Die Nationalsozialisten ermordeten in ihren Konzentrationslagern nicht „nur“ Juden, Sinti und Roma, Andersdenkende und politische Gegner – ab 1938 verfolgten und verhafteten sie systematisch noch eine weitere Gruppe: wohnungslose Menschen. Zur Gruppe der sogenannten „Asozialen“ zählten die Nazis aber auch Arbeitslose, bei sogenannten „Bettlerrazzias wurden Hunderttausende inhaftiert“, berichtet der Mainzer Sozialmediziner Gerhard Trabert. Auf Initiative seines Vereines „Armut und Gesundheit“ soll Mainz nun einen Gedenkort für von Nazis verfolgte Wohnungslose bekommen – als erste Stadt in Deutschland.
Es war im Januar 1938, als SS-Reichsführer Heinrich Himmler einen folgenschweren Erlass unterzeichnete: „Jeder Bettler, der arbeitsscheu ist, ist sofort einem Konzentrationslager zuzuführen“, heiß es darin unter anderem – in der Folge wurden allein bis Juni 1938 mehr als Zehntausend als „asozial“ bezeichnete Männer verhaftet und in KZs eingeliefert. Die systematische Verfolgung von Juden und Andersdenkenden hatte damit auch eine eher weniger beachtete Gruppe erreicht: Bettler, Landstreicher und Wohnungslose, mittellose Alkoholkranke und Arbeitslose.
„Was Viele nicht wissen: Der Nationalsozialismus hat 1933 und 1938 auch die Säuberung der Landstraße und die Bettlerrazzias veranlasst“, berichtetet der Mainzer Sozialmediziner im Oktober 2024 im Gespräch mit der Internetzeitung Mainz&. Hunderttausende seien bei diesen Razzien verhaftet worden, viele wurden zwangssterilisiert. „Viele sind in den KZs umgekommen, auch weil sie dort hart arbeiten mussten, vorher aber vielfach schon entkräftet waren“, berichtete Trabert weiter: „Das waren die Gruppen, wo die Nationalsozialisten ausprobiert haben, wie reagiert die Gesellschaft, wenn wir diese Gruppen einfach in KZs verbringen.“
Erster Gedenkort für ermordete „Asoziale“ in der NS-Zeit
Erst im Jahr 2020 erkannte der Deutsche Bundestag die sogenannten „Asozialen“ als Opfergruppe an, doch das Gedenken an sie ist in Deutschland wenig präsent. Das soll sich zumindest nun in Mainz ändern: Ein Gedenkort soll künftig in Mainz an die Verfolgung wohnungsloser Menschen während der NS-Diktatur erinnern. Mitte Oktober 2024 stellten dafür Trabert sowie die Mainzer Kulturdezernentin Marianne Grosse (SPD) den Entwurf für ein Kunstwerk vor, das auf dem Vorplatz der Kirche St. Peter und dem Allianzhaus an der Großen Bleiche entstehen soll. Der Ort ist bewusst gewählt: In der Peterskirche befindet sich auch das Grab jenes Pfarrers Landvogt, der sich besonders für Wohnungslose einsetzte, und nachdem die Pfarrer-Landvogt-Hilfe in Mainz benannt ist.
„Wir wollen an die Taten des Nationalsozialismus erinnern, aber auch darauf hinweisen, dass Gewalt gegen Wohnungslose in Deutschland wieder zunimmt“, betonte Trabert. Das nun für Mainz vorgesehene Kunstwerk wäre laut Trabert das erste Mahnmal für diese Opfergruppe in Deutschland und soll an die Menschen erinnern, die von den Nazis entweder mit dem „Schwarzen Winkel“ gebrandmarkt wurden, oder mit dem „Grünen Winkel“ für sogenannte „Berufsverbrecher“.
Für die Gestaltung des Kunstwerks wurde im Sommer 2024 ein künstlerischer Ideenwettbewerb ausgelost. Aus 29 Bewerbungen wählte eine Jury unter Vorsitz von Trabert und Grosse den Entwurf „Diffamiert“ des Aschaffenburger Bildhauers Konrad Franz aus. Der Entwurf sieht eine abstrahierte und etwa lebensgroße Figurengruppe aus drei Personen vor, die auf dem Boden kauern. „Die Figurengruppe stellt das Leid der Opfer in den Mittelpunkt“, sagte Trabert im Oktober bei der Vorstellung: „Das Leid wird durch diese Form der Darstellung konkret sichtbar, das Leid bekommt Kontur, bekommt ein ‚Gesicht‘.“
Skulptur „Diffamiert“ von Konrad Franz: Dem Leid ein Gesicht
Damit symbolisiere die Skulpturengruppe „die oftmals zwar gesehenen, aber nicht wahrgenommenen Menschen am Rande der Gesellschaft“, betonte der Sozialmediziner, der sich seit mehr als 25 Jahren für Wohnungslose engagiert – unter anderem mit seinem rollenden Arztmobil. Die Figuren seien zudem „weder als Frau noch als Mann zu identifizieren und damit einfach ‚menschlich'“, unterstrich Trabert weiter. Dies schließe keine Personengruppen aus und schlage eine Brücke zwischen dem Erinnern an die Verbrechen der Vergangenheit und zunehmender Ausgrenzung sozial benachteiligter Menschen in der Gegenwart.
„Erinnern ist immer auch ein Plädoyer, das gegenwärtige Verhalten zu reflektieren und zu handeln“, unterstrich Trabert. Weil das Thema Mahnen und Gedenken „so besonders wichtig in unserer Stadt ist, begrüße ich dieses Kunstwerk“, sagte auch Grosse – und dankte Trabert für seine Initiative. Mit Konrad Franz sei nun zudem ein Künstler ausgewählt worden, der sich bereits in der Vergangenheit intensiv mit der künstlerischen Bearbeitung der schrecklichen Verbrechen durch die Nationalsozialisten auseinandergesetzt habe. „Es soll ein großer ‚Stolperstein‘ des Gedenkens werden“, sagte Trabert noch.
Wann das Mahnmal errichtet werden kann, ist indes noch unklar: Das Denkmal soll in Bronze gegossen werden, die Kosten trägt allein der Verein „Armut und Gesundheit“ – die Stadt Mainz will sich bislang nicht beteiligen. „Wir hoffen noch auf mehr Unterstützer“, verriet Trabert gegenüber Mainz&.
Info& auf Mainz&: Mehr zu dem Projekt sowie die Kontaktdaten des Vereins Armut & Gesundheit findet Ihr hier im Internet. Unser Interview fand Mitte Oktober 2024 statt: Gerhard Trabert erlitt Ende 2024 mehrere Schlaganfälle und ist seither öffentlich nicht mehr aufgetreten, er ist aber weiter Spitzenkandidat der Partei Die Linke in Rheinland-Pfalz bei der Bundestagswahl. Mehr zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und dem Thema Erinnerung lest Ihr hier bei Mainz&. Den sehr aufschlussreichen Aufsatz „Asozial und gemeinschaftsfremd“ von Wolfgang Ayaß zur Verfolgung von Wohnungslosen in der NS-Zeit findet Ihr hier zum Download.