Was für ein Wahl-Krimi: Nach tagelangem Auszählmarathon steht der Demokrat Joe Biden unmittelbar vor dem Sieg in der US-Präsidentschaftswahl. Am Freitagnachmittag kippte bei der Stimmenauszählung der Vorsprung des noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump in wesentlichen Staaten: Joe Biden führt nun in den entscheidenden Staaten von Georgia und Pennsylvania. Zuvor hatte sich Biden bereits einen Vorspring in Arizona und Nevada erkämpft und ihn über die vergangenen Tage hinweg auch gehalten. Trump kündigte indes vergangene Nacht an, er sei der Sieger und verbreitete haarsträubende Behauptungen über angeblichen Wahlbetrug. Selbst führende Republikaner distanzierten sich entsetzt von Trump und seinen Falschbehauptungen: Trumps Forderung, nicht jede Stimme zu zählen, sei zutiefst undemokratisch.
Seit der Schließung der Wahllokale in den USA am Dienstagabend wird die US-Wahl noch immer ausgezählt. Ein Grund dafür ist die Rekordwahlbeteiligung: noch nie gaben bei einer Präsidentenwahl in den USA so viele Menschen ihre Stimme ab. Grund zwei: Die Corona-Pandemie verlangsamt die Auszählung in den Wahllokalen wegen Abstands- und Hygieneregeln ebenfalls. Trotzdem kommt es zu enormen Unterschieden bei der Geschwindigkeit: Während große Staaten wie Florida und California längst fertig sind mit der Auswertung der Stimmabgaben, wird in sechs Staaten immer noch gezählt.
Ein Grund dafür sind die unterschiedlichen Wahlrechtsregeln der Bundesstaaten: In den verschiedenen Staaten herrschen unterschiedliche Vorgaben, wann mit der Stimmauswertung begonnen werden darf. In den jetzt noch offenen Staaten durfte mit der Auszählung erst nach Schließung der Wahllokale begonnen werden, in manchen Staaten darf gar die Auswertung der Übersee-Militärstimmen erst heute Abend begonnen werden. So entfaltete sich seit Dienstagabend ein wahrer Auszählmarathon – und ein nie dagewesener Wahlkrimi. Denn während es zunächst so aussah, als würde Präsident Trump seine Wiederwahl fast im Durchmarsch schaffen, wandelte sich die US-Karte seither Stück für Stück von Rot, der Farbe der Republikaner, in Blau – die Farbe der Demokraten.
Denn bei der US-Wahl gingen auch so viele Menschen wie nie zuvor vor dem eigentlichen Wahltermin zur Stimmabgabe oder wählten per Briefwahl – rund 100 Millionen US-Amerikaner gaben somit vorzeitig ihre Stimme ab. Zur Briefwahl griffen aber weit überdurchschnittlich demokratische Wähler, auch weil sie die Corona-Pandemie wesentlich ernster nehmen und Wahllokale deshalb mieden. Zudem hatte Trump seine Unterstützer explizit aufgerufen, die angeblich unsichere Briefwahl zu meiden – die republikanischen Wähler strömten deshalb direkt am Wahltag in die Wahllokale.
So ergab sich bei der ersten Auszählung das stark verzerrte Bild eines deutlichen Trump-Vorsprungs – und der schmolz dahin, als es an die Auszählung der Briefwahlunterlagen ging. Seit Donnerstag früh war deshalb in den Zahlen eine stetige Aufholjagd von Joe Biden zu beobachten, und das in ungemein wichtigen Staaten: Biden führte überraschend in Arizona, dann schob er sich auch in Nevada nach vorne und hielt diese Führung in beiden Staaten bis zum jetzigen Zeitpunkt.
Zum Wahl-Drama entwickelten sich in den vergangenen 24 Stunden aber die Zahlen in Georgia und Pennsylvania: Im Südstaatenland Georgia hat seit 1992 kein Demokrat mehr gewonnen, doch Biden schob sich Stunde um Stunde an den führenden Trump heran. Am Donnerstag führte Trump in Georgia noch mit 18.146 Stimmen, am späten Donnerstagabend waren es nur noch 1.700 Stimmen. Am Freitagnachmittag deutscher Zeit hatte Biden Trump geknackt: Der Demokrat führt aktuell in Georgia mit 1.000 Stimmen Vorsprung. Ohne die 16 Wahlmännerstimmen von Georgia hat Trump keine Chance mehr, noch die notwendige Mehrheit von 270 Wahlmännerstimmen im Electoral College zu erreichen – damit wäre Joe Biden faktisch der nächste US-Präsident.
Unterstrichen wird diese Entwicklung noch durch den entscheidenden Staat Pennsylvania: Auch hier kippte in der Nacht die Stimmenmehrheit von Donald Trump – Joe Biden führt am Freitagnachmittag mit knapp 5.600 Stimmen. Trump hatte hier zunächst nach den ersten Auszählungen zeitweise mit bis zu 600.000 Stimmen vorne gelegen, doch Stück für Stück kippte auch hier seine Mehrheit. Der Grund: Im über weite Strecken ländlich geprägten Pennsylvania – hier leben etwa die erzkonservativen Amish People – waren die ländlichen Regionen mit ihren zahlreichen Trump-Wählern zuerst ausgezählt worden.
Nun aber werden die großen Städte wie Philadelphia samt ihrer Vororte ausgezählt – und dort leben überwiegend Biden-Wähler. Zudem verfestigte sich ein Trend: Bei den Briefwählern hält Biden einen Anteil von 80 Prozent und mehr der Stimmen, je länger die Auszählung dauert, umso mehr baut der Demokrat seine Führung aus. Pennsylvania galt von vorneherein als der entscheidende Staat für die Wahl, mit den 20 Wahlmännerstimmen liegt Biden uneinholbar vor Trump. Holt Biden Nevada, Arizona, Georgia und Pennsylvania, würde er sogar mit 306 Stimmen weit vor Trump siegen, der dann noch maximal auf etwa 230 Stimmen käme, weit weg von den notwendigen 270 Stimmen.
Biden hatte sich deshalb seit der Wahlnacht immer wieder zurückhaltend-optimistisch gezeigt: Er wolle sich noch nicht zum Wahlsieger erklären, sei sich aber sicher, dass er am Ende als Sieger aus dem Rennen hervorgehen werde, sagte Biden in Delaware vor Anhängern – die jeweiligen Wahlkampfteams verfügen über direkte Drähte zu den Wahlleitern und haben auch eigene Beobachter vor Ort, die die Auszählung live verfolgen.
Trump präsentierte sich am Donnerstagnacht mit einer haarsträubenden Rede im Weißen Haus vor der Presse: Der Präsident behauptete, er habe die Wahl bereits gewonnen, denn er führe bei den „legalen Stimmen“ – damit bezeichnete der Präsident der Vereinigten Staaten Briefwahlstimmen de facto als illegal. Trump focht das nicht an, er erklärte sich zum Sieger und wetterte dann minutenlang in einer wirren Tirade darüber, ihm werde „die Wahl gestohlen“. Mehrere amerikanische US-Sender stiegen daraufhin aus der Liveübertragung der Rede Trumps aus – ein noch nie dagewesener Vorgang. CNN übertrug die Rede bis zum Schluss, der Inhalt und ihre Form verschlug selbst gestandenen Trump-Anhängern die Sprache.
Selbst Republikaner distanzierten sich umgehend von dem Präsidenten und seiner Rede, die von vielen als schlicht wahnsinnig bezeichnet wurde. Selbst der republikanische Gouverneur von Maryland, Larry Hogan, twitterte: „Es gibt keine Verteidigung für die Kommentare des Präsidenten heute Abend, die unseren demokratischen Prozess untergraben. Amerika zählt die Stimmen, und wir müssen die Ergebnisse respektieren, wie wir es immer getan haben.“ Journalisten auf mehreren Sendern sprachen von klaren Lügen, CNN-Journalisten warfen dem Präsidenten gefährliche Äußerungen vor, mit denen er die Demokratie untergrabe.
Trump kündigte erneut an, er werde die Wahl vor dem Supreme Court anfechten, doch das ist nicht so einfach: Erst müssten Trumps Anwälte Klagen in den einzelnen Bundesstaaten durchfechten. Doch auch dort lehnten bisher die meisten Richter die eilig angestrengten Klagen der Trump-Familie ab, so etwa in Philadelphia: Dort reichte Trumps Anwalt eine Klage ein, weil angeblich republikanische Wahlbeobachter bei ihrer Arbeit behindert würden. Auf die Nachfrage des Richters musste der Trump-Anwalt aber einräumen, ja, die Beobachter seien genau in dem Auszählraum anwesend. „Was ist dann Ihr Problem“, konterte der Richter – und wies die Klage ab.
In keinem der Staaten, in denen es derzeit eng zugeht bei der Stimmenauszählung, wurde bisher auch nur ansatzweise von einem Wahlbetrug berichtet – auch republikanische Gouverneure sehen dafür keinerlei Anzeichen. Trotzdem glauben viele Anhänger in fast schon religiöser Weise den Worten ihres Präsidenten, in den sozialen Medien werden Spekulationen und Gerüchte ungeprüft weiter verbreitet. Tatsächlich aber gibt es dafür keinerlei Beweis oder Beleg – mit genau diesen Gerüchten unterminiert Trump bereits seit Wochen die Glaubwürdigkeit der demokratischen Wahl. Es wird deshalb erwartet, dass Trump seine Niederlage nicht eingestehen wird – was dann passiert, weiß derzeit niemand.
UPDATE&: Auch die einflussreiche Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, geht inzwischen klar von einem Wahlsieg Bidens aus: „Heute Morgen ist klar: Die Biden-Harris Kampagne wird ins Weiße Haus einziehen“, sagte Pelosi vor knapp einer Stunde vor der Presse. Pelosi sprach von „einem historischen Tag“ und nannte Joe Biden „President-Elect“ – also „den gewählten und designierten Präsidenten.“ Gleichzeitig kritisierte sie deutlich Noch-Präsident Donald Trump: „Das Recht zu wählen, ist ein heiliges Recht“, sagte Pelosi, die freie Wahl sei das Fundament der Demokratie – Trumps haltlose Vorwürfe eines Wahlbetrugs seien „verzweifelte letzte Versuche“, die Grundlagen der Demokratie zu zerstören, um seine Niederlage nicht anerkennen zu müssen. „Wir müssen geduldig sein, ruhig und zuversichtlich“, rief Pelosi die Amerikaner auf.
Info& auf Mainz&: Wir haben unsere Zahlen aus der Berichterstattung des Senders CNN, eine Analyse zu Donald Trump und seiner Amtszeit lest Ihr hier bei Mainz&.
Korrektur&: Wir hatten Larry Hogan zunächst zum Gouverneur von Texas gemacht – wir hatten uns da einfach auf die Kollegen vom Merkur verlassen. Wir hatten zwar den Tweet selbst nachgeprüft, nicht aber die genaue Herkunft des Herrn – Larry Hogan ist natürlich Gouverneur von Maryland. Wir haben das im Text korrigiert.