Wie gut kommt Deutschland durch die Corona-Pandemie, und wie wirken die rigiden Maßnahmen des Shutdown tatsächlich? Seit Beginn der Pandemie in Deutschland gaben die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) diese Entwicklung nur mit großer Zeitverzögerung wieder: Weil zwischen Erkrankung, Test und Meldung an die Ämter bis zu zwei Wochen vergehen konnten, hinken die RKI-Zahlen der tatsächlichen Entwicklung ständig stark hinterher. Durch die umständlichen Meldeverfahren schwanken die Zahlen zudem stark: Immer an den Wochenende sinkt die Menge der Neuinfizierten scheinbar stark ab, zur Wochenmitte steigt sie dagegen wieder deutlich an – das führte zu mancher Verwirrung. Nun hat das RKI eine neue Berechnungsmethode entwickelt – und nach dem „Nowcasting“ nimmt die Coronavirus-Pandemie in Deutschland einen deutlich anderen Verlauf als bislang gedacht.

Seit dem 16. März geht Deutschland im Kampf gegen das Coronavirus in den Lockdown - aber wie wirken die Maßnahmen? - Foto: gikAm 16. März schloss Deutschland bundesweit Schulen und Kindergärten, eine Woche später ging das Land mit der Schließung der Geschäfte in den vollständigen Lockdown – das Land verordnete sich selbst einen noch nie dagewesenen Stillstand. Die Politik wollte mit dem rigiden Shutdown die exponentielle Ausbreitung des Coronavirus stoppen, um das Gesundheitssystem in Deutschland nicht zu überfordern und Zehntausende Tote zu riskieren – so, wie das die Nachbarländer Italien, Frankreich und Spanien erleben mussten. Statt mehr als 20.000 Tote verzeichnet Deutschland bislang „nur“ etwas über 6.000 Tote durch die neue Lungenkrankheit Covid-19, obwohl auch Deutschland rund 158.000 Infizierte registriert hat.

Tatsächlich aber hatte die Politik bislang nie einen wirklich guten Anhaltspunkt für die Frage: Wirken die Maßnahmen? Sinken die Infektionsraten eigentlich tatsächlich durch die am 22. März verkündete Kontaktsperre? Was hat die Schließung der Schulen und danach der Läden gebracht? Das Problem der Politik: die ungemein schwankenden und die Realität nur mit großer Zeitverzögerung abbildenden Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI). Das Bundesinstitut ist die zentrale Meldestelle für meldepflichtige Krankheiten wie eben Covid-19, doch in der extremen Pandemie-Krise zeigte sich der Nachteil einer föderalen Struktur sowie einer völlig veralteten Datenverarbeitung in deutschen Behörden.

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RKI-Präsident Lothar Wieler musste mehrfach Einschätzungen zur Corona-Pandemie zurücknehmen, weil die Daten ein falsches Bild vermittelten. - Foto: gik
RKI-Präsident Lothar Wieler musste mehrfach Einschätzungen zur Corona-Pandemie zurücknehmen, weil die Daten ein falsches Bild vermittelten. – Foto: gik

Für die Erfassung und Testung der Patienten sind in Deutschland nämlich die Gesundheitsämter vor Ort zuständig, die aber wurden gerade am Beginn der Pandemie von den Ereignissen geradezu überrollt. Das führte dazu, dass positive Ergebnisse von Covid-19-Tests zum Teil nur mit erheblicher Zeitverzögerung an die Ministerien des jeweiligen Landes sowie auch an das RKI gemeldet wurden – die Übermittlung geschieht in Teilen noch per Fax, Daten müssen von Hand in Tabellen erfasst werden, auch das trug nicht gerade zu einer schnellen Datenübermittlung bei.

So kam es schnell zu einem wahren Datenwirrwarr: An ein und demselben Tag konnte eine Gesundheitsamt vor Ort völlig andere Zahlen an Infizierten und Gestorbenen melden, als das Ministerium des Bundeslandes und das RKI in Berlin – für ein und denselben Ort oder Landkreis, wohlgemerkt. Das liegt auch daran, dass Datensätze in den Behörden meist nur einmal am Tag aktualisiert werden, was bis dahin an Meldungen nicht eingegangen ist, wird einfach am darauffolgenden Tag mitgezählt. So aktualisiert das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium etwa seine Daten mittags um 12.00 Uhr, das Gesundheitsamt Mainz-Bingen hingegen am späten Nachmittag, das RKI wiederum um Mitternacht jedes Tages. Eine mehrfache Aktualisierung pro Tag gibt es hingegen praktisch nirgends.

Fallzahlen Coronavirus laut Johns Hopkins Universität am 28.04.2020. - Screenshot: gik
Fallzahlen Coronavirus laut Johns Hopkins Universität am 28.04.2020. – Screenshot: gik

Mainz& hat deshalb sehr frühzeitig diese Daten nur noch auszugsweise verwendet, um keine Verwirrung zu stiften, stattdessen stützen wir uns – wie sehr viele andere Medien auch – auf die Zahlen der Johns Hopkins Universität: Die amerikanische Hochschule wertet für ihre interaktive Covid-19-Karte im Internet Datenströme aus Deutschland selbstständig aus. Dazu gehören Meldungen einzelner Ämter sowie von Arztdatenbanken, aber auch Meldungen von Tageszeitungen in Deutschland, die ebenfalls schnell dazu übergingen, eigene Datenauswertungen vorzunehmen, um dem Datenwirrwarr der Ämter etwas entgegen zu setzen.

Tatsächlich erwiesen sich die Daten der Johns Hopkins Universität als hochgradig zuverlässiges und wesentlich zeitnäheres Abbild der tatsächlichen Lage in Deutschland, während die Zahlen des Robert-Koch-Instituts meist um etwa zwei Tage hinterherhinken. Das aber führt zu dem Problem – wie etwa am Montag – , dass beim Robert-Koch-Institut noch von 5.750 Verstorbenen die Rede war, während es in Deutschland tatsächlich bereits mehr als 6.000 Verstorbene gab – ein nicht unerheblicher Unterschied. Denn die Politik trifft ihre Entscheidungen auf der Grundlage der RKI-Zahlen – geben die aber die Realität nicht zeitnah wieder, kann das auch zu Fehleinschätzungen der Politik führen.

Die Diskrepanz fiel indes aber auch beim RKI auf: Wie der NDR am Montag berichtete, entwickelte das Institut im März eine neue Berechnungsmethode für den Verlauf der Pandemie in Deutschland. Bei der „Nowcast“-Methode wird nun nicht mehr der Zeitpunkt zugrunde gelegt, an dem die Meldung des positiven Testergebnisses bei den Behörden eingeht, stattdessen errechnen die Experten den tatsächlichen Krankheitsbeginn der jeweiligen Person – ohne die Zeitverzögerung der Infektion und ohne die der Meldekette.

Pandemieverlauf des Coronavirus in Deutschland nach der neuen Nowcast-Methode. - Grafik: RKI
Pandemieverlauf des Coronavirus in Deutschland nach der neuen Nowcast-Methode. – Grafik: RKI

Die nun durch „Nowcast“ erstellten Zahlen zeigen ein dramatisch anderes Bild des Verlaufs der Corona-Pandemie als bisher gedacht: Denn danach traten die ersten Fälle von Covid-19 in Deutschland bereits im Januar auf, wie das RKI nun selbst in seinem jüngsten Lagebericht vom Montag mitteilt, und bereits Anfang März stieg die reale Zahl der Infektionen stark an. Als die Politik am 13. März die Schließung der Schulen verkündete, gab es in Deutschland bereits rund 5.000 Neuinfektionen pro Tag – ohne dass dies jemand zu dem Zeitpunkt wusste. Dem RKI wurden zu dem Zeitpunkt lediglich zwischen 1.000 und 1.500 Neuinfektionen pro Tag gemeldet, beim RKI schnellte die offizielle Zahl der gemeldeten Neuinfektionen erst um den 15. März herum auf 6.000 Neuinfektionen und mehr hoch.

Den Höhepunkt von mehr als 6.000 Neuinfektionen verzeichnete das RKI erst um den 31. März/1. April herum, die Modellierungen des „Nowcast“ zeigen indes, dass zu diesem Zeitpunkt real die Zahl der Infektionen bereits auf um die 4.000 pro Tag gesunken war. Eine Grundlage für Kritik an den rigiden Shutdown-Maßnahmen ist das dennoch nicht: Die Nowcast-Zahlen zeigen ebenso deutlich, dass die Zahl der Neuinfektionen sehr viel langsamer sinkt, als es die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen des RKI bisher suggerierte.

Pandemieverlauf Coronavirus in Deutschland nach den Meldedaten im März. - Grafik: RKI
Pandemieverlauf Coronavirus in Deutschland nach den Meldedaten im März. – Grafik: RKI

Denn in den Meldedaten sank die Zahl der Neuinfizierten „fast doppelt so schnell wie im Nowcast“, bilanziert der NDR: In den zwei Wochen nach dem Meldepeak sanken die Neuinfektionen in den Meldedaten um knapp die Hälfte. Die „Nowcast“-Methode des tatsächlichen Krankheitsbeginns zeigt hingegen, dass die Neuerkrankungen gerade mal um ein Viertel zurückgingen – „das Infektionsrisiko, so wird jetzt deutlich, geht also nur halb so schnell zurück, wie es bisher schien.“ Die Meldedaten suggerierten damit einen größeren Erfolg im Kampf gegen das Virus, als tatsächlich erreicht wurde, so die Datenjournalisten weiter – eine Erklärung dafür, warum die Virologen bisher keine Entwarnung geben mochten.

Gleichzeitig zeigen die neuen Daten aber auch: Die Infektionskurve bricht genau zwei Tage, nachdem Deutschland seine Schulen und Kitas schloss ab und sank danach, sowie in den zwei Wochen nach Verhängen der Kontaktsperre, zum Teil deutlich. In diesen drei Wochen halbierte sich die Zahl der Neuinfektionen nahezu, zwischen dem 8. April und dem 13. April gelang die zweite Halbierung auf rund 2.000 Neuinfektionen pro Tag. Seither aber stagnieren die Zahlen weitgehend – und stiegen am 22. April sogar wieder ganz leicht an.

Corona-Pandemieverlauf im Vergleich von Nowcast und Meldedaten. - Grafik: NDR data
Corona-Pandemieverlauf im Vergleich von Nowcast (blaue Kurve) und Meldedaten (gelbe Kurve). – Grafik: NDR data

Die neue Methode habe das RKI in einer Studie dann am 9. April vorgestellt, berichtet der NDR weiter – erst zu diesem Zeitpunkt habe auch die Bundesregierung die neue Methode und vor allem die realen Pandemie-Zahlen zu Gesicht bekommen. Seither machte auch der Reproduktionswert auf einmal als neue Entscheidungsgröße die Runde, ohne dass der Bevölkerung der Wechsel genauer erklärt wurde. Zwar habe das RKI die Schätzmethode des Nowcast schon früher verwendet, schreibt der NDR, doch man habe man das Modell erst an das neuartige Coronavirus sowie an das Meldeverhalten von Erkrankten und Behörden anpassen müssen, um verlässliche Daten zu bekommen – was offenbar Wochen dauerte.

Nun zeigt sich: Deutschland reagierte wohl gerade noch rechtzeitig, um einen dramatischen Verlauf der Pandemie wie in den Nachbarländern zu stoppen, war das Land doch schon mitten in der exponentiellen Entwicklung. Der Shutdown senkte die Kurve der Neuinfektionen deutlich und beständig – vorbei ist die Pandemie indes noch keineswegs. Nach Angaben des RKI stieg der Reproduktionswert, also die Zahl der menschen, die ein Infizierter ansteckt, am Montag bereits wieder auf 1,1 – damit steigt die Zahl der Neuinfektionen erstmals seit Mitte März wieder. Die Zahlen dürften das Ergebnis der ersten Lockerungen vor einer Woche sein – das RKI hat nun zumindest die Chance, diese Entwicklungen deutlich zeitnäher abzubilden.

Info& auf Mainz&: Einen ausführlichen Text zur Zeitverzögerung bei den Meldedaten sowie zum Verlauf der Pandemie auf dem Höhepunkt der Fallzahlen laut Meldedaten – nämlich am 27. März – haben wir hier bei Mainz& aus damaliger Sicht aufgeschrieben. Den Bericht zur Datenanalyse des NDR findet Ihr hier im Internet, den neuesten Lagebericht des RKI könnt Ihr Euch hier herunterladen. Ein umfangreiches Dossier über die Corona-Pandemie mit allen Entwicklungen findet Ihr hier auf Mainz& – bitte vergesst nicht, Euch durch die Seiten zu blättern, den Button dazu findet Ihr am Ende der Seite.

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