Wurden Akten für den Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im Mainzer Innenministerium bewusst über Monate hinweg zurückgehalten – gab es absichtliche Vertuschung? Genau dieser Frage sollte ein vor acht Wochen im Mainzer Innenministerium eingesetzter Revisor nachgehen, nun legte Christian Seel seinen Abschlussbericht vor: Ja, es habe „Defizite“ bei der Vorlage gegeben, Mitarbeiter hätten Unterlagen in falschen Ablagen „übersehen“ – aber Nein, eine absichtliche Vertuschung sei für ihn „nicht erkennbar gewesen.“ Doch dann musste Seel einräumen: Warum die zentral wichtige Unterlagen Monate verspätet vorgelegt wurden, könne er nicht erklären. Und dann tauchte auch noch ein Unterordner namens „Hochwasser/Lichtbilder“ auf…

Ein Revisor im Fadenkreuz der Medien: Christian Seel bei der Vorlage seines Abschlussberichts. - Foto: gik
Ein Revisor im Fadenkreuz der Medien: Christian Seel bei der Vorlage seines Abschlussberichts. – Foto: gik

Vor vier Wochen, am 21. Oktober, hatte der frisch ins Amt gekommene Innenminister Michael Ebling (SPD) einen Revisor eingesetzt: Christian Seel, Richter, CDU-Politiker und Ex-Innenstaatssekretär aus dem Saarland. Seel schien die ideale Besetzung: Ein Jurist, ein Richter zumal, ein Experte für Polizei und Katastrophenschutz – und dazu noch ein CDU-Mann, also ein Vertreter der Partei, die in Rheinland-Pfalz die größte Oppositionspartei stellt und maßgeblich für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses vor gut einem Jahr verantwortlich war.

Mit Richter Seel solle „eine bisher unbeteiligte Person Transparenz hinsichtlich der Aktenlieferung an den Untersuchungsausschuss herstellen, und Widersprüche aufklären“, sagte Ebling im Oktober. Seel solle „die Vollständigkeit der dem Untersuchungsausschuss vorgelegten Akten des Lagezentrums“ noch einmal überprüfen, das jeweilige Vorgehen bei der Aktenvorlage untersuchen, und explizit „auch widersprüchliche Darstellungen hinsichtlich der Abläufe innerhalb und zwischen den zuständigen polizeilichen Organisationen bezogen auf die Flutnacht“ aufklären. Es gehe um Transparenz vor Öffentlichkeit wie Parlament, betonte Ebling – und „um das Vertrauen in die Polizei.

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Ebling: „Bin froh, dass der Vorwurf Vertuschung entkräftet ist“

Acht Wochen lang prüfte Seel mit einem Team „intensiv“, wie er selbst nun am Mittwoch sagte, und unterstrich: „Die erneute Prüfung war richtig und wichtig“, der Ansatz einer externen Revision „hilfreich und zielführend.“ Die Revisionsgruppe habe noch einmal die betroffenen Stellen „von oben angeschrieben“, enorme Datenmengen seien noch einmal, neu geprüft worden, Posteingänge „händisch geprüft“.

Innenminister Michael Ebling (SPD) beim Interview in Sachen Revisionsbericht Aktenvorlage. - Foto: gik
Innenminister Michael Ebling (SPD) beim Interview in Sachen Revisionsbericht Aktenvorlage. – Foto: gik

Das Ergebnis: „Die Überprüfung hat ergeben, dass die Aktenaufbereitung nicht durchgängig gut war“, bilanzierte Seel nun in seinem Abschlussbericht. Es habe „Fehler“ und „Defizite“ gegeben, Dateien seien „falsch abgelegt“ und dann nicht wiedergefunden worden – aber eine Absicht? „Es scheint mir nicht, dass gezielt Dokumente unterschlagen wurden“, sagte Seel: „Ich kann keine Vertuschung erkennen.“

Vertuschung sei ja „ein sehr harter Vorwurf“, sagte daraufhin Innenminister Ebling: „Ich bin sehr froh, dass er entkräftet werden konnte.“ Die Abgeordneten im Parlament dürften „zu Recht erwarten, dass wir Transparenz herstellen“, betonte Ebling weiter: „Die Aufklärung der Vorwürfe war mir von Tag eins an ein dringliches Anliegen.“ Man habe im Innenministerium „einen unabhängigen und einen strengen Prüfer bekommen“, unterstrich der Minister weiter. Der Revisionsprozess sei „von allen Seiten von dem Willen getragen worden, auch wirklich aufklären zu wollen.“

Acht Aktenbeiziehungsbeschlüsse, keine Vollständigkeit

Doch dann stellte sich schnell heraus: Tiefergehende Nachfragen konnte Revisor Seel nicht beantworten. Der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der politischen Verantwortung für die Flutkatastrophe im Ahrtal am 14. Juli 2021 hatte am 4. Oktober einen ersten Beschluss gefasst, wonach die Landesregierung alle Unterlagen – elektronisch oder nicht – vorzulegen habe, die vor allem den Zeitraum des 14. und 15. Juli 20221 betrafen.

Der damalige Innenminister Roger Lewentz (SPD) bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im April 2022. - Foto: gik
Der damalige Innenminister Roger Lewentz (SPD) bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im April 2022. – Foto: gik

Dieser Aktenbeiziehungsbeschluss wurde am 11. November 2021 durch einen weiteren Beschluss konkretisiert, danach folgten sechs weitere Ergänzungsbeschlüsse zwischen dem 26. November 2021 und dem 14. Oktober 2022. Spätestens zum Februar 2022 hätte die Landesregierung also umfassendes Datenmaterial aus der Flutnacht vorlegen müssen – darunter auch sämtliche Emails aus dem Zeitraum, Videos, Fotos und erst recht Einsatzberichte.

Am 8. April 2022 müssen sowohl der damalige Innenminister Roger Lewentz, als auch Ministerpräsidentin Malu Dreyer (beide SPD) vor dem Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen, beide verbreiten praktisch die identische Botschaft: Die Landesregierung habe in der Flutnacht keinen Gesamtüberblick über die Lage im Ahrtal gehabt., Man sei von einem schweren Hochwasser ausgegangen – aber dass sich in dem Flusstal eine ungeheure Katastrophe anbahnte und später abspielte, dass gar eine Flutwelle das Ahrtal hinunter rauschte – nein, das habe man nicht erahnen können.

Defizite beim „Handeln nicht als Vertuschung zu klassifizieren“

Sechs Monate später, Mitte September, tauchten dann aber plötzlich erst Videos aus der Flutnacht auf, gedreht von einem Polizeihubschrauber am Abend des 14. Juli im Ahrtal, dann der Einsatzbericht zu diesem Flug, dann ein weitere Lagebericht aus dem PP Koblenz. Die neuen Unterlagen belegten nun klar: Die Landesregierung hatte sehr wohl einen Überblick über die Lager im Ahrtal.

Das Polizeivideo aus der Flutnacht im Ahrtal zeigte dramatische Szenen und kilometerweit überflutete Dörfer. - Video: Polizei RLP, Screenshot: gik
Das Polizeivideo aus der Flutnacht im Ahrtal zeigte dramatische Szenen und kilometerweit überflutete Dörfer. – Video: Polizei RLP, Screenshot: gik

Im Lagezentrum des Innenministeriums wusste man spätestens ab 21.30 Uhr von eingestürzten Häusern und meterhohen Fluten, man wusste von Menschen in Not auf Dächern – und kurze Zeit später auch von einem Tal, das auf mehr als 20 Kilometern Länger von meterhohen Fluten überrollt wurde. Das Ergebnis der Enthüllungen ist bekannt: Am 12. Oktober trat Innenminister Roger Lewentz (SPD) zurück.

Ob es denn Zufall sein könne, dass ausgerechnet diese brisanten Unterlagen zur Flutnacht, die das Gegenteil der der Aussagen der Landesspitze belegten, allesamt um Monate verspätet, und erst durch Recherchen dem Ausschuss vorgelegt worden seien, wurde Seel gefragt? Er sei nicht in der Lage, diese Frage zu beantworten, antwortete Seel. Die Erkenntnis laute: „Wir kommen zu dem Ergebnis, dass Fehler gemacht wurden, aber nicht, dass das Handeln als Vertuschung zu qualifizieren ist.“

Einsatzbericht aus Flutnacht: Verloren im Unterordner-Nirwana

Dem Revisionsbericht zufolge wurden die Fehler aber in erster Linie im Lagezentrum des Mainzer Innenministeriums gemacht. In den Polizeipräsidien sei die Aufarbeitung und Vorlage der Akten gut umgesetzt worden, betonte Seel, dort habe man Hauptamtliche dafür benannt und für die Aufgabe auch freigestellt. Anders im Lagezentrum des Mainzer Innenministeriums: Dort hätten „die Mitarbeiter des Lagezentrums die Entscheidung selbst getroffen“, welche Akten als relevant für den Ausschuss eingestuft worden seien und welche nicht.

Polizeivideo aus der Flutnacht im Ahrtal. - Video: Polizei RLP, Screenshot: gik
„Die Mitarbeiter hatten Entscheidungsspielraum, welche Akten vorzulegen waren.“ – Polizeivideo aus der Flutnacht im Ahrtal. – Video: Polizei RLP, Screenshot: gik

Die Mitarbeiter hätten dabei „Entscheidungsspielraum gehabt“, sagte Seel weiter – warum das so war, erklärte er nicht. Dabei seien „Fehler passiert“ und „Dinge falsch abgelegt worden“, sagte Seel weiter. Er könne aber „nicht erkennen“, dass irgendein Mitarbeiter Daten vorsätzlich nicht vorgelegt habe. Schon in seinem Zwischenbericht Ende November hatte der Prüfer betont, in der Bewältigung der Einsatzlage könnten „Daten ohne Vorsatz falsch abgelegt werden oder verloren gehen. So könne „letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass es einzelne Daten gibt, die nicht gefunden wurden“ – das sei „nicht zu beanstanden.“

Innen-Staatssekretärin Nicole Steingass sprang dem Revisor daraufhin zur Seite und erklärte, gerade die Nicht-Vorlage des Einsatzberichtes der Hubschrauberpiloten sei aufgrund „einer falschen Ablage in einem Unterordner“ nicht erfolgt. Erst im Zusammenhang mit der erneuten Vernehmung von Mitarbeitern des Lagezentrums vor dem U-Ausschuss hätten sich diese Mitarbeiter noch einmal auf ihre Vernehmung vorbereitet – und dabei „den Einsatzbericht gefunden“, der „fälschlicherweise“ in einem Unterordner des Lagezentrums-Postfach abgelegt worden sei.

Ein Unterordner namens „Hochwasser/Lichtbilder“

Wie denn dieser Unterordner benannt gewesen sei, in dem der Einsatzbericht zuvor nicht gefunden worden war, wollte daraufhin eine SWR-Kollegin wissen? Die Antwort der Staatssekretärin: „Der Ordner hieß „Hochwasser/Lichtbilder_Berichte zu Luftaufnahmen“. Gleichzeitig betonte Steingaß auch noch: Aus just diesem Ordner seien durchaus Unterlagen für die Vorlage im U-Ausschuss übertragen worden – nur nicht die Email mit dem brisanten Einsatzbericht aus der Flutnacht. „Sie war ja nicht verschwunden“, betonte Steingaß, „sie wurde wiederentdeckt, als man sich auf die Vernehmung vorbereitet hat.“

Der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Flutkatastrophe im Ahrtal in einer Sitzungspause. - Foto: gik
Der Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Flutkatastrophe im Ahrtal in einer Sitzungspause. – Foto: gik

Die Nicht-Vorlage von wesentlichen Akten für den U-Ausschuss könnte durchaus juristische Konsequenzen haben – CDU, AfD und Freie Wähler sprechen seit Wochen von einem Skandal, die CDU droht gar mit einer Klage vor dem Verfassungsgericht. Denn: Die liefernden Stellen mussten zusätzlich zur Aktenlieferung auch eine Vollständigkeitserklärung abgeben – die sich im Nachhinein als grob falsch herausstellten. Noch Ende November musste das Innenministerium weitere 900 Emails dem U-Ausschuss nachliefern, darunter etwa 20 aus der Flutnacht selbst.

Er könne „nicht erkennen, dass Erklärungen gefertigt wurden, wohl wissend, dass etwas nicht vorgelegt wurde“, wehrte sich Seel. Die Erklärungen seien „nach bestem Wissen und Gewissen“ erfolgt, und hätten sich eben „im Nachhinein als nicht vollständig herausgestellt.“ Eine juristische Konsequenz mochte der frühere Richter daraus nicht ableiten.

Polizeivideos „auf Festplatte geschlummert“ – und mehrfach kopiert?

Ob es denn eine systematische Untersuchung der Vertuschungsfrage gegeben habe, wollte ein weiterer Journalist wissen? Seels Antwort: „Wir haben mit den Leuten gesprochen, und uns ein Bild davon gemacht, wie ernsthaft man mit der Aktenvorlage umgegangen ist.“ Wie es denn dann sein könne, dass der Bericht in den Akten der Staatsanwal5tschaft auftauchte – nicht aber im Untersuchungsausschuss? Seel hatte auch darauf keine Antwort.

Hubschrauber der Polizei Rheinland-Pfalz. - Foto: Polizei RLP
Hubschrauber der Polizei Rheinland-Pfalz. – Foto: Polizei RLP

Und dann war da ja noch die Frage, warum die Polizeivideos selbst erst am 19. September im Aktenraum des U-Ausschusses auftauchten. Das sei auf einen „individuellen Fehler“ eines Mitarbeiters zurückzuführen, der „nicht strukturell aufgefangen wurde“, sagte Seel dazu. Im Klartext: Die brisanten Videos aus der Flutnacht hätten „auf einer Festplatte geschlummert“, seien aber nicht ordnungsgemäß dokumentiert worden – „als der Mitarbeiter im Urlaub war, hat man sie nicht gesehen.“ So seien die Videos ganz klar im Polizeipräsidium ELT geblieben, und „im anfänglichen Stadium nicht ins Ministerium gekommen“, betonte Seel.

Auch diese Darstellung dürfte aber zumindest diverse Fragen aufwerfen – hatte doch jüngst ein Mitarbeiter eben dieses zuständigen Polizeipräsidiums vor dem U-Ausschuss anderes berichtet: Er habe am 20. Juli, also nur sechs Tage nach der Flutkatastrophe im Ahrtal, den Auftrag erhalten, die Videos aus der Flutnacht im Ahrtal noch einmal auf CD und auf DVD zu kopieren – und zwar in zweifacher Ausfertigung.

Wohin gingen Kopien der Videos aus der Flutnacht?

Damit existierten wenige Tage nach der Flut also nicht nur die Aufnahmen, die „auf einer Festplatte schlummerten“ – sondern mindestens drei weitere Kopien: Am 15. Juli waren bereits weitere Videos im PP ELT kopiert und ans Polizeipräsidium Koblenz geschickt worden. Was aus allen diesen Kopien wurden, und an wen sie gingen – diese Fragen sind völlig ungeklärt. Und damit auch die Frage: Warum legte keine einzige der Empfängerstellen die Videos dem Untersuchungsausschuss vor?

Pressekonferenz zur Vorstellung des Revisionsberichts im Innenministerium. - Foto: gik
Pressekonferenz zur Vorstellung des Revisionsberichts im Innenministerium. – Foto: gik

Innenminister Ebling sagte zur Frage der verschwunden Emails samt Einsatzberichten am Mittwoch noch: „Ich sehe natürlich auch Fehler, diese Fehler markieren wir heute hier in aller Öffentlichkeit.“ Einen Grund für die Fehler könne er „dafür heute nicht nennen“, wichtig sei nun aber, dass Sorge getragen werden, „dass sie sich nicht wiederholen“. Als Minister leite er „daraus ab, dass wir mit Fug und Recht gerne besser werden können“, betonte Ebling. Der Prozess der Aufarbeitung der Hochwasserkatastrophe sei nicht abgeschlossen, aber: „Die Linse ist heute klarer.“

Christian Seel dürfte nun zurück ins Saarland reisen – dort erwarten den Juristen, der beim Regierungswechsel im Saarland 2022 seinen Job verlor, neue Aufgaben: Seel werde künftig als Beauftragter für die zivil-militärische Zusammenarbeit in der neuen Landesregierung tätig werden, berichtete der Saarländische Rundfunk am 1. September 2022 – und zwar im SPD-geführten Innenministerium. Seel werde für „die Verbindung zwischen öffentlicher Verwaltung und Bundeswehr zuständig“ sein, der neue Job dürfte eine enge Zusammenarbeit mit dem Nachbarland Rheinland-Pfalz und seinen Bundeswehrstandorten mit sich bringen. Zuständig für die Verbindung zur Bundeswehr in Rheinland-Pfalz: Innenminister Ebling.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Krimi in Sachen Aufklärung Flutkatastrophe Ahrtal sowie zu den verspäteten Aktenlieferungen könnt Ihr noch einmal hier auf Mainz& nachlesen. Unseren Bericht von der Einsetzung des Revisors im Innenministerium findet Ihr hier, über den Zwischenbericht der Revision haben wir hier berichtet.