„Zwei Jahre Pandemie“, seufzt der Sitzungspräsident, zwei Jahre „ohne Schunkeln und Helau, beim GCV“ – nein, das ist einfach nicht auszuhalten. Also lud der Gonsenheimer Carneval-Verein (GCV) am Samstag zu seiner zweiten Streamung, und wagte dabei den digitalen Spagat: Rund 100 Zuschauer im Saal, mehrere Hundert draußen vor den Bildschirmen – nicht immer passte das so richtig gut übereinander. Drei Stunden Narretei, hatte der GCV versprochen, am Ende wurden es fünf Stunden Narren-Feuerwerk mit großer Polit-Kritik und viel ausgelassenem Kokolores. Doch so ganz ist eben noch nicht „Alles wieder gut“, die Zeitreise-Bütt fliegt noch, und die Narren können nur hoffen, dass schon nächstes Jahr alles wieder weg ist…
„Wir haben irgendwie, irgendwo, irgendwann in diesem Raum-Zeit-Kontinuum einen Fehler gemacht“, sagt Zeitreisender Matthias Bockius ratlos: „Der Saal ist immer noch halb leer, es ist immer noch nicht alles wieder gut – was machen wir denn jetzt?“ Gerade eben ist die Zeitreise-Bütt aus dem Jahr 2021 auf der Bühne der Gonsenheimer TSG-Halle gelandet, doch trotz Opfer an Gott Jokus, trotz allen Einsatzes, Dichtens und Singens – die Corona-Pandemie ist immer noch da, also wo ist bloß der Fehler?
Vergangenes Jahr waren die Narren vom Gonsenheimer Carneval-Verein (GCV) zu einem Experiment gestartet: Statt Sitzung Streamung, statt vollem Saal Fastnacht im Netz – und zwei verrückte Brüder mit dem Nachnamen Bockius, die auf der Suche nach der Fastnachts in ihrer Bütt durch Raum und Zeit eilten. Jetzt sind die Brüder – nach Crash mit der Tempo 30-Radarfalle auf der Rheinallee – wieder in Gonsenheim gelandet, und müssen feststellen: Nein, gut ist noch lange nicht alles. „Was machen wir denn jetzt“, fragt Matze Bockius, und sein Bruder Andy antwortet: „Was wir am besten können: niemals die Hoffnung, und niemals den Humor verlieren.“
Und so startet die GCV-Crew zur zweiten Kampagne unter Corona-Bedingungen, doch etwas ist dieses Jahr anders: „Das sitzen ja reale Menschen im Saal“, staunt Sitzungspräsident Sebastian Grom, und in der Tat: Die jüngsten Lockerungen bei den Corona-Regeln machen ein kleines, aber lautes Publikum möglich, das so ausgelassen feiert, dass die Zuschauer an den Bildschirmen nun neidisch in die Röhre gucken können. „Wir können sagen: wir sind zurück!“, freut sich Grom auf der Bühne, und verspricht: „Wir wollen heute so nah dran sein an einer richtigen Sitzung, wie es geht.“
Und genau das tut der GCV dann auch: Einmarsch, Protokoll, Ballett und Musik – die Gonsenheimer brennen eine randvolle Sitzung ab, und man merkt, wie sehr die Fastnachter auf der Bühne das vermisst haben. Allerdings merkt der Zuschauer am heimischen Bildschirm eben auch: Nicht alles, was im Saal so zündet, funktioniert auch am heimischen Wohnzimmertisch, und so hat die digitale Seite der Streamung durchaus auch mal ihre Längen. Fünf Stunden lassen sich eben in einer vollen Halle mitreißend und mitschunkelnd wunderbar durchstehen, vor dem Fernseher braucht es da ordentlich Sitzfleisch – nicht umsonst waren die Streamungen im Vorjahr alle deutlich kürzer und speziell auf das Medium Fernsehen zugeschnitten.
Wer aber durchhielt, wurde mit einem bunten Feuerwerk und vor allem mit viel großer Polit-Kritik belohnt. Die Topthemen dabei eindeutig: Gendern, Corona-Regeln, Kirche, Biontech-Millionen und die neue Ampel-Regierung – allen voran ein neuer Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), für den die Narren gleich reihenweise Vermisstenanzeigen aufgaben. Da wünschte Thorsten Schäfer in neuer Rolle als Schnorreswackler dem neuen Kanzler „viel Glück“, und bat zugleich: „Doch Olaf, meld‘ dich mal zurück!“ Denn als deutscher Kanzler werde man „zum Schweigen nicht gewählt“, mahnt Schäfer, der sich an einen komplett gereimten Vortrag wagt, und dabei nicht an Kritik Richtung Kirche, Kiffen und eben Kanzler spart.
„Ach herrje, der Heilsbringer der SPD“, reimt gleich zu Beginn der Sitzung Erhard Grom. Der Altmeister bringt wieder einmal ein Protokoll in die Bütt, das vor Schwung und Wortkaskaden nur so strotzt – zeitweise wird das Protokoll geradewegs zum Polit-Rapp, und man merkte: Hier redet sich schon mal einer für „Mainz bleibt Mainz“ warm. Grom teilt aus nach rechts wie links, lässt Holzkopf-Puppe Olaf tanzen, rechnet mit „Hanswurst“ Boris Johnson ab, und schafft es am Ende tatsächlich, alle Schrecken und Wendungen des Jahres 2021 abzubilden – Respekt.
Eilig haben es auch die Schnorreswackler: Der Sangeschor hat noch einmal seine Ultra-Kurzsitzung im Gepäck, die erstmals bei den GCV-Kammerspielen 2016 das Licht der Welt erblickte. Eine komplette Fastnachtssitzung in 4.11 Minuten mit Büttenreden, Ballett, Margittche, Obermessdiener und Hofsängern – das schaffen nur die Schnorreswackler. Und dabei sei die Truppe „von Corona ordentlich durchgeschüttelt“ worden, verrät Grom, nicht alle Sänger waren am Samstag dabei – hoffentlich ändert sich das noch bis Fastnachtsfreitag. Denn dann dürften die Schnorreswackler mit ihrer zweiten Nummer des Abends zu sehen sein: Den närrischen Ampel-Koalitionsverhandlungen.
„Ich find Dich Scheisse!“, singen die Schnorreswackler da – ja, Koalitionsverhandlungen sind nicht leicht: „Wir wollen aufsteh’n, aufeinander zugeh’n, voneinander lernen – soll ich’s wirklich machen, oder lass ich’s lieber sein?“ Ein absolut furioser musikalischer Narren-Ritt bis hin zum Koalitions-Ja, der nahtlos an den großen Erfolg mit dem „Närrischen Bundestag“ von 2018 anschließt. Immer wieder aber arbeiten sich die Narren an der Corona-Politik ab, das gilt für Johannes Bersch, der als „Moguntia“ nun auch beim GCV auf den Brettern steht, und süffisant seufzt: „Freuen wir uns alle auf ein durchseuchtes Jahr, auf dass wir alle positiv zurückschauen.“ (Mehr zu Bersch und seiner Moguntia lest Ihr hier bei Mainz&).
Das gilt aber vor allem auch für Sitzungspräsident Grom, der nämlich in diesem Jahr als „Lothar Schieler“ vom „Becker-Loch-Institut“ vorbei schaut. Das ist genauso angestaubt wie das große Vorbild Robert-Koch-Institut, und hat doch eine ganze Reihe ungeschönte Narrenweisheiten im Gepäck: „Früher waren wir das Land der Dichter und Denker, heute sind wir das Land der nicht ganz dichten Querdenker“, seufzt Grom, und schreibt den selbst ernannten „Spaziergängern“ ins Stammbuch: „Man demonstriert nicht vor den Privathäusern von Politikern, und schon gar nicht angeführt von hirnlosen Nazis. Punkt.“
Das Publikum dankt mit langanhaltenden Standing Ovations – und Grom ist beileibe nicht der einzige, der an diesem Abend Klartext redet. „Wenn Du spazieren gehst, haste keine Zeit, dich impfen zu lassen“, erklärt Christian Schier dem Zeitreisenden aus der Vergangenheit, „in 300.000 Jahren Menschlichkeit sind wir nicht weit gekommen…“ Das Komikerduo Martin Heininger und Christian Schier widmet sich ebenfalls dem Thema Corona, und beamt dazu einfach einen Zeitgenossen der Spanischen Grippe 100 Jahre in die Zukunft, und der muss feststellen: Die glorreiche Zukunft mit technischem Fortschritt und einer modernen politischen Führung – auch im Jahr 2022 ist das nur ein schöner Traum.
Wenn selbst das Privateste politisch wird, bleibt für den Kokolores nicht mehr viel Raum, und so arbeiten sich Fernsehkoch Jacques alias Johannes Emrich und Marius Hohmann als sein Gast eher mühsam durch ihre Kochshow, während Rudi Hube als Allzweck-Waffe in der Telefonzentrale für die Lokalspitzen zuständig ist. Zwischendurch schwingen Laura Heinz das Mikrofon, die Balletts der Füsiliergarde und das GCV-Ballett schwungvoll die Beine, Oli Mager sein neues Einhorn-Lied (und so manchen alten Hit), und die Fleischworschtathleten ihre Tuba – letztere allerdings müssen dem Zeitgeist Tribut zollen: Statt „Männer mit der Narrenkapp“, heißt es jetzt auch „Mädscher mit de Narrenkapp“ – das könnte doch was werden…
Wer jetzt noch immer Sitzfleisch hat, wird mit einer furiosen zweiten Halbzeit der Streamung belohnt – angefangen mit der höchst närrischen James Bond-Nachfolger-Audition der „Doppelagenten 0014“ Thomas Becker und Frank Brunswig. Unbeschreiblich. Zwischen „Moguntia“ und Heininger & Schier zelebriert die „Herpes House Band“ noch ihr politisch völlig korrektes „Rotkäppchen“-Märchen, natürlich mit Migrationshintergrund, gewaltfrei und mit viel Lokalbezug – eine herrliche und grandios geschauspielerte Persiflage auf das Fernsehbusiness und zugleich den grassierenden „Political Correctness“-Hype.
Die Highlights aber setzen erneut die Bockius-Brüder mit ihrer Zeitreise-Bütt, die nicht nur mühelos minutenlange Technikpannen überbrücken können, sondern dieses Mal auch an starken Versen nicht sparen: „Hass und Hetze haben keine Chance, Gott Jokus steht für Toleranz“, schreiben die beiden der Gesellschaft ins Stammbuch: „Intolerant und ewig gestrig – so will und darf ein Narr nicht sein.“ Ihr „Vers, der den Narren definiert“ gehört dann schon in die Kategorie gehobene literarisch-melancholische Fastnacht, aber natürlich haben die Brüder auch Musik im Gepäck – und zwar neben ihrem neuen Super-Hit „Alles wieder gut“ auch eine Fortsetzung des alten Hits „Katrin, mach mir en Baustell'“ nämlich…
Zur wahren Sturmflut in Sachen Polit-Kritik aber gerät Lars Reichows Schlussvortrag: Bissig, spritzig, gut aufgelegt wie selten, spart der nicht mit Kritik nach allen Seiten: „Wir haben uns die Stadt schön getrunken, seit über 70 Jahren“, konstatiert er über Mainz: „Im Rathaus sind gerade alle besoffen oder als Scheich verkleidet“, schließlich sprudeln die Biontech-Millionen wie Wasser in die städtischen Auffangbecken. „Wir brauchen jetzt dringend neue Vororte, wir werden Städte zukaufen müssen“, seufzt Reichow, „wir haben vor zwei Wochen in Wiesbaden nach russischem Vorbild Mainzer Pässe verteilt…“
Die Kirche hat sich derweil den „bösartigen Virus Woelki 0815“ eingefangen, doch während „jetzt alle auf den Auferstehungswirkstoff Maria hoffen“, blockiert Rom alle Zulassungen für Impfstoffe – ob Kirche, Russen oder türkische Präsidenten, „aggressive, feuerspeiende Drachen-Dikataturen“ oder „verlogene olympische Schmierlappen“ – nichts und niemand ist vor des Kabarettisten spitzer Feder sicher. Den Klartext gibt es gratis dazu: „Mit Nazis, Leugnern, Rassisten, gewaltbereiten Querdenkern und sonstigen Staatsfeinden gibt es auch nach dem Ende der Pandemie keine Versöhnung“, sagt Reichow: „Wer die Demokratie nur aushöhlen will, wer sie verachtet, der kann nicht mit ihrem Schutz rechnen.“
Und so machen die Mainzer Narren da weiter, wo sie durch die Corona-Pandemie auch nie aufgehört haben: Sie werden laut gegen Intoleranz und Demokratiefeinde, sie halten der Gesellschaft den Spiegel vor, und sie legen den Finger in die Wunden der Republik – und weiß Gott Jokus: Das sind viele. Die Aussichten indes sind gut: „Pandemien kommen und gehen“, verspricht Reichow. Nächstes Jahr, versprochen, wird bestimmt alles wieder gut.
P.S.: Und nein, wir haben das Highlight zu Beginn der Sitzung nicht vergessen: Die wunderbare Swing-Hommage von Rudi Hube und Peter Büttner an den jüngst verstorbenen Joe Ludwig mit „Wir Gunsenumer sind die scheenste Leit“. Schon jetzt ein Klassiker. Und deswegen haben wir das ganze Lied für Euch im Video abgedreht – bittesehr: Hier auf unserem Mainz&-Youtube-Kanal.
Info& auf Mainz&: Mehr zum Programm der Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz“ in diesem Jahr findet Ihr hier bei Mainz&. Und natürlich – unsere Fotogalerie. Sollten wir jemanden nicht getroffen oder schlecht erwischt haben, seht es uns nach: Wir saßen am Livestream und nicht im Saal.