Seit Monaten ist es das Mantra der Bildungsminister: „Schulen sind keine Treiber der Pandemie“, betonen die Minister wieder und wieder, allen voran: die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD). Ansteckungen in den Schulen gebe es so gut wie keine, Kinder und Jugendliche infizierten sich außerhalb der Schulen, betont die seit Wochen – die Schulen seien sicher und müssten offen bleiben. Doch nun bröckelt die Front, denn die Corona-Infektionszahlen blieben trotz November-Lockdown hoch – und steigen nun wieder dramatisch an. Wissenschaftler betonen derweil: Natürlich gebe es auch in Schulen Infektionen und sogar Superspreader-Events – führende Experten warfen nun Hubig gar vor, ihre Aussagen verzerrt wiedergegeben zu haben: Eine Erklärung aus dem Mainzer Bildungsministerium sei „mehr oder weniger reine Propaganda.“
Die Debatte schwelt seit Monaten, ausgelöst wird sie unter anderem von Vorgaben des Robert-Koch-Instituts (RKI): Das empfiehlt bereits seit Monaten, Schulen sollten ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner in den Wechselunterricht gehen – also einen Unterricht der geteilten Klassen organisieren, bei dem die eine Hälfte in der Schule, die andere im Tages- oder Wochenwechsel zuhause lernt. Zur Überraschung vieler Lehrer und Schulleiter lehnten die Kultusminister der Länder das aber seit dem Sommer strikt ab: Schulen und Kitas seien „nicht nur Orte des Lernens, sondern auch des Lebens“, man halte an Präsenzunterricht als Regelbetrieb fest, betonte Hubig wieder und wieder.
Hubig ist derzeit auch Präsidentin der Kultusministerkonferenz, ihr Wort hat Gewicht. Die Linie der Kultusminister ist eine Konsequenz aus dem Lockdown im Frühjahr: Damals mussten die Schulen sehr plötzlich in die Schließung, das deutsche Schulsystem war darauf in den meisten Fällen so gut wie nicht vorbereitet. Kaum Laptops oder Tablets, fast keine digitalen Inhalte – viele Familien erlebten, dass sich die Lehrer ihrer Kinder nicht einmal meldeten und höchsten Arbeitsblätter per Post vorbeischickten. Die Konsequenz: Kinder mit schlechten Lernbedingungen blieben auf der Strecke, die Politik wurde wochenlang mit Negativschlagzeilen über die mangelhafte digitale Ausstattung und die fehlende digitale Unterrichtskompetenz konfrontiert.
Die Schulen reagierten mit der Entwicklung von verschiedenen Modellen für den Wechselunterricht, die Politik selbst hatte das gefordert. Dann kam der Herbst, die Infektionszahlen schnellten in die Höhe, die Politik rief den Wellenbrecher-Lockdown aus – doch die Politik blieb stur: Die Schulen seien sicher, sie müssten offen bleiben, Punkt. In den Schulen wuchsen derweil Angst und Sorgen: „Ich frage mich, wann endlich Szenario 2 kommt“, sagte eine Schulleiterin aus Rheinland-Pfalz gegenüber Mainz& und forderte: „Die Klassen müssen endlich geteilt werden – sonst können wir auch Essen gehen und Karneval feiern!“
33 Schüler in einem Klassenraum, Abstand halten unmöglich, gleichzeitig scharfe Kontaktbeschränkungen in der Freizeit – das sei doch völlig widersinnig, schimpfte auch die CDU-Opposition: „Präsenzunterricht ist die beste Möglichkeit, aber das allein wird uns nicht durch die nächsten Monate tragen“, warnte der CDU-Spitzenkandidat für die Landtagswahl, Landes-Fraktionschef Christian Baldauf bereits Anfang November: Es sei doch „eine Illusion, dass die steigenden Infektionen auf Dauer vor den Schulen halt machen.“
„Wir brauchen eine ehrlichere Diskussion, was Infektionen in Schulen angeht“, forderte auch der Landeschef der Lehrergewerkschaft GEW, Klaus-Peter Hammer, im Gespräch mit Mainz&: Wenn die Schulen so lange wie möglich offengehalten werden sollen, dann müsse mehr für Arbeits- und Gesundheitsschutz getan werden. Dazu gehöre auch, bei hohen Infektionszahlen Klassen zu teilen oder eben im Wechselunterricht zu arbeiten, betonte Hammer. Im Frühjahr und Sommer seien bereits viele Modelle entwickelt worden, die gut funktioniert hätten. „Wir brauchen Flexibilität und Freiräume für die Schulleitungen vor Ort, damit diese das auch umsetzen können“, forderte Hammer.
Doch genau daran hapert es: „Die Schulaufsicht ADD sagt: es läuft nichts als Präsenzunterricht“, kritisierte die CDU-Bildungsexpertin Anke Beilstein, ebenfalls Anfang November, das sei aber kurzsichtig: Bei den steigenden Infektionszahlen werde die Anwesenheit früher oder später „faktisch unterlaufen.“ Die CDU fordert deshalb flexible und intelligente Lösungen von Wechselunterricht, für den die Schulen vor Ort eigene Konzepte entwickeln dürfen – was faktisch seit dem Sommer schon geschehen sei. Die CDU schlug deshalb damals Wechselunterricht ab Klasse 7 vor, die Vorteile lägen auf der Hand: Die Klassen würden halbiert, die Ansteckungsgefahr verringert und gleichzeitig die Problematik der überfüllten Schulbusse entschärft.
Mitte November entschied sich dann die Konferenz zwischen Bund und Ländern für genau dieses Modell – allerdings erst für extreme Corona-Hotspots ab einer Sieben-Tages-Inzidenz von 200. Doch auch da noch wiederholte Ministerin Hubig das Mantra: Schulen seien sicher, der Präsenzunterricht das allein richtige Modell, Schulen seien „keine Treiber“ der Pandemie. „Es nützt doch nichts, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren und das gebetsmühlenartig zu wiederholen“, schimpfte die Landesvorsitzende des Philologenverbandes, Cornelia Schwartz: „Das ist kein Konzept, das ist eine Kapitulation vor dem Virus.“
Vergangenen Montag dann lud Ministerin Hubig führende Wissenschaftler in Sachen Corona-Pandemie zu einer Videokonferenz, Hauptthema war die Frage, wie hoch die Ansteckungsgefahr in den Schulen denn nun tatsächlich sei. Geladen waren unter anderem der Virologe Alexander Kekulé aus Halle, die Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie in Rheine, Jana Schroeder sowie der Leipziger Epidemiologieprofessor Markus Scholz.
In einer Pressemitteilung am Dienstag aus dem Hause Hubig hieß es dann: „Schulen sind keine Treiber der Pandemie, hier war sich die Mehrheit der Expertinnen und Experten sehr einig.“ Die Expertenanhörung habe „noch einmal verdeutlicht“, dass die Ansteckungusgefahr in Schulen äußerst gering sei, und dass die in Schulen geltenden Schutzmaßnahmen Wirkung zeigten. Übertragungen, so zitierte die Pressemitteilung den Virologen Kekulé, „fänden bei Jugendlichen eher im privaten als im schulischen Kontext statt, wo es Hygienemaßnahmen gibt, hier war sich die Mehrheit der Experten sehr einig.“
Dumm nur: Genau dieser Experte, aber auch weitere Wissenschaftler, widersprachen danach vehement. Die ihm in den Mund gelegten Sätze „sind nicht von mir“, wiedersprach umgehend Kekulé in einer Stellungnahme an das Ministerium: Man solle ihn doch bitte nur korrekt zitieren. Ähnlich äußerte sich auch Chefärztin Schroeder: „Dass ‚die Mehrheit‘ der Experten sich in dem Statement einig war, ist schlichtweg falsch“, schrieb Schroeder in einer Stellungnahme an das Ministerium, die Mainz& vorliegt. Der Text „suggeriert, ich hätte als Expertin inhaltlich zugestimmt, was nicht der Fall war“, beschwerte sich Schroeder weiter und forderte: „Ich erwarte, dass Sie dies entweder richtigstellen oder meinen Namen unter Ihrem Statement entfernen.“
Die Pressemitteilung sei weder mit ihm abgestimmt noch könne er sie inhaltlich unterstützen, kritisierte auch der Leipziger Professor Scholz, der in der Mitteilung zudem zum „wissenschaftlichen Assistenten“ gemacht wurde. „Die Erklärung suggeriert eine Einigkeit, die dem tatsächlichen Diskussionsverlauf nicht entspricht“, kritisierte Scholz weiter: „Ich protestiere hiermit gegen dieses Vorgehen und diese Art der Vereinnahmung und Verfälschung und bitte um Streichung meines Namens unter der Erklärung.“ Statt „ernsthafter inhaltlicher Auseinandersetzung mit dieser Problematik“, enthalte die Erklärung „mehr oder weniger reine Propaganda“, schimpfte Scholz.
Der Vorfall warf umgehend hohe Wellen in der Schulszene: „Das schlägt dem Fass den Boden aus“, schimpfte eine Lehrerin, die Ministerin „verbreitet nur Wunschdenken“, kritisierte ein Kommentator auf Facebook auf der Seite der Fachzeitschrift „News4Teachers“. „Immer noch zu behaupten, Schulen seien keine Treiber der Pandemie ist der absolute Hohn“, schrieb eine Lehrerin aus Rheinland-Pfalz: Sie habe inzwischen Corona, angesteckt worden sei sie von ihrem Sohn, der das Virus aus der Schule mitgebracht habe: „Warum hat man nicht schon nach den Ferien mit Hybridunterricht begonnen?“
Ministerin Hubig ruderte daraufhin am Mittwoch im Bildungsausschuss zurück: Der Fehler sei in der Pressestelle passiert, die Aussagen Kekulés seien dort versehentlich „verkürzt und missverständlich“ dargestellt worden – man habe sich umgehend bei dem Experten entschuldigt und die Zitate geändert. „Ich kann mich der Entschuldigung nur anschließen“, sagte Hubig weiter, „Fehler passieren nun einmal.“ Doch das reichte nicht aus: Im Netz warfen Lehrer und Eltern der Ministerin derweil „Verbohrtheit“ und „Wunschdenken“ vor, Hubig sei „in ihrem Amt nicht mehr tragbar“, schrieb mehr als ein Kommentator.
Ministerin Hubig interpretiere Studien einfach so, „dass Schulen quasi ‚Nullrisikogebiete‘ sind, das ist schlichtweg unhaltbar und unverantwortlich“, schimpfte die CDU-Politikerin Beilstein: Die Ministerin habe „die Aussagen von Wissenschaftlern dazu herangezogen, eine eigene Meinung zu untermauern, statt dem fachlichen Rat zu folgen, das ist unverantwortlich.“
Das Problem: Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Im September hatte das Mainzer Bildungsministerium in einer Pressemitteilung zu einer Expertenrunde behauptet, die Experten sähen mobile Luftreinigungsanlagen kritisch – auch hier widersprachen Experten wie der Münchner Professor Christian Kähler umgehend: Er habe genau das Gegenteil gesagt – nämlich, dass hochwertige Lüftungsgeräte ein viel höheres Maß an Sicherheit böten als reines Lüften. Zu diesem Zeitpunkt lehnte Hubig nachdrücklich Forderungen nach mobilen Luftreinigern in Schulen ab.
„Wenn ein solcher Vorfall zum zweiten Mal passiert, wirft das Fragen auf“, sagte Beilstein. Es gehe ja auch „nicht um zwei, drei falsche Worte“, vielmehr wurde der komplette Inhalt die Wissenschaftler in einem „völlig falschen Duktus“ wiedergegeben. Dass die Ministerin „das Infektionsrisiko an Schulen kleinredet“ und sich so vehement gegen Wechselunterricht sperre, „ist schon schlimm genug“, kritisierte Beilstein. Dass sie nun aber „auch noch namhafte Experten missbraucht und deren Stellungnahme falsch wiedergibt, um ihre eigene höchst problematische Haltung zu untermauern, ist skandalös.“
Am Donnerstag konferierten die Ministerin und ihr Staatssekretär schließlich persönlich mit den verschiedenen Experten, um Irritationen auszuräumen. Das Ergebnis: Eine neue Stellungnahme wurde veröffentlicht, darin erhielten die Experten der Montagsrunde noch einmal die Gelegenheit, ihre Position ausführlich und korrekt darzustellen. Und darin zeigt sich: Die Experten sehen Kinder auch unter 14 Jahren inzwischen als genauso infektiös wie Erwachsene – und betonten, auch in Schulen und Kitas werde das Coronavirus verbreitet.
Man könne aus den inzwischen vorliegenden Daten eben nicht schließen, dass Kinder „keine Rolle im Infektionsgeschehen haben“, betont nun Chefärztin Schroeder: Die Zahl der Neuinfektionen sinke trotz Teil-Lockdown nicht adäquat, „wir sehen, dass es auch in Schulen zu Übertragungen, zu Superspreader-Events kommen kann.“ Auch andere Experten bestätigten diese Einschätzung: In der sächsischen Schüler-Lehrerstudie habe die Häufigkeit einer Covid19-Infektion bei Schulkindern „die Häufigkeit der Infektion in der Gesamtbevölkerung reflektiert“, sagte Professor Wieland Kieß, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig. Gerade Kieß aber hatte Hubig noch am Mittwoch im Bildungsausschuss als Kronzeugen dafür angeführt, dass sich Kinder in Schulen deutlich weniger häufig ansteckten als außerhalb.
0,97 Prozent betrage die Ansteckungsrate innerhalb von Bildungseinrichtungen in Rheinland-Pfalz, betonte Hubig, in Privathaushalten liege das Risiko dagegen bei 18,8 Prozent. Die Zahlen stammen aus einer Studie des Landesuntersuchungsamtes Rheinland-Pfalz, die seit den Sommerferien die Ansteckungsgefahr in Schulen untersucht. Nach der „Secondary Attack Rate in Schools Surveillance“ sei die Ansteckungsgefahr in Schulen „sehr gering, maßgebliche Übertragungsraten sind dort nicht festzustellen“, zitierte Hubig im Ausschuss.
Die Studie stütze sich aber nur auf Daten der Gesundheitsämter, Ansteckungscluster würden so gar nicht erfasst, sagt hingegen der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz im Gespräch mit Mainz& und warnt: „Wir haben eine ganz starke Verzerrung in den Daten.“ Viele Untersuchungen stammten nämlich aus dem Sommer oder dem ersten Lockdown im Frühjahr, inzwischen zeige sich aber ein ganz anderes Bild: „In der ersten Welle war die Gruppe der 0- bis 15-Jährigen kaum vertreten“, sagte Scholz gegenüber Mainz& – jetzt gebe es eine 15-fach höhere Infektionsrate unter Kindern.
„Es gibt massive Ausbrüche an Schulen, und es gibt verstärkt Kind-zu-Kind-Ansteckung“, betonte Scholz. Auch die Behauptung, es würde an Grundschulen nichts passieren, sei nicht mehr richtig. „An meinem Wohnort sind derzeit alle Grundschulen und Kitas betroffen“, berichtete der Professor aus Sachsen. Er rechne mit einer hohen Dunkelziffer, weil Klassen und Kinder nicht mehr konsequent getestet würden – die Daten der Gesundheitsämter allein spiegelten die reale Lage nicht wieder, „da lügt man sich ganz gewaltig in die Tasche“, warnte Scholz. Er habe deshalb in der Runde am Montag gesagt: „Wenn man die Schulen offenhalten möchte, muss man sie sehr genau überwachen.“
„Wir wissen nicht wirklich, was an den Schulen los ist, wir fahren im Blindflug“, kritisierte auch die Chefin des Philologenverbandes, Schwartz – genau dadurch aber riskiere das Ministerium Schulschließungen. „Wir brauchen das ganze Instrumentarium, also auch die Mindestabstände“, forderte Schwartz, einen Wechselunterricht ab einer Inzidenz von 200 sei viel zu spät. „Räume dazunehmen, Lerngruppen verkleinern, vielleicht zeitversetzt unterrichten oder Klassen halbieren – das macht wirklich Sinn“, sagte auch GEW-Chef Hammer.
Auch in vielen Schulen wünscht man sich das sehr: „Wir würden eine Halbierung sehr befürworten“, sagte ein Schulleiter im Gespräch mit Mainz&: „Es kann doch nicht sein, dass man einen Lockdown macht, die Restaurants schließen müssen, und bei uns knubbeln sich alle in der Mensa.“ Die halbierten Gruppen im ersten Lockdown seien übrigens eine großartige Erfahrung gewesen, berichtet der Schulleiter weiter: „Das war eine unglaublich konzentrierte Arbeitsatmosphäre, es gab keine Pausenkonflikte und keine Unfälle“, berichtet er: „Wir haben fast das doppelte an Stoff durchgekriegt, da war eine Ruhe, eine Konzentration, das war irre.“
Diese Ruhe könnte nun doch noch durch die Wucht der Zahlen erzwungen werden: Nach dem neuen Höchststand mit fast 30.000 Neuinfektionen und fast 600 Todesfällen an einem einzigen Tag wollen Bund und Länder nun am Sonntag über einen harten Lockdown entscheiden – womöglich sogar noch vor Weihnachten. Von einem solchen Lockdown seien dann sicher auch Kitas und Schulen betroffen, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) am Freitag – Kinder sollten aber ab dem 4. Januar bis voraussichtlich zum 10. Januar „nicht in Präsenz in die Schulen kommen“, ab dem 4. Januar sei „Fernunterricht das Naheliegende.“
Info& auf Mainz&: Mehr zu den Plänen für einen harten Lockdown in Deutschland lest Ihr hier bei Mainz&, mehr zum Thema Wechselunterricht und der Weigerung der Politik haben wir in dieser Mainz&-Analyse berichtet: 6 Gründe, warum die Corona-Zahlen nicht sinken. Einen harten Lockdown samt Schulschließungen, verlängerten Weihnachtsferien und digitalem Fernunterricht hatte am Dienstag auch die Wissenschaftsakademie Leopoldina gefordert, mehr dazu lest Ihr hier bei Mainz&.