Wo steht das Ahrtal zwei Jahre nach der verheerenden Flutkatastrophe? Die Bilanz fällt zwiespältig aus, und vielerorts ernüchternd: Im Ahrtal liegen zwei Jahre nach der Flut Licht und Schatten dicht nebeneinander. Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sprach am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Mainzer Landtag von „Lichtblicken“ im Ahrtal. Doch eine Entschuldigung für die Versäumnisse ihrer Regierung vor, während und nach der Flut lieferte Dreyer erneut nicht – die Opposition geißelte das. Derweil herrscht im Ahrtal vielerorts Frust und Erschöpfung, vor allem angesichts der bürokratischen Regeln des Wiederaufbaus.

Die Bahnstation von Dernau im Juli 2023, zwei Jahre nach der Flut. - Foto: gik
Die Bahnstation von Dernau im Juli 2023, zwei Jahre nach der Flut. – Foto: gik

Es war vor zwei Jahren, als sich am späten Nachmittag des 14. Juli 2021 eine gigantische Flutwelle im oberen Ahrtal aufbaute, und binnen neun Stunden das gesamte Tal verwüstete. Auf rund 40 Kilometern wurden 9.000 Gebäude stark beschädigt oder sogar zerstört, auch heute, zwei Jahre nach der Flut, müssen noch immer Häuser wegen der starken Beschädigungen abgerissen werden. 62 Brücken entlang des Ahrtals wurden von der Flutwelle 2021 komplett zerstört, 13 weitere stark beschädigt. Bahnschienen wurden weggerissen, Bahnbrücken vernichtet – bis heute bleibt die Infrastruktur im Tal stark eingeschränkt. Mancherorts wie in Dernau fehlt gar noch immer eine Straßenbeleuchtung.

Zwei Jahre danach fährt die Ahrtalbahn wieder – aber nur auf der Hälfte der insgesamt 28 Kilometer langen Strecke. Letter Halt ist noch immer Walporzheim, jenseits davon bleiben Bahndämme verwüstet, sind Gleise herausgerissen und dämmern Bahnhöfe wie verlassene Geisterorte dahin. Der Wiederaufbau samt Elektrifizierung der Strecke werde noch bis Ende 2025 dauern, heißt es bei der Deutschen Bahn – die Herausforderungen sind riesig: In dem engen Tal müssen Brücken und Trassen neu gebaut werden, entstehen soll eine Hochwasser-resiliente Strecke mit Brücken und Bahndämmen.

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Dreyer: Ahrtal ist die größte Baustelle Deutschlands

Das Ahrtal sei derzeit „die größte Baustelle Deutschlands“, sagte Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) denn auch am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Mainzer Landtag – kurz nach dem zweiten Jahrestag der Flutkatastrophe ging es darum, Bilanz zu ziehen. Und die fiel sogar bei der Ministerpräsidentin zwiespältig aus: „Zwei Jahre nach der Flut liegen im Ahrtal Licht und Schatten eng beieinander – manchmal in derselben Straße“, räumte Dreyer ein, betonte aber zugleich: „Überall gibt es kleine und große Lichtblicke.“

Gigantische Zerstörungen im Ahrtal nach der Flutkatastrophe des 14. Juli 2021. - Foto: Polizei RLP
Gigantische Zerstörungen im Ahrtal nach der Flutkatastrophe des 14. Juli 2021. – Foto: Polizei RLP

Zwei Jahre nach der Flut seien wichtige Brücke und Straßen wieder befahrbar, viele Rathäuser und Ämter saniert, die Wochenmärkte wieder belebt, betonte Dreyer. Die Menschen hätten das Ahrtal nach der Flut eben nicht verlassen, sondern wagten trotz zutiefst traumatischer Erlebnisse den Neuanfang. Es gebe „eine große Heimatliebe“, von 46 Haupterwerbs-Winzern im Tal habe nur einer aufgegeben – und der aus anderen Gründen als die Flut.

Und Dreyer verbeugte sich dabei erstmals auch explizit vor den Hunderttausenden von Helfern, die nach der Katastrophe zum Helfen ins Ahrtal gekommen waren: „Ich habe höchste Hochachtung vor all den Tausenden professionellen und ehrenamtlichen Helfern, die seit der ersten Stunde vor Ort waren und immer noch sind, und ich danke ihnen von ganzem Herzen“, sagte Dreyer. Sie sehe aber „auch diejenigen, die die Kraft zum Wiederaufbau noch nicht haben, denen das Erlebte jede Energie genommen hat“, sagte die Ministerpräsidentin. Viele Betroffene könnten erst jetzt ihre Trauer und Verzweiflung überhaupt erst zulassen, der Bedarf an psychologischen Hilfen steige.

Dritte Welle von Frust und Erschöpfung im Tal

Tatsächlich hatten professionelle Helfer der Hilfsorganisationen bereits vor mehreren Wochen von einer „dritten Welle von Frust und Erschöpfung“ im Tal berichtet. Viele Menschen seien noch nicht wieder richtig angekommen, andere hätten noch gar nicht mit dem Wiederaufbau starten können, und Familien seien oft am Ende ihrer Kräfte, berichtete Markus Bremers von der Action Medeor.

Licht und Schatten im Ahrtal: Neu hergerichtete Häuser in Dernau, zwei Jahre nach der Flut. - Foto: gik
Licht und Schatten im Ahrtal: Neu hergerichtete Häuser in Dernau, zwei Jahre nach der Flut. – Foto: gik

Es gebe immer noch „Stellen, wo es grauenhaft aussieht, sagte auch Wolfgang Heidinger vom Malteser Hilfsdienst, die Unterschiede im Ahrtal seien zwei Jahre nach der Flut riesig – und zehn Prozent der Menschen im Ahrtal würden bis heute von den staatlichen Hilfen nicht erreicht. Und die Leiterin des Traumahilfezentrums im Ahrtal, Katharina Scharping, hatte kurz vor dem Jahrestag berichtet, vielen Menschen im Ahrtal gehe es „richtig schlecht und zunehmend schlechter“. Viele seien „verzweifelt, traurig, ängstlich“, litten unter einem einer posttraumatischen Belastungsstörung – es gebe sogar Menschen, die sagten: Ich kann nicht mehr“ oder „Ich will nicht mehr leben.“

Der Fraktionschef der CDU-Opposition im Landtag, Gordon Schnieder, warf Ministerpräsidentin Dreyer denn auch vor, die Probleme im Tal kleinzureden: „Betroffene warten immer noch auf Geld, Spenden werden nicht ausgezahlt, Planungen dauern viel zu lange, überbordende Bürokratie verschlingt wertvolle Zeit“, zählte Schnieder im Landtag auf. Von rund 15 Milliarden Euro Wiederaufbauhilfen in Rheinland-Pfalz seien bis heute lediglich 1,04 Milliarden Euro bewilligt worden – und von den Wiederaufbaumitteln seien gerade einmal 38 Prozent ausgezahlt.

Müdigkeit, Erschöpfung und Wut über Behördenhürden

Tatsächlich klagen im Ahrtal viele Bauherren über überbordende Bürokratie und die regelrechte Verhinderung eines modernen Wiederaufbaus: Da würden permanent Gutachten etwa von der Landesbank ISB nachgefordert und Unterlagen, die während der Flut verloren gingen, berichten Betroffene. Und es reiche nicht, einfach „Steckdose“ beim Bedarf anzugeben – sondern dann müsse noch spezifiziert werden, ob es eine Überputz- oder Unterputz-Steckdose sei, außen oder innen…

Der Bürgermeister von Bad Neuenahr, Guido Orthen, bei der Gedenkfeier im Kurpark von Bad Neuenahr. – Foto: gik
Der Bürgermeister von Bad Neuenahr, Guido Orthen, bei der Gedenkfeier im Kurpark von Bad Neuenahr. – Foto: gik

„Jede Nachfrage einer fördernden Behörde ist eine Nachfrage zu viel“, hatte denn auch der Bürgermeister von Bad Neuenahr, Guido Orthen (CDU) dem Landeskabinett bei dessen Besuch im Ahrtal am 12.Juli ins Stammbuch geschrieben: Nicht nur die Menschen im Tal seien erschöpft, auch die Kommunen könnten mit ihren Mitarbeitern die Wiederaufbaubürokratie einfach nicht stemmen. „Die Kraft der Mitarbeiter ist endlich“, warnte Orthen, „es gibt viel Müdigkeit im Tal.“

Orthen selbst kündigte vor zwei Tagen an, eine persönliche Pause von einigen Wochen einlegen zu wollen und zu müssen. Der Bürgermeister begründete seinen Schritt mit der „anhaltenden Überlastung seit der Flutkatastrophe“, er könne „seine Leistungsfähigkeit und auch seine mentale Gesundheit ohne professionelle Hilfe nicht mehr aufrechterhalten“, schrieb Orthen laut Bonner General-Anzeiger in einem Brief an seine Bürger.

Orthen: „Brauchen zwingend eine Änderung am Wiederaufbaufonds“

In der Gedenkwoche hatte Orthen bei dem Besuch des Landeskabinetts sowie bei der Gedenkfeier am 14. Juli im Kurpark deutliche Worte gefunden. Die Antragsbürokratie müsse endlich besser werden, ein großes Problem sei zudem, dass der Wiederaufbaufonds nur einen Wiederaufbau von genau dem Zustand vor der Flut erlaube – gerade Modernisierungen oder ein Rüsten für Klimawandel werde dadurch verhindert.

Zerstörtes Haus in Mayschoß an den Ahr, zwei Jahre nach der Flut. - Foto: gik
Zerstörtes Haus in Mayschoß an den Ahr, zwei Jahre nach der Flut. – Foto: gik

Als Beispiel nannte Orthen ausgerechnet das umstrittene Heizungsgesetz: Bis bestimmte Projekte auf den Weg gebracht seien, würden bereits neue Regeln für umweltfreundliche Heizungen gelten – der Wiederaufbaufonds aber zahle nur für den Wiedereinbau der alten Gas- und Ölheizungen, die es auch vor der Flut gab. Talauf, talab erzählen Bauherren die gleiche Geschichte: der barrierefreie Ausbau einer Grundschule – wird nicht bezahlt. Das Hochwasser-angepasste Bauen eines Hauses – nicht bewilligt. Modernisierte Heizungen oder neue Vinothekskonzepte – keine Finanzierung.

„Wir brauchen zwingend eine Änderung am Wiederaufbaufonds“, forderte Orthen. Und auch Schnieder unterstrich im Landtag, das Ahrtal müsse „ganzheitlich, nachhaltig und innovativ aufgestellt werden, von der Quelle bis zur Mündung“ – doch genau das geschehe gerade nicht. Die CDU habe bereits wenige Wochen nach der Flut vorgeschlagen, das Ahrtal zu einer Sonderzone zu machen und es damit zu einer attraktiven Modellregion zu entwickeln – baulich, touristisch, bildungspolitisch, digital und klimaneutral.

Dreyer: „Fördern zukunftsgerichteten Wiederaufbau im Ahrtal“

„Ich bin enttäuscht von dieser Landesregierung, die viel versprochen aber bisher wenig geliefert hat“, bilanzierte Schnieder. Auch AfD-Fraktionschef Michael Frisch forderte erneut eine Sonderwirtschaftszone für das Ahrtal – der Landtag debattiert darüber erneut am Donnerstag.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und Bürgermeister Guido Orthen (CDU) bei der Pressekonferenz im Ahrtal. - Foto: gik
Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) und Bürgermeister Guido Orthen (CDU) bei der Pressekonferenz im Ahrtal. – Foto: gik

Dreyer hingegen betonte, die Regierung nutze „ihre vorhandenen Spielräume, und treten wo immer möglich für Vereinfachungen von Verfahren ein“ – auch dass energetische Sanierungen auch über das Gesetz hinaus förderfähig seien. „Wir fördern den zukunftsgerichteten Wiederaufbau ganzer Dörfer im mittleren Ahrtal“, betonte Dreyer. 212 Millionen Euro seien dafür „allein 2021 und 2022 aus dem Landeshaushalt ausgegeben“ worden. Die Kommunen würden nun bis zu 30 Prozent Vorausleistung für Projekte erhalten, Verfahren zur Aufstellung von Bebauungsplänen künftig vereinfacht.

„Als Ministerpräsidentin habe ich versprochen, dass das Land die Betroffenen zu keiner Zeit vergisst, dieses Versprechen leitet uns“, unterstrich Dreyer: „Sie können sich darauf verlassen: gemeinsam bauen wir nachhaltig und zukunftsstark wieder auf.“ Der Opposition reichte das nicht: „Haben Sie wirklich alle Spielräume für Vereinfachungen in den beiden vergangenen Jahren genutzt? Haben Sie wirklich alle Möglichkeiten der Planungsbeschleunigung ausgeschöpft?“, fragte Schnieder.

Debatte um Entschuldigung Dreyers

Tatsächlich hat das Land Konzepte zur Wiederherstellung des Flusslaufes der Ahr auf den Weg gebracht, ein „Nachhaltiges Tourismuskonzept 2023“ wurde entwickelt. Doch an der Ahr liegen die Ufer noch immer in Trümmerschutt danieder, und die Touristen kommen nur zögernd zurück, auch weil die Schuttberge oder die immer noch fehlenden Angebote i Tal sie abschrecken. Wer wolle schon in einem edlen Hotel chillen, wenn er auf die Häuserruinen nebenan blicken müsse, klagte ein Hotelier just am Jahrestag. „Wir brauchen einen ‚Wiederaufbau Plus‘, der mehr ist als nur die Wiederherstellung des Gewesenen“, forderte auch die Grünen-Fraktionschefin im Landtag – die Grünen regieren ind er Ampel mit, passiert ist genau das indes nicht.

Innenstadt von Ahrweiler: Licht und Schatten beim Wiederaufbau, ausbleibende Touristen. – Foto: gik
Innenstadt von Ahrweiler: Licht und Schatten beim Wiederaufbau, ausbleibende Touristen. – Foto: gik

„Die Bilanz der Landesregierung nach zwei Jahren ernüchtert“, kritisierte Schnieder deshalb: „Außer kleinen, eher kosmetischen Korrekturen und zahlreichen Ankündigungen ist nicht viel passiert. Anspruch und Wirklichkeit stehen in beachtlichem Widerspruch!“ Auch beim Katastrophenschutz fehle noch immer ein echter Fortschritt, dazu komme die inzwischen erfolgte Aufklärung der Versäumnisse aus der Flutnacht – doch bis heute weigere sich Dreyer, sich für die Fehler ehrlich zu entschuldigen.

Dreyer hatte rund um den Jahrestag in Interviews mehrfach gesagt, sie könne sich „nicht für eine Flutkatastrophe entschuldigen.“ Auch am Mittwoch gab es eine solche Entschuldigung nicht, stattdessen betonte sie: „Ich sehe meine Verantwortung als Ministerpräsidentin darin, den Wiederaufbau mit aller Kraft zu unterstützen, und den Katastrophen- und Hochwasserschutz neu aufzustellen.“

„Werfen Ihnen nicht vor, dass es am 14. Juli geregnet hat“

Es gehe doch gar nicht darum, sich „für eine Naturkatastrophe zu entschuldigen“, kritisierte auch AfD-Fraktionschef Frisch: Es gehe um das „ehrliche Eingeständnis eigener Fehler und  die aufrichtige bitte um Verzeihung“. Dass Dreyer dazu „trotz eindeutiger Faktenlage“ nicht bereit sei, sei „beschämend“, betonte Frisch – und forderte: „Treten Sie aus Respekt vor den Opfern der Flutkatastrophe von ihrem Amt zurück.“

Trümmerlandschaft in Kreuzberg an der Ahr kurz nach der Flutkatastrophe. - Foto: gik
Trümmerlandschaft in Kreuzberg an der Ahr kurz nach der Flutkatastrophe. – Foto: gik

„Natürlich werfen wir Ihnen nicht vor, dass es am 14. Juli geregnet hat“, konterte Schnieder. Aber Dreyer stehe mit ihre Kabinett für ein schwerwiegendes Staats- und Organisationsversagen, weil Minister und Staatssekretäre „tatenlos und passiv blieben, während Häuser einstürzten, und Menschen ertranken.“ Die Menschen im Ahrtal warteten „so sehr auf eine Entschuldigung“, betonte Schnieder, und prophezeite: „Ihre Weigerung, sich ehrlich zu entschuldigen wird Ihre Amtszeit bis zuletzt prägen und überschatten.“

Und auch der Fraktionschef der Freien Wähler ließ es ins einer Bilanz zum zweiten Jahrestag nicht an Deutlichkeit mangeln: „In der Flutnacht ging Rheinland-Pfalz unter, und die Regierung ging schlafen“, bilanzierte Streit mit Blick auf die Flutnacht: „Dieses Bild der Verantwortungslosigkeit hängt über dem Ganzen, was heute, zwei Jahre später, gesagt wird.“ Die Rücktritte von Innenminister Roger Lewentz (SPD) und Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) seien ja „nicht die Übernahme von Verantwortung für die Flutnacht“ gewesen, sondern in Folge von „Lügen“, Fehleinschätzungen und vertuschten Videos erfolgt.

„Damit fehlt bis heute eines: Die Übernahme von Verantwortung für Fehler, die vor, während und nach der Flut gemacht wurden durch die Regierung“, betonte Streit: „Eine Regierung, die keine Verantwortung übernimmt, braucht kein Mensch.“ Dreyer schade mit ihrer Verweigerungshaltung, Verantwortung zu übernehmen und eine Entschuldigung auszusprechen, „nicht nur sich selbst, sondern auch dem Amt“, sagte er an die Ministerpräsidentin gewandt, und forderte sie auf: „Die Zeit läuft ab, in der noch eine Entschuldigung ausgesprochen werden kann – heute wäre der richtige Tag.“

Info& auf Mainz&: Mehr zur Bilanz zwei Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal aus Sicht der Winzer lest Ihr auch hier bei Mainz&. Wie der Gedenktag im Ahrtal begangen wurde, haben wir hier auf Mainz& berichtet.