatsanwaltschaft Mainz geschickt. Die teilte mit, man behandele das Schreiben als anonyme Anzeige und werde die Vorwürfe auf einen Anfangsverdacht hin prüfen. Ebling ließ über eine Sprecher die Vorwürfe „auf das entschiedenste“ zurückweisen.
Das Schreiben, das auch Mainz& in Gänze vorliegt, enthält erheblichen Sprengstoff. Die Verfasser des Schreibens sagen, sie seien städtische Mitarbeiter im Mainzer Rathaus, für das Schreiben hätten sich „mehrere Mitarbeiter aus unterschiedlichen Dezernaten und städtischen Gesellschaften zusammen getan“. Als Motivation geben sie ungeheuren Frust und auch Scham über die Vorgänge an: „Wir müssen unserem Gewissen endlich Luft machen“, heißt es in dem Schreiben, „die unhaltbaren Zustände sind für uns nicht mehr hinnehmbar.“
Der Kern der Vorwürfe: Die Stadt Mainz mit ihrem „undurchsichtigen Geflecht an Gesellschaften“ sei „zu einem Selbstbedienungsladen mit Vollversorgung mutiert“. Bei der Vergabe von Stellen herrsche „Günstlingswirtschaft“, es herrsche ein Geflecht von gegenseitigen Leistungen, für „Freundschaftsdienste“ würden einfach Rechnungen an stadtnahe Gesellschaften gestellt. Im Rathaus gebe es gerade an höchster Stelle keine Hemmungen zu tricksen und zu täuschen: „Wir werden ständig genötigt zu tricksen, was das Zeug hält“, schreiben die Verfasser. Die städtischen Mitarbeiter seien von den Zuständen „zutiefst frustriert“, der Krankenstand „war noch nie so hoch wie zur Zeit“, schreiben die Verfasser weiter. Aus Angst traue sich aber „keiner, den Mund aufzumachen“.
Die Verfasser betonten wiederholt, sie könnten ihre Vorwürfe mit Unterlagen und Fakten belegen, alles sei nachvollziehbar. Die Vorwürfe betreffen die Mainzer Stadtspitze sowie drei bis vier weitere städtische Gesellschaften. Die Verfasser des anonymen Schreibens sprechen von Untreue und Vorteilsnahmen im Amt, von „Schwarzgeldern“ und Geldflüssen zu Lasten der Stadtkasse. Und sie nennen zugleich konkrete Beispiele von Vorteilsnahmen, zum Teil mit detaillierten Angaben. So habe Wohnbau-Geschäftsführer Franz Ringhoffer städtische Immobilien zum Vorzugspreis erhalten, die von Handwerksbetrieben im Auftrag der Stadt Mainz zum Teil kostenfrei saniert worden seien. Auch Oberbürgermeister Ebling selbst werfen die Verfasser Vorteilsnahme im Amt vor: Dieser habe eine Wohnung im Mainzer Zollhafen im gehobenen Segment zum Vorzugspreis bekommen.
Ebling habe zudem jahrelang beim Taubertsbergbad die Augen geschlossen gegenüber den „folgenschweren“ Vorgängen dort. Sportdezernent Günter Beck (Grüne) sei „nie einer Baumängelverfolgung nachgegangen“ und Ebling habe dies geduldet, heißt es weiter. Alle Vorwürfe könnten mit Unterlagen belegt werden – und genau das sei auch der Grund für die Aktenvernichtung im Wirtschaftsdezernat kurz vor Weihnachten gewesen, behaupten die Verfasser weiter: „Es gab Hinweise und handfeste Belege für vielerlei Vergehen in unserem Haus.“
Die Akten waren kurz vor dem Antritt der neuen Wirtschaftsdezernentin Manuela Matz vernichtet worden, die CDU-Politikerin war völlig überraschend ins Amt gekommen, weil ihr Vorgänger Christopher Sitte (FDP) drei Tage vor seiner Wiederwahl seinen Wechsel in die Wirtschaft verkündete. Bis heute hat die Stadt Mainz den Revisionsbericht zu den Vorgängen Ende November 2018 nicht vorgelegt. Auch den überraschenden Abgang Sittes beziehen die Verfasser in ihrem Vorwurfsschreiben mit ein: Sittes Abgang sei „Rache“ für zuvor erlittene „Schikanen“ der Kollegen im Stadtvorstand gewesen, sagen die Verfasser, für viele Mitarbeiter sei der Abgang nicht wirklich überraschend gekommen.
„Der Zustand ist kaum noch zu ertragen, es fühlt sich nicht mehr gut an, zu seinem Arbeitsplatz zu gehen“, schreiben die Verfasser am Ende: „Früher waren wir stolze Mitarbeiter der Stadt Mainz, heute schämen wir uns für diesen Arbeitgeber.“ Viele Kollegen hielten die Zustände nicht mehr aus, „leiden unter einem Burnout, halten dem Druck nicht mehr Stand.“ Das Fass sei nun übergelaufen – der Anlass dafür sei, „dass die Wiesbadener sich geoutet haben, und auch den Mund nicht mehr halten“, heißt es weiter.
Wiesbaden wird seit einigen Wochen von einem Skandal rund um Vorteilsnahmen und Vergünstigungen um Oberbürgermeister Sven Gerich (SPD) erschüttert, der deswegen seine Kandidatur zur Wiederwahl als OB zurückzog. Im Februar musste Gerich auch einräumen, den Mainzer OB Ebling samt Ehepartnern zu üppigen Weihnachtsessen eingeladen – und diese mit der städtischen Kreditkarte bezahlt zu haben.
„Natürlich schämen wir uns dafür, nicht den Mut zu haben, uns namentlich zu bekennen“, schreiben die Briefverfasser schließlich – man habe schlicht Angst. Man hoffe nun aber, dass der anonyme Brief für Transparenz und Aufklärung sorge – und habe genau deswegen das Schreiben auch der Staatsanwaltschaft Mainz zugestellt. Die bestätigte gegenüber Mainz& den Eingang des Schreibens am Dienstag. Das Schreiben werde als anonyme Strafanzeige gewertet, die Vorwürfe würden geprüft, sagte die Leitende Oberstaatsanwältin Andrea Keller: Es werde nun untersucht, „ob und gegebenenfalls gegen wen ein Anfangsverdacht einer Straftat besteht, der Anlass zur Aufnahme von Ermittlungen bietet.“
Oberbürgermeister Ebling ließ am Abend über einen Sprecher die in dem Brief erhobenen Vorwürfe zurückweisen: „Der heute veröffentlichte anonyme Brief ist ein Sammelsurium an Behauptungen und konfusen Unterstellungen mit dem Ziel der Stadt, der Verwaltung und den dort handelnden Personen Schaden zuzufügen“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme auf Mainz&-Anfrage: „Die aufgelisteten Vorwürfe weisen wir mit aller Entschiedenheit zurück und werden diese nicht weiter kommentieren.“ Die Stadt prüfe im Übrigen strafrechtliche Schritte gegen den oder die Verfasser des Briefes.
Info& auf Mainz&: Mainz& hat das anonyme Schreiben nach dem Erhalt gründlich geprüft, nach unseren Informationen schätzen wir es bisher als authentisch ein. Den Brief im Wortlaut werden wir dennoch nicht veröffentlichen – er enthält zahlreiche, hoch sensible Informationen, bei denen zum Teil Personen des öffentlichen Lebens mit Namen beschuldigt werden, Straftaten begangen zu haben. Dies können wir nicht einfach öffentlich machen – wir würden uns selbst womöglich strafbar machen. Vieles haben wir deshalb auch in diesem Artikel nicht aufgenommen – das bedarf weiterer, gründlicher Recherche.