Kalt war es, eiskalt – das Open Ohr 2016 gehörte sicher zu den kältesten seiner Geschichte. Regen, klar, das war nie ein Problem auf dem Open Ohr – aber Temperaturen von um den Gefrierpunkt? Brrrr…. Trotzdem kamen Tausende zum Festival auf die Zitadelle, und sie wollten diskutieren: Über Heimat, Heimatstolz, Recht auf Heimat und die Angst um die Heimat – spannende Diskussionen mit leider nicht immer versierten Moderatoren. Dazu tolle Musikacts, die die Festivalbühne rockten – der Name „Get Well Soon“ wurde da zum Programm 😉

Open Ohr 2016 - Neue Heimat basteln
Kann man sich eine neue Heimat basteln? Nun, zumindest für Zugeflogene 😉 Das Open Ohr 2016 – Foto: gik

Es war schon das zweite Open Ohr, das sich nach „Kein Land in Sicht“ 2015 mit den Befindlichkeiten dieser unserer Heimat befasste. „Seit wir uns vor einem Jahr trafen, um über die Flüchtlingspolitik zu diskutieren, hat sich die Diskussion zugespitzt“, befand die Freie Projektgruppe des Open Ohrs: Während die einen auf die Straße gehen, um ihre „Heimat“ vor Überfremdung zu retten, wollen die anderen Geflüchteten eine „neue Heimat“ bieten – doch welche Heimat meinen eigentlich die jeweiligen Parteien?

Es war eine Frage, die umtrieb, das Publikum manchmal mehr, als die Diskutanten auf den Podien. Die Diskussionsrunden litten zuweilen unter Vortragenden, die sich allzu einig waren oder die allzu Bekanntes von sich gaben, manche unter Moderatoren, die es nicht verstanden, ihr Thema spannend in die Hand zu nehmen. „Laaangweilig“, hallte gar ein Zwischenruf beim Eröffnungspodium „Heimatstolz“ über die Menge – da sollte die Projektgruppe eine ehrliche Bilanz ziehen.

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Denn es gab wahrhaft viel Spannendes zum Thema „Heimat“ zu entdecken: „Wir würden nicht über Heimat diskutieren, wenn wir nicht herausgefordert würden durch das Erlebnis von Nicht-Heimat“, sagte da etwa der Geograf Kühne – erlebt sich Heimat also vor allem im Verlust von Heimat? Klar wurde: Heimat ist etwas zutiefst individuelles, aber zugleich auch etwas, das an Landschaft, Sprache und Menschen gebunden ist. Heimat, das sei für sie das Nahetal, sagte etwa CDU-Landeschefin Julia Klöckner.

Dom mit Liebfrauenplatz
Heimat – für viele Mainzer ist das eindeutig der Dom – Foto: gik

Und viele Menschen empfinden ihre Heimat auch dann noch als Heimat, wenn es in ihr Unrecht, Krieg und den Verlust der Menschenrechte gibt. Trotzdem verlassen diese Menschen ihre Heimat, um woanders ihr Heil, ihr Glück zu suchen. Wie aber „findet“ man eine neue Heimat? „Heimat ist nichts Statisches, sie verändert sich, kann erworben werden“, sagte die Ethnologin Mareike Späth – „Beheimaten“, das bedeute, eine Gegend „von innen heraus zu verstehen.“

In einer neuen Region aber vollkommen akzeptiert zu werden, das dauere lange, berichtete Geograf Olaf Kühne – Studien hätten gezeigt, dass oft erst die dritte Generation nicht mehr als „Zugereiste“ gesehen werde. Hallo Mainzer – wie oft habt Ihr schon Menschen, die seit 20, 25 Jahren hier leben, noch als „Zugezogene“ bezeichnet, hm?

„Heimat hat zwei Dimensionen, mindestens“, meinte auch Kühne: die der eigenen Person, und die der Gesellschaft, und so lasse sich eben auch die Frage stellen: „Lässt man mich sich beheimaten?“ Heimat habe nämlich auch sehr viel mit Macht zu tun, erklärte Kühne: Wer darf teilhaben am gesellschaftlichen Miteinander, welche Position darf jemand besetzen? „Wer zuzieht, muss sich erst einmal bewähren“, erklärte Kühne – das sei überall auf der Welt so.

Die deutsche Gesellschaft, meinte aber Christian Osterhaus, Geschäftsführer der Jugendhilfsorganisation Don Bosco, „hat sehr viele Stacheln, es ist sehr schwer, in dieser Gesellschaft anzukommen.“ Ob die schwierige deutsche Sprache oder die Bürokratie, ob Wohnung oder Job, „diese deutsche Heimat ist sehr schwer zu erobern“, berichtete  Osterhaus – Don Bosco kümmert sich weltweit um Jugendliche auf der Straße und in Armut, und hilft auch Migranten bei der Integration in Deutschland.

Open Ohr 2016 - Propevolle Hauptwiese am Samstagabend
Heimat trotz Kälte: Die Hauptwiese beim Open Ohr am Samstagabend war proppevoll – Foto: gik

Akzeptiert zu werden, sei doch gar kein Problem, meinte hingegen der digitale Nomade und Blogger Nicolas Martina alias Travel Echo, ob in Mexiko oder Bolivien, er habe nie irgendwo Probleme gehabt. Doch Nic bleibt nirgends länger als ein paar Wochen – und erzählte freimütig, er könne ja auch jederzeit mit Freunden und Familie zuhause Skypen, Dank moderner Technik. Da feierte jemand seine Freiheit ganz offensichtlich auf der Grundlage einer weiter vorhandenen Heimat mit Wurzeln an einem Ort…

„Heimat ist eine Utopie“, glaubte aber auch Max Pichl von Pro Asyl, mit dem Begriff könne er nun wirklich nichts anfangen – da schwangen dann Assoziationen von Heimatfilm und Hirsch am Bergsee mit 😉 Pichl wehrte sich gegen einen ausgrenzenden Heimatbegriff, und gegen den Begriff „Heimat“ überhaupt: Bei der Flüchtlingspolitik und in der Integration gehe es um einen Kampf für Menschenrechte, „da passt es nicht, Begriffe zu benutzen, die im linken Spektrum keine Tradition haben“, kritisierte Pichl.

Open Ohr 2016 - Podium mit Barley Köbler Brück
Spannendes Podium mit dem Grünen Daniel Köbler (ganz links) und SPD-Generalsekretärin Katharina Barley (2.v.rechts) – Foto: gik

„Ich glaube, wir machen seit vielen Jahren einen Fehler, in dem wir Begriffe wie „Heimat“ den Rechten überlassen“, entgegnete der Grünen-Politiker Daniel Köbler – und plädierte dafür, sich genau solche Begriffe wie „Heimat“ zurückzuholen. „Heimat ist ein sehr individueller, emotionales Thema, und zunächst einmal nichts Negatives“, betonte Köbler, der Begriff werde doch erst zum Problem, wenn er zum Ausgrenzen benutzt werde.

Das sah übrigens auch die neue Generalsekretärin der Bundes-SPD so: Den Rechten die „Heimat“ zu überlassen, sei eine Kapitulation, warnte Katharina Barley – die gebürtige Triererin war zum ersten Mal aufs Open Ohr gekommen, und ganz einer Meinung mit Köbler. „Die Rechten greifen sich gerade Begriffe wie „Solidarität“ und „Mehr Demokratie wagen““, berichtete sie, „die versuchen, Wohlfühl-Begriffe für sich zu kapern, das dürfen wir ihnen nicht überlassen.“

Geht also die „Angst um die Heimat“ um? Zumindest machten sich viele Leute Sorgen um die Errungenschaften dieser „Heimat“, um Demokratie, freie Rede und Menschenrechte. Wer also schützt die Heimat – und wer schützt sie wovor? Der Verfassungsschutz der Bundesrepublik Deutschland begriff seinen Job jedenfalls lange nicht als Schutz der Verfassung, sondern als Schutz des Staates vor dem Bürger, berichtete der Zeithistoriker Michael Wala, der die Geschichte des Verfassungsschutzes nach dem Zweiten Weltkrieg erforscht hat. Ud Wala stellte fest: Nein, Altnazis waren im Verfassungsschutz vergleichsweise wenige beschäftigt, nur begriff man sich eben in erster Linie als Regierungsschutz – was sich erst langsam ändere.

Open Ohr 2016 - Wala und Marx mit Mück-Raab
Historiker Wala mit NSU-Ausschuss-Vorsitzender Marx (rechts) mit der Journalistin Marion Mück-Raab (Mitte) – Foto: gik

Der Verfassungsschutz habe auch in Sachen der Terrorgruppe NSU vieles gewusst, seine Erkenntnisse aber nicht an Polizei und Ermittler weiter gegeben, berichtete Dorothea Marx, Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses in Thüringen. „Man versteht sich als Geheimbund“, berichtete sie – und dass Thüringen dem jetzt mit einer verschärften Kontrolle des Verfassungsschutzes durch die Parlamentarier entgegen steuere.

Der Verfassungsschutz sei zur Abwehr notwendig, befand auch Wala, aber er müsse sich ändern: „Er sollte mehr Analyse betreiben, mögliche Zersetzung der Demokratie beobachten“, schlug Wala vor, es brauche einen neuen „Verfassungspatriotismus“, der wirklich die Verfassung schütze – und nicht primär sich selbst.

„Dieses Land bietet mir so viel an Rechtsstaatlichkeit und den Rechten des Individuums“, sagte denn auch Rahim Schmidt, „deshalb gehe ich nicht zurück in den Iran.“ Der Grünen-Politiker kam vor 35 Jahren aus seiner Heimat Iran nach Deutschland, heute trägt der Arzt einen deutschen Nachnamen, sieht Deutschland als seine Heimat – und bezeichnet sich doch immer noch als Gast in diesem Land. Heimat, so wurde klar, bleibt ein schwieriger, ein zwiespältiger Begriff.

Open Ohr 2016 - Lampenschirme in den Bäumen
Wenn die Bäume voller Lampenschirme hängen, dann ist Heimat auf dem Open Ohr – Foto: gik

Und es waren, wie immer auf dem Ohr, die kleinen Dinge nebenher, die weiter Denkanstöße dazu gaben: Da waren zäunte bei den Walking Acts die Theatergruppe Spielsache immer wieder Gruppen von Besuchern ein und forderte sie heraus, über Labyrinthe, Sicherheiten und Wege nachzudenken. Und in den Bäumen auf der Festivalwiese hingen in diesem Jahr statt Lampions altmodische Lampenschirme, ganz wie im heimischen Wohnzimmer. Und mit Hilfe von Schaltern unter den Bäumen konnten die Open Ohr-Besucher das Licht an- oder ausknipsen, je nach gerade vorherrschendem Heimatgefühl.

Die Heimat besser kennen zu lernen, dazu lud das Stadthistorische Museum auf der Zitadelle ebenso ein wie Mundartführungen „Vun de Vilzbach zu de Umbach“, eine Weinprobe auf Rheinhessisch oder die Trips durch die unterirdischen Gänge der Zitadelle. „Wolle mer se eroilasse“, scherzte da ein Besucher in einem unterirdischen Raum – und offenbarte, wie wenig er über seine neue Heimat doch wusste: Der Spruch komme doch irgendwie aus Köln, von der alternativen Stunksitzung, meinte der junge Mann – in völliger Unkenntnis des Ursprungs: Der Fernsehfastnacht „Mainz bleibt Mainz.“

Open Ohr 2016 - Dubioza Kolektiv rocken die Hauptwiese
Dubioza Kolektiv rocken die Hauptwiese auf dem Open Ohr 2016 – Foto: gik

„Making Heimat“ – das Motto des deutschen Pavillons auf der Biennale in Venedig in diesem Jahr gilt so nicht nur für Flüchtlinge. Schade, dass die Vertreterin des Deutschen Architekturmuseums es nicht wirklich schaffte, das Projekt und seine Dimension deutlich zu machen – sie verriet aber, dass die Ausstellung 2017 auch in Frankfurt zu sehen sein wird.

„Die offene Gesellschaft ist meine Heimat“, fasste denn auch die Grünen-Landtagsabgeordnete Pia Schellhammer zusammen, wohin die Diskussion geht, „das kann sich aber verknüpfen mit einer regionalen Verwurzelung.“ Es ist das Bemühen den Begriff „Heimat“ zurückzuerobern: Weg von einem ausgrenzenden, grenzbehafteten Begriff und hin zu einem, der in Zeiten grenzenloser Globalisierung neuen Halt gibt: Wurzeln, Herkunft, Zugehörigkeit. Heimat eben.

Open Ohr 2016 - Get Well Soon dunkel
Get Well Soon mit toller Bühnenshow auf dem Open Ohr 2016 – Foto: gik

Beinahe hätten wir dabei vergessen, die Musik zu erwähnen: Cool war’s. Bunt und vielfältig. Von Dubioza Kolektiv, die mit einem völlig irren Mix aus einfach allen Musikstilen am Samstagabend der Hauptwiese die kalten Temperaturen austrieben bis hin zu den Headliner von „Get Well Soon“, die manchmal etwas zu getragen, meist aber mit coolen Riffs große Show inszenierten. Fantastisch, vielfältig – Heimat in Weltmusik, das ist die Musik auf dem Open Ohr. Und so wurde gefeiert, getanzt, geklönt und den eisigen Temperaturen getrotzt. Und wie sagte Festivaldezernent Kurt Merkator (SPD) so schön: „Die Eisheiligen sind schließlich auch ein Stück Heimat.“

Info& auf Mainz&: Alle offiziellen Infos zum Open Ohr findet Ihr im Internet unter www.openohr.de.

 

 

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