Als in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 eine gigantische Flutwelle das Ahrtal hinabrauschte, war kaum jemand auf den Tsunami vorbereitet. Die Warnmeldungen hatten lediglich von „Starkregen“ und „Hochwasser“ gesprochen, Pegelprognosen von mehr als fünf Metern kamen entweder nicht an, oder sie sagten den Gewarnten vor Ort nichts. Gegen 16.00 Uhr baute sich, von den Nebenflüssen der Ahr wie dem Sahrbach kommend, eine Flutwelle auf, die mit zunehmender Gewalt das Tal hinunter rauschte – und bis 2.00 Uhr morgens 134 Menschen in den Tod riss.

Zerstörte Häuser und Brücken an der Ahr nach der Flut vom 14. Juli 2021. - Screenshot: gik
Zerstörte Häuser und Brücken an der Ahr nach der Flut vom 14. Juli 2021. – Screenshot: gik

Mehr als 9.000 Häuser standen am Ende unter Wasser, Brücken, Straßen, ganze Straßenzüge wurden einfach mitgerissen. Als die Menschen merkten, was über sie hereinbrach, war es fast schon zu spät: Acht, neun, zehn Meter hoch stieg am Ende die Ahr an den engsten Stellen, flutete Keller, Erdgeschosse und manche Häuser gar bis zur Dachkante. Gewarnt worden seien sie nicht, erzählten die Menschen einhellig nach der Flut – und sie erzählen es bis heute.

Sirenen warnten nicht, weil es sie in weiten Teilen des Ahrtals nicht mehr gibt, oder weil sie nur noch eingesetzt werden, um die Feuerwehren zum Einsatz zu rufen. Eine breite Warnung der Bevölkerung über Rundfunk, Fernsehen oder auch nur die Katastrophen-Apps fiel aus – auch, weil der zuständige Landrat in der Flutnacht untertauchte. Reguläre Warnketten von einer Kommune zur nächsten – Fehlanzeige. Die Menschen zur Evakuierung aufrufen? Das geschah erst, als es viel zu spät war und in einem viel zu kleinen Radius.

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134 Menschen verloren im Ahrtal in jener Nacht ihr Leben, 69 allein in Bad Neuenahr-Ahrweiler. 12 Menschen starben noch in den frühen Morgenstunden des 15. Juli in Sinzig, dabei wussten Behörden und Leitstellen da bereits seit Stunden: Es ist Land unter im Ahrtal. Allerspätestens ab 21.00 Uhr wusste auch die Polizeileitstelle in Koblenz von den verheerenden Fluten, sogar per Video, gedreht aus einem Rettungshubschrauber des ADAC. Trotzdem: Ein Katastrophenalarm, gar eine Evakuierung der Menschen aus dem Tal – sie werden auch jetzt nicht ausgerufen. Auch Innenminister Roger Lewentz (SPD) bekommt diese Bilder noch vor Mitternacht zu sehen, auch er unternimmt – nichts.

Polizeihubschraube und Polizeiboot auf dem Rhein bei Mainz - einen Windenhubschrauber gibt es in Rheinland-Pfalz nicht. - Foto: gik
Polizeihubschraube und Polizeiboot auf dem Rhein bei Mainz – einen Windenhubschrauber gibt es in Rheinland-Pfalz nicht. – Foto: gik

Doch es gibt auch Helden in dieser Nacht, Menschen, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Menschen retten, was ihre Möglichkeiten hergeben. Viel ist es oft nicht: Den Feuerwehren fehlt meist jegliches Einsatzgerät für eine solche Katastrophe. Unimogs gibt es meist keine mehr bei den Wehren, Rettungsschwimmer, Boote – alles Fehlanzeige. Beim Land Rheinland-Pfalz nennt man nicht einmal einen Rettungshubschrauber mit Seilwinde sein eigen – man verlässt sich auf eine Kooperation mit den Nachbarn in Hessen.

Und so fällt es meist ehrenamtlichen Feuerwehrleuten zu, Wehrführern im Nebenberuf, engagierten Freiwilligen bei DLRG und Rettungsdiensten, die Menschen im Tal vor den Fluten in Sicherheit zu bringen. Dass es nicht noch viel mehr Tote gab, ist allein ihnen zu verdanken. Mainz& stellt stellvertretend für viele von ihnen sechs Männer vor, die in der Flutnacht zahlreiche Leben retteten – oft unter dramatischen Bedingungen. Alle haben ihre Geschichten dem Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags zur Aufklärung der Flutkatastrophe im Ahrtal geschildert. Zusammen ergeben sie ein Bild der Flutnacht vor genau einem Jahr.

 

Dieter Merten, Wehrleiter der Verbandsgemeinde Adenau

Die ersten Warnmeldungen erreichten Dieter Merten am 8. Juli, es waren Warnungen vor Starkregen. Am 13. Juli wurde vor Dauerregen gewarnt – aber eine Katastrophe, wie sie dann wirklich am Abend des 14. Juli eintrat? „Niemand hat von einer Katastrophe gesprochen“, berichtete Merten dem Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag. Es ist der 13. Mai 2022, und Dieter Merten muss schlucken. Was er in der kommenden Stunde dem Untersuchungsausschuss erzählen wird, dürften die dunkelsten Stunden seines Lebens sein.

Verwüstungen an einer Brücke in Altenahr nach der Flutkatastrophe. - Foto: gik
Verwüstungen an einer Brücke in Altenahr nach der Flutkatastrophe. – Foto: gik

„Lebensbedrohlich wurde es gegen 16.00 Uhr“, sagt Merten, und er sagt es ganz sachlich. Um 16.00 Uhr tagte in Mainz noch der Mainzer Landtag, eine Debatte über Starkregen und Hochwasservorsorge – ausgerechnet. Umweltministerin Anne Spiegel (Grüne) wird in dieser Debatte sagen, Rheinland-Pfalz sei in Sachen Hochwasservorsorge Spitzenklasse. Um genau diese Uhrzeit kämpfen bereits die Menschen an der oberen Ahr, in Dorsel, Schuld und Insul um ihr Leben und ihre Häuser.

„Vom Kreis kamen nur die Wetterwarnungen, aber sonst nichts“, erinnert sich Dieter Merten, am 13. Juli es habe es noch geheißen: „Wir sollten nicht den Weltuntergang ausrufen.“ Doch was dann passierte, war genau das: ein Weltuntergang, und er kam rasend schnell. „Ich war selbst den Tag bis Mittag unterwegs, es war leichter Regen, Nieselregen“, berichtet Merten.

 

Los ging es so ab 13.00 Uhr, da seien die ersten Meldungen gekommen, Wasser drohe in ein Gebäude zu laufen. „Ab 17.00 Uhr hatten wir alle 23 Einheiten im Einsatz“, das sei dann eigentlich auch der Punkt gewesen, an dem die Lage nicht mehr beherrschbar gewesen sei, „spätestens, als alle Kräfte im Einsatz waren, und wir um unser eigenes Leben fürchten mussten.“ Er habe dann über die Leitstelle in Koblenz versucht, Hubschrauber zu bekommen und Boote beantragt. Doch die Boote kamen wegen der reißenden Strömung nicht mehr zum Einsatz – und die Hubschrauber verspäteten sich.

Die Flutwelle setzte am 14. Juli 2021 das gesamte Ahrtal unter Wasser. - Screenshot: gik
Die Flutwelle setzte am 14. Juli 2021 das gesamte Ahrtal unter Wasser. – Screenshot: gik

Auf dem Campingplatz Stahlhütte in Dorsel stehen zu diesem Zeitpunkt bereits Menschen auf dem Dach eines Toilettenhäuschens, und das Wasser steigt höher und höher. Auf dem Campingplatz ist Melanie Ulrich im Einsatz, die 42-Jährige ist eigentlich Büroangestellte, doch im Ehrenamt eben auch Wehrführerin der Feuerwehr Antweiler. „Es war keinem von uns bewusst, dass das kommen würde, was kam“, sagt Ulrich vor dem Ausschuss. Überfordert? „Das waren wir eigentlich relativ schnell“, sagt sie.

Um 13.20 Uhr habe ihre Wehr die ersten Kräfte nachgefordert, „ab 17.00 Uhr haben wir angefangen, Leute aus dem Wasser zu holen.“ Sie sei selbst auf dem Campingplatz zur Lageerkundung gewesen, „da kamen uns auch schon die ersten Leute mit gepackten Koffern entgegen“, berichtet sie. Ulrich ist nur mit einem Kollegen da, sie sind zu zweit und fordern sofort Verstärkung an. Zu der Verstärkung gehören auch Katharina Kraatz und ihr Vater Udo.

 

Katharina ist gerade erst 19 Jahre alt, Feuerwehrfrau war immer ihr Traum, so erzählen ihre Eltern es später wieder und wieder in den Medien – schon als Kind sei sie in den Feuerwehrstiefeln ihres Vaters durch die Wohnung gestapft. Auf dem Campingplatz in Dorsel herrscht inzwischen Chaos. Der Campingplatzbetreiber sei gewarnt worden, ihm sei auch gesagt worden, er solle den Platz räumen“, so berichtet es Merten dem Ausschuss. Doch der Mann habe nur gesagt, er wisse, was Hochwasser sei, es würde schon nicht so schlimm werden.

Die Flutwelle reißt auch Campingwagen kilometerweit mit durchs Tal. - Foto: gik
Die Flutwelle reißt auch Campingwagen kilometerweit mit durchs Tal. – Foto: gik

Der Campingplatzbesitzer selbst sagt vor dem Ausschuss, natürlich habe er seine Bewohner gewarnt, zweimal sei er über den ganzen Platz gelaufen. Bis heute behaupten Platzbewohner sie seien nicht gewarnt worden – eine weitere Verzögerung, die am Ende Menschenleben kosten wird. „Was wir zu dem Zeitpunkt nicht wussten war, dass viele Menschen dort dauerhaft lebten, auch ältere“, sagt Merten.

40 Menschen sind mit erstem Wohnsitz in Mobilheimen auf dem Campingplatz gemeldet, eine von ihnen ist eine ältere, bettlägerige Frau. Katharina Kraatz geht zu ihr, will ihr beistehen, bis die angeforderte Verstärkung kommt. Doch es ist bereits viel zu spät: „Aufgrund der starken Flut ist die Tür zugeknallt“, berichtet Merten, und seine Stimme ist nicht mehr ganz fest: „Vor den Augen ihrer Kollegen ist der Container von der Flut weggeschwemmt worden.“ Katharina und sechs weitere Campingplatzbewohner werden an diesem Nachmittag sterben. Es ist irgendwann zwischen 17.00 Uhr und 18.00 Uhr, und sie sind die ersten von insgesamt 134 Toten im Ahrtal.

 

Die Kommunikation nach außen sei schon ab 16.00 Uhr am Nachmittag schwierig gewesen, sagt Merten: Da fiel der erste Digitalfunk-Sendemast aus. Als um 15.25 Uhr die erste Pegelprognose des Kreises eintraf, „da waren wir schon zwei Stunden im Einsatz“, sagt Merten, „da hatten wir keine Zeit, Emails zu lesen.“ Man sei auf sich gestellt gewesen – und habe alles getan, was man tun konnte um zu bergen und zu retten.

Zerstörte Häuser in Schuld am Tag nach der Flut. - Screenshot:; gik
Zerstörte Häuser in Schuld am Tag nach der Flut. – Screenshot:; gik

„Wir haben Bagger, Traktoren, Drehleitern ins Wasser gefahren“, sagt Merten, „wir haben probiert, Menschen zu retten. Jeder hat in der Nacht das gegeben, was er geben konnte.“ In Antweiler, Dorsel, Fuchshofen, Dümpelfeld, Schuld und Insul gibt es in dieser Nacht jenseits des Campingplatzes keinen einzigen Toten. Morgens um 6.00 Uhr habe er auf einmal „senkrecht im Bett gesessen, und Rotz und Wasser geheult“, berichtet Merten offen: „Es hat uns nie jemand auf das, was da kam, hingewiesen oder uns davor gewarnt.“

Tobias Michels (44), Notfallsanitäter, Air Rescue Nürburgring

Tobias Michels hat in jener Schicksalsnacht Dienst bei der Air Rescue Einheit der Johanniter Luftrettung am Nürburgring. Der 44-Jährige Notfallsanitäter wird mit seiner Hubschrauber-Crew zum Campingplatz Stahlhütte gerufen, es wären „mehrere Menschen von Hochwasser eingeschlossen“, wird ihm gesagt. Michels und seine Crew fliegen los, und schon „beim ersten Überflug war uns klar, dass das kein normales Hochwasser mehr ist“, sagt er. Es ist irgendwann zwischen 17.00 Uhr und 18.00 Uhr am Mittwochnachmittag, und die Ahr steigt schnell.

 

Nach ein, zwei Überflügen entschließt sich Michels zur Landung, er braucht Informationen, kann selbst aus der Luft nichts sehen. Der Einsatzleiter berichtet ihm von eingeschlossenen Menschen, „da war uns klar: wir brauchen Hubschrauber mit Seilwinde“, sagt Michels. Doch eine Seilwinde hat sein Hubschrauber nicht, tatsächlich gibt es in ganz Rheinland-Pfalz keinen einzigen Hubschrauber mit Seilwinde. „Das Problem ist, eine Winde ist sehr teuer, und die Kosten will keiner tragen“, sagt Michels. In Rheinland-Pfalz verlässt man sich auf eine Kooperation mit den Nachbarn in Hessen. Doch Hessen und seine Hubschrauberstaffel in Darmstadt und Wiesbaden sind jetzt weit weg.

Ein Hubschrauber der Johanniter Luftrettung. - Foto: Johanniter
Ein Hubschrauber der Johanniter Luftrettung. – Foto: Johanniter

„Wir haben dann Handykontakt mit der Leitstelle Koblenz aufgenommen, gesagt wir brauchen Hubschrauber mit Seilwinde, wie sieht es aus“, berichtet Michels. Dort sei man aber „noch in der Klärung“ gewesen, ein Hubschrauber ist nicht in Aussicht – Michels ist zum Nichtstun verdammt. Doch das kommt für den Luftretter schlicht nicht in Frage: „Wir müssen jetzt aktiv werden, wir können nicht rumstehen und gar nichts tun“, so schildert er es dem Untersuchungsausschuss.

Michels und seine Kollegen beschließen ein wahres Mac Gyver-Manöver, sie räumen den ganzen Hubschrauber aus. „Ich habe mich hinten zum Notarzt gesetzt, wir haben uns an den Sitzen festgeschnallt und uns untereinander mit Gurten gesichert.“ Dann werfen sie ein Feuerwehrseil aus dem Hubschrauber hinunter zu den Eingeschlossenen und versuchen, sie durchs Wasser zum rettenden Ufer zu ziehen. „Der Feuerwehrmann hat den zu Rettenden festgebunden und ihn mit einem beherzten Schubs ins Wasser geschmissen“, berichtet Michels. Hochziehen sei unmöglich gewesen, also wollen sie den Angeseilten durchs Wasser ans Ufer ziehen. „Das war die einzige Möglichkeit, Menschen zu retten“, sagt Michels. Es ist ein verzweifeltes Manöver – aber es glückt.

 

Tobias Michels vor seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. - Foto: gik
Tobias Michels vor seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. – Foto: gik

Als erstes retten sie mehre Menschen von dem Toilettenhäuschen des Campingplatzes, dann müssen sie Tanken fliegen, kommen wieder, retten zwei weitere Menschen vor den Fluten. Der Feuerwehrmann von dem Toilettenhäuschen kann sogar mit Hund direkt in den Heli einsteigen. „Dann kam Udo und sagte, meine Tochter ist immer noch da drin“, sagt Michels. Sie fliegen über den Campingplatz, sie suchen, doch es wird immer dunkler und leerer. „Beim ersten Überflug konnte man noch Taschenlampen sehen aus den Campingwagen, die waren dann aber nicht mehr da“, sagt Michels: „Man sah nur noch Wasser, keine Gebäude mehr, keine Campingwagen. Nur noch Wasser und Geröll.“

Ob ihn die Integrierte Leitstelle in Koblenz mal nach seiner Lageeinschätzung gefragt habe, wird Michels von den Landtagsabgeordneten gefragt. „Nein“, sagt er. In der Integrierten Leitstelle in Koblenz gehen in jener Nacht mehr als 5.100 Notrufe alleine aus dem Ahrtal ein. „Das Klingeln aus Koblenz war durchgehend im Hintergrund zu hören“, sagt Michels: „Wir haben denen gesagt, dass wir fünf Personen retten konnten – dann war die Kommunikation auch schon beendet.“ Erst nach dem Einsatz kommt ihm zu Bewusstsein, was da gerade passiert ist. „Ich habe dann meine Frau angerufen“, berichtet Michels, „und habe ihr gesagt: Hier ertrinken gerade Menschen, hier sterben gerade Menschen im Ahrtal.“

Tobias Lussi (26), Wehrführer Schuld und Berufsfeuerwehrmann

Ja, es habe Warnungen des Deutschen Wetterdienstes gegeben, berichtet Tobias Lussi – vor Starkregen. „Die Warnung ersetzten sich schlagartig durch Fakten – als wir nach Schuld kamen“, so berichtet es der junge Wehrführer dem Untersuchungsausschuss Mitte Mai 2022. Als Lussi gegen 22.00 Uhr in dem Örtchen Schuld an der Oberen Ahr ankommt, steht Schuld bereits seit Stunden unter Wasser.

 

Gegen 19.00 Uhr steht Helmut Lussi, Bürgermeister von Schuld und ein entfernter Verwandter von Tobias Lussi, auf einer Anhöhe oberhalb von Schuld. Die Kirche steht hier oben, und sie steht in sicherer Entfernung zur Ahr. Unten rauscht eine Flutwelle durch das Tal, wie sie Lussi nie zuvor gesehen hat. „Das kann man sich gar nicht vorstellen, wie schnell und mit welcher Gewalt das Wasser kam“, berichtet Lussi. Es reißt Baumstämme mit sich und Wohnwagen – und schließlich Häuser.

Helmut Lussi, Bürgermeister von Schuld, vor seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. - Foto: gik
Helmut Lussi, Bürgermeister von Schuld, vor seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal in Mainz. – Foto: gik

In Müsch, wenige Kilometer oberhalb von Schuld, erlebt Lussis Kollege Udo Adriany, wie sich vor seiner Brücke über die Ahr eine Wand von Campingwagen aufgestaut. „Irgendwann gab es einen riesigen Knall, dann war auch dieser Damm gebrochen“, berichtet Adriany – die Fluten pulverisieren die Dorfbrücke, eine richtige Flutwelle stürzt danach das Ahrtal hinunter.

In Schuld muss Bürgermeister Lussi hilflos mit ansehen, wie die Welle ganze Häuser mit sich reißt: „Ich habe gesehen, wie das Wasser über die Straße lief, und das erste Haus in den Fluten versank“, berichtet er: „Das kann man sich nicht vorstellen – innerhalb von 2 bis 3 Minuten war das komplette Haus weg. Dann kam das nächste Haus.“ Sechs Häuser reißen die Fluten allein in Schuld mit sich, auch das solide Dorfgemeinschaftshaus. Der gesamte alte Teil des Ortes unten an der Ahr steht unter Wasser, am Ende drei Meter meterhoch.

 

Um 22.00 Uhr sei „die Katastrophe in vollem Gange“ gewesen, berichtet Wehrführer Tobias Lussi. Die Ahr rauscht da bereits mit einem Pegel von acht Metern hoch durch Schuld und trennt beide Ortsteile unüberbrückbar voneinander. „Wir haben dann gerettet, was noch zu retten ist“, sagt er trocken. Lussi wartet nicht ab, ob ihm irgendjemand einen Auftrag gibt: „Wir haben aus eigenem Handeln heraus Warnungen an die Bevölkerung ausgesprochen und unter Einsatz des eigene Lebens die Frauen und Männer aus den Häusern vor dem Ertrinken gerettet“, sagt er schlicht.

Zerstörte Häuser in Schuld nach der Flut: sechs wurden ganz weggerissen. - Screenshot: gik
Zerstörte Häuser in Schuld nach der Flut: sechs wurden ganz weggerissen. – Screenshot: gik

Der Zufall kommt dem jungen, energischen Wehrführer zu Hilfe: Die DLRG trifft ein, und sie hat tatsächlich Boote dabei. Nur: Die Boote haben keine tragbaren Leitern zur Rettung – die aber besitzt die Feuerwehr. Lussi trifft eine Entscheidung, und er trifft sie schnell, es ist eine unorthodoxe Entscheidung im deutschen Katastrophenschutz: „So entschied ich mich, dass wir gemischte Gruppen von je zwei DLRG und zwei Feuerwehrleuten machen“, sagt er: „Ich habe diese Leute quasi den Häuserkampf machen lassen.“

Lussi kombiniert Feuerwehr mit DLRG und Boote mit Leitern, „so konnten wir viele Menschen vor dem sicheren Ertrinken retten“, berichtet er – 40 Menschen werden es am Ende sein. Jeden einzelnen Einwohner von Schuld können sie retten, oft unser Einsatz ihres eigenen Lebens. „Es war ein Wunder, dass ich da überhaupt rauskam und heute hier vor Ihnen sitze“, sagt Lussi trocken. Er versucht, Schwimmpanzer der Bundeswehr zu bekommen, ruft einen Kumpel bei der Bundeswehr an, der sagt: „Ja, ich fordere sie Dir an.“ Die Panzer kommen auch, aber erst Tage später, die Hubschrauber kommen in jener Nacht gar nicht nach Schuld. „Eine explizite Warnung vor dieser Katastrophe und diesem Starkregen hat es nie gegeben“, sagt Lussi noch.

 

Tobias Frischholz, Polizeifliegerstaffel Hessen

Tobias Frischholz erscheint am Abend des 14. Juli 20921 um 17.30 Uhr zum Nachtdienst, der Polizeibeamte ist Teil der Hubschrauberfliegerstaffel in Hessen, stationiert in Egelsbach bei Langen. „Um 17.42 Uhr hatten wir eine Anforderung aus Rheinland-Pfalz, ob wir einen Windenhubschrauber stellen können, da auf dem Campingplatz in Dorsel fünf Personen eingeschlossen seien“ – so berichtet es Frischholz dem Untersuchungsausschuss des Landtags Mitte Mai 2022.

Tobias Frischholz von der Hubschrauberstaffel der hessischen Polizei rettete in der Flutnacht im Ahrtal Leben. - Foto: gik
Tobias Frischholz von der Hubschrauberstaffel der hessischen Polizei rettete in der Flutnacht im Ahrtal Leben. – Foto: gik

Doch in Hessen ist an dem Abend regulär kein Windenführer im Dienst, Frischholz telefoniert rum, fündig wird er in Mayen in der Eifel. Doch inzwischen hängt er in der Luft, die konkrete Einsatzaufforderung aus Rheinland-Pfalz kommt einfach nicht – dort ist jetzt auf einmal von der Bundeswehr die Rede. Gegen 18.45 Uhr oder 18.50 Uhr wird den Hessen das Warten zu bunt, immerhin ist bereits eine ganze Stunde vergangen – und der Weg zum Ahrtal ist weit.

„Wir sind eigenmächtig gestartet, wir haben gesagt, wir warten jetzt nicht mehr“, berichtet Frischholz. In Wiesbaden sammeln sie erst einmal zwei Feuerwehrleute ein, dann geht es das Rheintal hoch nach Mayen, um dort den Windenführer aufzunehmen. „Wir merkten schnell, das Wetter ist schlecht“, erinnert sich Frischholz: „Die Wolken waren praktisch rechts und links aufliegend, wir mussten langsam machen.“

 

Die Hessen fliegen von Bad Neuenahr aus Richtung Dorsel das Ahrtal hoch, und je weiter sie kommen, umso mehr sehen sie das Ausmaß der Flutwelle. „Uns kam immer größeres Treibgut entgegen: erst Strohballen, dann Gastanks, dann ganze Kleinlaster“, sagte Frischholz. Um 20.14 Uhr landeten sie in Dorsel, da berichten ihnen die Kollegen bereits von fünf abgetriebenen Menschen plus Feuerwehrfrau Katharina.

Hubschrauber über Dernau im Ahrtal, sechs Tage nach der Flutkatastrophe. - Foto: gik
Hubschrauber über Dernau im Ahrtal, sechs Tage nach der Flutkatastrophe. – Foto: gik

Die Hessen können noch einen Camper von der Deichsel seines Wohnwagens retten und einen weiteren Mann vom Dach seines Autos – dann werden sie in den nächsten Ort gerufen. Dort soll jemand in seinem Fahrzeug eingeschlossen sein, die Retter finden zwar zwei Pkws, aber niemand ist bei den Wagen. Stattdessen sehen sie in der Nähe ein etwas älteres Ehepaar, das im 1. Stock seines Hauses auf dem Balkon steht.

„Das Wasser stand direkt schon am Balkon“, erinnert sich Frischholz, „dann haben wir die zwei eingesammelt und zu einer höher gelegenen Position gebracht.“ In Dorsel sollen sie eine Person aus einem Baum retten, den Mann finden sie wieder nicht. „Dafür war das nächste, was wir sahen, wieder ein PKW, auf einer völlig umspülten Landstraße“, berichtet Frischholz: „Dort saß ein Mann auf seinem Dach, das Wasser stand noch ganz zehn Zentimeter weiter unterhalb – den haben wir dann von seinem Fahrzeug gezogen.“

 

Verwüstungen in Dernau Tage nach der Flut. - Foto: gik
Verwüstungen in Dernau Tage nach der Flut. – Foto: gik

Sie holen noch einen Mann aus einem Fahrzeug an einer Baumgruppe, die Feuerwehr steht derweil in 30 Metern Entfernung auf der trockenen Straße – hilflos, ohne Möglichkeit zu retten. Inzwischen ist es 21.30 Uhr, 21.40 Uhr, es wird dunkel die Retter müssen dringend tanken – buchstäblich mit dem letzten Tropfen Benzin erreichen sie die Tankstelle. Zurück ins Tal kommen sie nicht mehr, Wetter und Sicht sind zu schlecht. „Wir haben uns dann das Rheintal zurückgekämpft bis nach Wiesbaden“, sagt Frischholz. Erst um 23.30 Uhr sind sie zurück in Egelsbach, der Nachtdienst geht noch bis 6.00 Uhr morgens.

Mit der Leitstelle habe er nur kurz Kontakt gehabt, berichtete Frischholz auf Nachfrage: „Hier sind Wassermassen en masse“, habe er lediglich durchgegeben. Zwei, drei Bilder habe er der Dienststelle zugesandt, die Bilder gingen schon nicht mehr raus – das Handynetz sei total überlastet gewesen. Wie viele Menschen er in der Nacht gerettet hat? Fünf, sagt Frischholz.

 

Stefan Goldmann (53), Rettungspilot, ADAC Hubschrauber Christoph

Seit 1999 ist Stefan Goldmann beim Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz für Einsätze mit dem Hubschrauber Christoph zuständig, um 17.00 Uhr fliegt er an jenem 14. Juli einen Patienten von Koblenz nach Siegburg. Um 18.11 Uhr ist er dort, das Wetter ist bereits sehr schlecht, in der Einsatzstelle laufen die Telefone heiß. Goldmann wird mit seinem Hubschrauber nach Rheinbach geschickt, um 18.51 Uhr startet er. „Auf dem Weg dorthin, konnten wir feststellen, dass die Lage extrem wurde“, berichtet Goldmann dem Untersuchungsausschuss im Mainzer Landtag.

Rettungspilot Stefan Goldmann vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags.- - Foto: gik
Rettungspilot Stefan Goldmann vor dem Untersuchungsausschuss des Landtags.- – Foto: gik

In das Haus, bei dem sie einen Mann retten sollen, läuft bereits das Wasser, den Eigentümer finden sie ertrunken im Keller. Goldmann fliegt zurück nach Koblenz, von dort wird er ins Ahrtal geschickt, es ist ungefähr 20.00 Uhr und noch hell. „Was ich dort gesehen habe, hat sich mir eingebrannt“, sagt er. Goldmann sieht Bilder unter sich im Tal, dass er schon nach kurzer Zeit sagt: „Das ist alles nicht mehr normal.“

Goldmann sagt seiner Assistentin, sie solle jetzt bitte Videos machen, das ist eigentlich gegen die Vorschriften, aber das ist Goldmann egal. Um 20.52 Uhr landet er oberhalb vom Ahrtal und schickt seine Bilder und Videos an die Leitstelle in Koblenz. „Da habe ich berichtet, dass ich so etwas in 20 Jahren nicht erlebt habe“, sagt Goldmann: „Dass ich gerade sehe, wie Menschen untergehen in ihren Autos, Häuser weggerissen werden, Menschen um Hilfe rufen – und ich kann ihnen nicht helfen.“

Goldmann fleht die Kollegen an, „man möge alles alarmieren, um Menschen zu retten.“ Gegen 21.00 Uhr lässt er seine Maschine wieder an, doch der Motor macht Probleme, läuft unrund. Irgendwann gegen 21.15 Uhr entscheidet er, wegen der Unwucht den Einsatz abzubrechen, um 21.30 Uhr ist er zurück, noch einmal schickt er Bilder in Richtung Leitstelle. Goldmann kontaktiert auch seine Ansprechpartner beim ADAC Notruf in München, er schickt seine Bilder auch dorthin.

 

Ein Rettungshubschrauber vom Typ Christoph in Mainz. - Foto: Schreiner
Ein Rettungshubschrauber vom Typ Christoph in Mainz. – Foto: Schreiner

In München sitzt per Zufall der gesamte Führungskreis der ADAC Luftrettung zusammen, die Kollegen seien von seinen Bildern „sehr beeindruckt“ gewesen, sagt Goldmann: „Und sie waren in der Lage, sehr schnell Entscheidungen zu treffen.“ Die Kollegen aktivieren noch in der Nacht neue Hubschrauber, sie kommen am nächsten Tag ins Ahrtal – und retten mehr als 36 Personen von Dächern, aus Bäumen.

Dennis Ritter, Oberfeldarzt, Bundeswehrkrankenhaus Koblenz

Dennis Ritter bekommt am Abend des 14. Juli 2021 kurz nach Ende des Heute Journals um 22.15 Uhr einen Anruf. Der leitende Oberarzt am Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz ist Rettungsarzt, die Leitstelle in Koblenz bittet um Hilfe – und berichtet von Menschen, die auf Dächern ausharren müssen, durch Fluten schwimmen, ertrinken. Ritter versucht zu organisieren, was zu organisieren geht: Menschen, Material, geländegängige Fahrzeuge, gepanzerte Fahrzeuge.

Die Bundeswehr half bei der Flutkatastrophe im Ahrtal in der Nacht und danach. - Foto: gik
Die Bundeswehr half bei der Flutkatastrophe im Ahrtal in der Nacht und danach. – Foto: gik

Bis 23.00 Uhr telefoniert und organisiert Ritter, auch das Landeskommando der Bundeswehr in Mainz ruft er an – die Kollegen wissen offenbar noch von nichts. Er bittet die Kollegen in Mainz, ein erstes Hilfegesuch in Richtung Bundeswehrführung auf den Weg zu bringen. Ob er den Krisenstab besetzen soll, fragt der Kollege in Mainz? „Ja, das möge er bitte tun“, sagt Ritter, da komme noch mehr.

Sechs Fahrzeuge kann Ritter beiziehen, gegen 23.30 Uhr geht es los Richtung Ahrtal, gegen 1.00 Uhr kommen sie dort an. Die Einsatzplanung gestaltet sich schwierig – in Ahrweiler hat längst niemand mehr einen Überblick, schon gar nicht der Krisenstab der Kreisverwaltung. Gegen 2.15 Uhr machen sich Ritter und seine Leute auf zu einem Hotel, an der Lindenmühle retten sie den eingeschlossenen Hotelier, holen weitere Menschen vom Balkon des 1. Stocks auf das Dach ihres Unimogs und von dort in Sicherheit.

 

„Unsere Kameraden haben parallel dazu Menschen aus den Häusern geholt“, berichtet Ritter. Die Einsatzleitung meint, sie sollten die Geretteten nach Grafschaft hochbringen. „Das habe ich abgelehnt – so eine Verschwendung von Zeit“, sagt Ritter. Bis 5.00 Uhr morgens bleiben die Bundeswehr-Retter im Bereich Ahrweiler im Einsatz, an eine Episode erinnert sich Ritter besonders gut: „Auf einem Mühlrad saß ein Anwohner, der sein Auto wegfahren wollte, es aber nicht mehr zurück ins Haus schaffte“, erzählt Ritter, „er hatte zirka drei Stunden durchnässt auf dem Mühlrad verbracht.“

Zerstörte Brücke in Dernau. - Foto: gik
Zerstörte Brücke in Dernau. – Foto: gik

Ritter schafft es, mit seinem Fahrzeug an das Mäuerchen zu fahren, der Arzt sitzt am Steuer, sehen kann er so gut wie nichts. „Es ist unglaublich, welche Kräfte an den Reifen gezerrt haben“, erinnert er sich. Seine zwei jüngeren Kollegen bergen den Mann vom Mühlrad, weiter in Richtung Ahr kommen sie schon nicht mehr: „Wir haben dann entschieden, Hilferufe aus dem tiefer gelegenen Bereiche nicht annehmen zu können“, sagt Ritter. Das Risiko für die Retter ist zu hoch.

Stattdessen werden die Bundeswehr-Experten auf Erkundung geschickt, fahren Richtung Walporzheim und merken schnell: Hier ist kein Durchkommen mehr. „Es lagen massive Trümmerteile auf der Straße“, berichtet Ritter. Sie kämpfen sich über die Höhe in Richtung Marienthal und Dernau vor und stellen erschreckt fest, wie viele Menschen in ihren Häusern eingeschlossen sind.

 

Gegen 7.00 Uhr fordert Ritter mehr Hubschrauber an, das Flugwetter sei da inzwischen gut gewesen, sagt er – trotzdem nehmen sie den ersten Hubschrauber in Dernau erst gegen 12.00 Uhr mittags wahr. „Warum, entzieht sich meiner Kenntnis“, sagt Ritter. In Dernau bietet sich ihnen  um 7.00 Uhr morgens ein erschreckendes Bild: Praktisch der gesamte Ort steht unter Wasser, viele Häuser noch immer meterhoch. Sie beginnen damit, die Häuser zu durchsuchen, sie finden erste Leichen.

Zerstörungen in Dernau nach der Flutkatastrophe. - Foto: gik
Zerstörungen in Dernau nach der Flutkatastrophe. – Foto: gik

„Das Wasser hatte immer noch eine enorme Kraft, es war eine sehr schwierige Situation“, berichtet Ritter. Etwa 50 Menschen fahren sie über die Kreisstraße hoch zu einem höheren Punkt über Dernau, unten im Tal gibt es zu dem Zeitpunkt keinerlei Kommunikation mehr. „Ein ehemaliges Frühchen haben wir noch rausgeholt, das an ein Beatmungsgerät angeschlossen war“, berichtet Ritter noch: „Die Batterien waren kurz vor Ende.“ Es geht gut aus: Die Retter bringen das Kind in Sicherheit.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) verlieh am Mittwoch sechs Bürgern aus dem Ahrtal die Rettungsmedaille des Landes Rheinland-Pfalz, sie alle hatten unter teils hohem persönlichen Risiko Mitbürger in der Flutnacht vor dem Tod gerettet. Die hier genannten Männer waren alle nicht unter den Geehrten.

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