UPDATE& — Schock am Freitagabend: Fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz ist am Freitagabend ein Mann in Magdeburg mit einem Auto in den Weihnachtsmarkt gerast. Die dramatische Bilanz am Samstagmittag: Inzwischen fünf Tote, darunter ein neun Jahre altes Kind, dazu 200 Verletzte, darunter 41 Schwer- und Schwerstverletzte. Der Abend aber wurde zu einem Lehrstück in Sachen rechtsextremer Hetze und rassistischer Ideologie, denn der Tatverdächtige ist weder Syrer noch Islamist: Taleb A. ist Arzt und Psychologe, stammt aus Saudi-Arabien, und ist ausgewiesener Islam-Kritiker – und AfD-Fan. Und: Wie Mainz seinen Weihnachtsmarkt gegen genau solche Anschläge schützt.
Um kurz nach 19.00 Uhr kamen die Eilmeldungen: „Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt“, „Auto rast in Menge“, „Täter fuhr mindestens 400 Meter über den Weihnachtsmarkt“, „zwei Tote, darunter ein Kleinkind.“ Die Nachrichten weckten sofort schlimmste Erinnerungen: Fast auf den Tag genau vor acht Jahren, am 19. Dezember 2016, war der Tunesier Anis Amri mit einem Lkw in den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin gerast, 13 Menschen starben, 54 weitere wurden zum Teil schwer verletzt.
Anis Amri beging einen islamistisch motivierten Terroranschlag, der die Republik veränderte: Die Unschuld von Festen und Märkten war dahin, fortan wurden solche Events durch immer mehr Barrieren und Kontrollen geschützt. Amri war während der Flüchtlingskrise 2015 wohl als islamistischer Schläfer nach Deutschland eingereist, beantragte hier Asyl und reiste in der Folge quer durch Deutschland, wo er in verschiedenen Städten mit mindestens 14 verschiedenen Identitäten Sozialleistungen beantragte.
Vorverurteilung folgte sofort: Ist doch sicher ein Syrer und Islamist…
Am Freitagabend war das Urteil in den sozialen Netzwerken schnell gefällt: „Ich bin mir sicher, der Täter war Islamist“, heißt es etwa auf der Plattform X (vormals Twitter). Schuld natürlich: Angela Merkel, die 2015 „Islamisten ins Land ließ“ und alle „Gutmenschen“, die die deutsche Sicherheit und Kultur opfern würden. Und natürlich seien es „die Altparteien, die dem keinen Einhalt gebieten“, während die Medien die Wahrheit verschwiegen – die natürlich lauten musste: Der Mann sei Islamist, stamme aus Syrien, aber Politik und Medien sähen „ja weg“ und verharmlosten mit Floskeln wie man müsse „erst einmal abwarten“.
Dabei gab es sehr schnell Hinweise, dass hier womöglich etwas anders war als 2016: Der mutmaßliche Täter sei Arzt und stamme aus Saudi-Arabien, hieß es sehr schnell am Abend. Der 50-Jährige lebe schon seit 2006 in Deutschland und sei als Flüchtling anerkannt. Als Islamist sei der Mann bislang nun überhaupt nicht aufgefallen. Das wurde natürlich sofort als Verheimlichung und Vertuschung auf X klassifiziert, während US-Milliardär und X-Besitzer Elon Musk die deutsche AfD-Chefin als Politikerin mit bodenständiger Klugheit feierte, die ja wohl ganz offensichtlich nicht „far-right“ wäre.
Doch dann wurde es für die Masse der Hetzer und Vorverurteiler zunehmend peinlich: Um 22.31 Uhr meldete Spiegel Online als eines der ersten Medien, der unter Terrorverdacht festgenommene mutmaßliche Attentäter sei ein Mann namens Taleb A., der in der Saudi-arabischen Stadt Hofuf geboren wurde, und im März 2006 nach Deutschland kam – also vor 18 Jahren und lang vor der Flüchtlingskrise 2015. Im Juli 2016 sei Taleb A. als Flüchtling anerkannt worden, er sei von Beruf Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Andere Medien berichteten, der Mann habe an einem Krankenhaus in Magdeburg gearbeitet.
Realität: Arzt, Psychologe, Islam-Kritiker – und AfD-Fan
Ausgerechnet ein Arzt, der einen islamistischen Anschlag begeht? Ein 50-Jähriger ohne jede bekannte Verbindung zu Islamismus? Gegen 1.00 Uhr morgens dann berichtete das ZDF in einem „Heute Journal spezial“, der Beschuldigte sei wegen massiver Kritik am Islam aus Saudi-Arabien geflohen – und offenbar Anhänger der AfD. Die Recherche mehrerer Medien zeigte zu dem Zeitpunkt nun eine ganz andere Geschichte: Danach war Taleb A. offenbar ein massiver Islam-Kritiker, der „jahrelang als Aktivist aktiv war und vor allem Frauen aus Saudi-Arabien über Fluchtmöglichkeiten aus ihrem Land beriet“, wie Spiegel Online berichtete.
In jüngster Zeit habe Taleb A. immer öfter auf X gegen das deutsche Asylsystem gewütet. Er teilte rechtsextreme Hassposts, die Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit einem Fake-Schild mit der Aufschrift „I destroyed Europe“ zeigen, wetterte gegen das deutsche Asylsystem, das syrischen Dschihadisten Asyl gewähre – und faselte von einer Verschwörung des deutschen Staates, der mit einer „verdeckten Geheimoperation“ weltweit saudische Ex-Muslime jage – so Taleb A. vor acht Tagen in einem Video-Interview.
Fast dieselbe Aussage steht in Taleb A.’s X-Profil, das zudem ein automatisches Gewehr prominent zeigt. „Ein islamistischer Hintergrund ist so gut wie ausgeschlossen“, schreibt Spiegel Online inzwischen: „Der Tatverdächtigte schwärmte für Elon Musk“ und habe große Sympathien für einen der obersten US-Verschwörungsideologen, Alex Jones. Die WELT berichtete, Taleb A. habe sich zunehmend zu Drohungen verstiegen, „bald“ werde „die Rache kommen“, Deutschland „den Preis zahlen müssen“, auch „wenn es mich das Leben kostet“ – er werde „um jeden Preis für Gerechtigkeit sorgen.“
Sicherheit auf dem Mainzer Weihnachtsmarkt durch TrucBlocks
Damit erweist sich, dass die ersten Äußerungen der Behörden völlig zutreffend waren: Anschlag, Einzeltäter, unklares Motiv. Der Fall wirft freilich dennoch eine ganze Reihe von Fragen auf, allen voran diese: Wie konnte der Mann überhaupt mit seinem Auto auf den Weihnachtsmarkt gelangen und 400 Meter weit durch eine Budengasse rasen – und den Markt anschließend durch eine Seitengasse verlassen? Seit dem Anschlag vom Breitscheidplatz haben Gemeinden bundesweit genau solch ein Szenario zu verhindern gesucht – vor allem mit Blockaden aus Beton oder massiven Pollern.
So geht auch Mainz vor: Just in diesem Jahr wurden die Zufahrtssperren rund um den Weihnachtsmarkt auf den Domplätzen noch einmal ergänzt. Seither sorgen drei sogenannte TrucBlock-Reihen auf der Ludwigsstraße dafür, dass kein Fahrzeug in gerader Linie auf den Eingang zum Weihnachtsmarkt zupreschen kann – die städtischen Busse etwa sind hier zu einem zeitraubenden Zick-Zack-Kurs gezwungen. Auch sämtliche Nebenstraßen sind durch massive Poller-Installationen gegen den Angriff mit einem Fahrzeug geschützt, als letztes kamen Sperren in der Domstraße hinzu.
Eine Fahrt auf den Mainzer Weihnachtsmarkt, der ohnehin geschützt zwischen Häusern liegt, wäre damit hier nicht möglich. „Wir erhöhen im Umfeld des Veranstaltungsgeländes das Sicherheitsniveau für die Weihnachtsmarkt-Besucher nochmals deutlich“, hatte zudem die Mainzer Ordnungsdezernentin Manuela Matz (CDU) Ende November bereits versichert – das hatte gute Gründe: Nur zwei Tage vor Eröffnung des Mainzer Weihnachtsmarktes war ein Jugendlicher in Bingen unter Terrorverdacht verhaftet worden. Der Jugendliche habe einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt mit Rohrbomben geplant, so die Mainzer Polizei – er habe sich zuvor im Internet islamistisch radikalisiert.
Welche Auswirkungen der Anschlag von Magdeburg nun auf den Bundestagswahlkampf haben könnte, ist völlig unklar. Das Geschrei rechter Hetzer gegen Syrer, Migranten und „rot-grüne Wokeness“ verstummte in der Nacht schlagartig – die AfD dürfte nun in Erklärungsnöte geraten. Dem mutmaßlichen Täter wird derzeit von der Staatsanwaltschaft fünffacher Mord vorgeworfen, ein Haftbefehl soll in Kürze beantragt werden.
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