Deutschland ist auf dem Weg in eine hochgefährliche dritte Welle der Corona-Pandemie, trotzdem sind die Nachrichten voll von Forderungen nach Lockerungen – wie geht das zusammen? Das ZDF-Politbarometer wartete am Freitagabend mit einer brisanten Analyse dazu auf: Die Mehrheit der Deutschen habe seit Beginn der Pandemie nie Lockerungen gewollt, sondern stets mit deutlicher Mehrheit strengere Maßnahmen wie Lockdowns befürwortet, bilanziert die Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF. Mehr noch: Eine Lobby aus Wirtschaft, Verbänden und einzelnen Politikern wie FDP-Chef Christian Lindner habe „Stimmung gemacht“ für Öffnungen – und die Politik damit massiv unter Druck gesetzt.
Kaum wirkte der scharfe Januar-Lockdown und brachte die Corona-Infektionszahlen endlich wieder nach unten, begann auch schon das Trommelfeuer der Lockerungsforderungen: Der Handelsverband Deutschland (HDE) forderte Mitte Februar einen Öffnungsplan und argumentierte, der Einzelhandel habe in den vergangenen Monaten bewiesen, dass der Einkauf nicht zum Hotspot werde. Der Hotel- und Gaststättenverband DEHOGA forderte die Politik auf, „den harten Lockdown zu beenden und umgehend ein Konzept für eine verantwortungsvolle Öffnungsstrategie vorzulegen und in Rheinland-Pfalz umzusetzen.“
Die Dehoga veranstaltete kurz vor der Landtagswahl eine Mahnwache in Mainz, prompt kündigte dort Ministerpäsidentin Malu Dreyer (SPD) völlig überraschend die Öffnung der Außengastronomie „notfalls im Alleingang“ an – und setzte das auch vor einer Wochen trotz rasant steigender Corona-Zahlen um. An diesem Freitag dann kündigte Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) überraschend an, das Saarland werde nach Ostern den Lockdown beenden und eine Art „Tübinger Modell“ mit Tests im ganzen Bundesland umsetzen – am selben Tag warnte das Robert-Koch-Institut eindringlich davor, die Gefahr der dritten Welle zu unterschätzen.
Begründet wurden die Lockerungsforderungen stets mit der Erzählung, die Menschen in Deutschland hätten „die Schnauze voll“ von strengen Corona-Maßnahmen – so hatte es kürzlich noch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) gesagt. Das neueste ZDF-Politbarometer aber entlarvt diese Behauptung als falsch: „Wir hatten noch nie eine Mehrheit für Lockerungen“, zitiert der Sender Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. Seit Beginn der Corona-Krise habe es konstant immer eine Mehrheit für das „Team Vorsicht“ gegeben – aktuell sagten 36 Prozent der Befragten, die aktuell geltenden Corona-Maßnahmen müssten härter ausfallen. 31 Prozent finden sie „gerade richtig“ – und nur 26 Prozent halten sie für „übertrieben“.
Seit Beginn der Corona-Krise stelle die Forschungsgruppe den Menschen immer dieselbe Frage: „Finden Sie die Maßnahmen übertrieben, genau richtig oder zu lasch“, erklärt Jung – seit der Beginn der Pandemie habe es dabei immer eine Mehrheit für strenge Regeln und gegen Lockerungen gegeben. Die Mehrheit habe immer die aktuellen Maßnahmen unterstützt oder sich noch schärfere gewünscht, sagte Jung – Lockerungen seien nur dann befürwortet worden, wenn die Infektionszahlen dabei nicht nach oben schnellten.
Trotzdem habe der Beobachter im Februar den Eindruck gewinnen können, eine Mehrheit in Deutschland wolle Öffnungen, sagte der Meinungsforscher weiter – und verwies auf Schlagzeilen wie „Lockerungen jetzt“ in der „Welt“ oder die konstanten Forderungen von FDP-Chef Christian Lindner: „Erste Lockerungsschritte wären möglich.“ Dieser Versuch, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sei auf Lobbyarbeit der Wirtschaft zurückzuführen, sagt Jung explizit: „Verbände waren präsent in den Medien, sie hatten ein Interesse an Lockerungen“ – da sei ein „organisiertes Interesse“ öffentlich unterwegs gewesen, der Druck auf die Politik sei dadurch immens gewachsen.
Tatsächlich standen auch die Verbände unter dem Druck ihrer Mitglieder, gerade im Einzelhandel und in der Gastronomie stehen viele Selbstständige mit dem Rücken zu Wand, auch weil die staatlichen Hilfen bei vielen noch immer gar nicht oder nur spärlich ankommen. Doch gleichzeitig blockierten Wirtschaftsvertreter seit Beginn der Pandemie auch immer wieder dringend notwendige Maßnahmen wie Homeoffice-Regelungen oder jüngst gerade eine Testpflicht in Unternehmen – brauche man nicht, könne man nicht, dürfe die Politik nicht.
Meinungsforscher Jung warf der Politik nun vor, zu viel auf Wirtschaftsvertreter und Lobbyisten, und zu wenig auf die wahre Stimmung in der Bevölkerung geachtet zu haben: „Politik entkoppelt sich folglich vom Rat der Wissenschaftler und dem Stimmungsbild der Bevölkerung“, heißt es beim Politbarometer.
Info& auf Mainz&: Den gesamten Bericht zum ZDF-Politbarometer vom 26. März 2021 findet Ihr hier im Internet, mehr zum Druck der Wirtschaft könnt Ihr hier bei Mainz& noch einmal nachlesen, den Bericht über die Dehoga-Mahnwache findet Ihr hier.