Vor gut zwei Wochen hat der Landtag in Mainz den Abschlussbericht zum Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal veröffentlicht, nun liegt die Bilanz offen zutage: Der Bericht dokumentiert auf 2100 Seiten, wie Behörden des Landkreises, aber vor allem auch der Landesebene in der Flutnacht des 14. Juli 2021 bei der Rettung von Menschenleben versagten. Wie konnte das geschehen? Warum wurde niemand gewarnt und wer trägt dafür die Verantwortung? Darum geht es am Donnerstag, den 22. August 2024 bei einer Lesung von Mainz&-Chefin Gisela Kirschstein im Offenen Wohnzimmer in Mainz-Kostheim.

Verwüsteter Bahnhof in Dernau am 20. Juli 2021. - Foto: gik
Verwüsteter Bahnhof in Dernau am 20. Juli 2021. – Foto: gik

Es war in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021, als sich eine gigantische Flutwelle das Ahrtal hinunter wälzte, und unfassbare Zerstörungen und Leid mit sich brachte. 9.000 Häuser und Scheunen wurden beschädigt, manche gar vollständig von den meterhohen Fluten weggerissen. 136 Menschen starben in den Fluten, eine Person davon wird bis heute vermisst. Die Menschen im Ahrtal erzählten danach einhellig eines: Gewarnt worden waren sie nicht.

Drei Jahre danach hat der Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags nun seinen Abschlussbericht dazu vorgelegt, der Ausschuss sollte die Frage klären: Wer trägt die politische Verantwortung für das Versagen in der Flutnacht? Warum wurden die Menschen im Ahrtal nicht gewarnt, warum wurde der Katastrophenalarm viel zu spät ausgelöst – und warum mussten 136 Menschen sterben?

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Rechtzeitige Warnungen hätten viele Menschenleben gerettet

Experten sind sich heute einig: Mit rechtzeitigen Warnungen hätten bis zu 80 Menschenleben gerettet werden können, denn die meisten starben im unteren Ahrtal zwischen 23.00 Uhr und 2.00 Uhr morgens – Stunden, nachdem die Flutwelle bereits das obere Ahrtal verwüstet, und dort ganze Häuser und Brücken weggerissen hatte. Der Zeitverzug von fünf, sechs Stunden sei lebensrelevant gewesen – so sagten es gleich mehrere Gutachter im Untersuchungsausschuss des Mainzer Landtags aus.

Foto von der Überflutung in Dorsel am 14. Juli, aufgenommen gegen 20.00 Uhr vom Piloten des hessischen Rettungshubschraubers, Tobias Frischholz. – Foto. Abschlussbericht UA Flut
Foto von der Überflutung in Dorsel am 14. Juli, aufgenommen gegen 20.00 Uhr vom Piloten des hessischen Rettungshubschraubers, Tobias Frischholz. – Foto. Abschlussbericht UA Flut

Doch die Behörden reagierten einfach nicht. Im Landesamt für Umwelt wurden Warnungen vor einer Hochwasserwelle von mehr als fünf Metern nur schleppend oder gar nicht weiter gegeben, im Umweltministerium fühlte man sich für Warnketten nicht zuständig – und selbst im Mainzer Innenministerium und der ihr unterstellten Dienstaufsicht ADD kümmerte sich niemand darum, Alarm zu schlagen, Evakuierungen anzuordnen oder einfach nur die Bevölkerung zu warnen.

Dabei belegt der Abschlussbericht eindeutig: Die Katastrophe wurde nicht nur vorhergesagt – den Landesämtern und Ministerien lagen bereits am Nachmittag des 14. Juli 2021 alle notwendigen Hinweise auf eine sich anbahnenden Katastrophe vor. Es gab Warnungen, Pegelstände nicht gekannten Ausmaßes, Augenzeugenberichte, zahllose Hilferufe auf dem Tal und schließlich sogar Fotos, die reihenweise Dörfer im Ahrtal zeigten, in denen die meisten Häuser bis zur Dachkante unter Wasser standen – und diese Fotos lagen spätestens ab 20.00 Uhr vor.

Landesspitze begab sich ins Bett, anstatt auf die Kommandobrücke

Trotzdem passierte auf Landesebene so gut wie nichts. Während Feuerwehren und Rettungskräfte vor Ort in letzter Minute Menschen aus einstürzenden Häusern holten, blieb die Landesspitze samt ihrer Institutionen seltsam untätig – Dienst nach Vorschrift wurde wichtiger genommen, als schnelles Handeln und Retten von Menschen. Der Abschlussbericht dokumentiert minutiös, wie Informationswege versagten, Handlungen „auf morgen“ verschoben wurden, gravierende Hinweise auf eine Katastrophe schlicht ignoriert, Medien eben gerade nicht informiert wurden, und sich Minister und Ministerpräsidentin ins Bett begaben, anstatt auf die Kommandobrücke.

Zwei Jahre recherchierte Mainz&-Chefin Gisela Kirschstein für ihr Buch "Flutkatastrophe Ahrtal - Chronik eines Staatsversagens". - Foto: gik
Zwei Jahre recherchierte Mainz&-Chefin Gisela Kirschstein für ihr Buch „Flutkatastrophe Ahrtal – Chronik eines Staatsversagens“. – Foto: gik

Von einem „Staatsversagen“ sprachen im Ausschuss deshalb gleich mehrere Sachverständige: Der Staat habe bei seiner vornehmsten Aufgabe versagt, nämlich der, Menschenleben zu retten, bescheinigten Katastrophenschützer der Politik. Die Chronik dieses Staatsversagens hat die Mainzer Journalistin Gisela Kirschstein bereits im August 2023 als Buch veröffentlicht: Der Band „Flutkatastrophe Ahrtal“ zeichnet minutiös nach, wo sich die Verantwortlichen – so weit bekannt – in der Flutnacht aufhielten, was sie taten – und was eben gerade nicht.

Basis des Buches war die Aufarbeitung im Untersuchungsausschuss, angereichert mit eigenen Recherchen und Interviews, gerade zum Thema Katastrophenschutz. Denn das  Buch geht auch der Frage nach, was sich im Katastrophenschutz grundlegend ändern muss, damit sich so ein Versagen wie am 14. Juli 2021 nie wiederholt. Es beschreibt Strukturen des Katastrophenschutzes, beleuchtet die Frage von Warnungen vor Unwettern und von Hierarchien, die Handeln unterbinden anstatt es zu fördern. Und es fordert: Der Katastrophenschutz in Deutschland braucht einen Neustart – eine eigene Zeitenwende. Das Jahr 2024 hat gerade wieder bewiesen, wie notwendig das ist – und wie wenig sich geändert hat.

Mitte September wird der Mainzer Landtag über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses im Plenum diskutieren – an diesem Donnerstag, den 22. August 2024,  könnt Ihr Euch selbst ein Bild machen: Im Offenen Wohnzimmer in Mainz-Kostheim stellt Mainz&-Chefin und Buchautorin Gisela Kirschstein am Donnerstagabend um 19.00 Uhr ihr Buch und seine Ergebnisse vor. Der Eintritt kostet 5,- Euro, eine Anmeldung ist nicht erforderlich.

Info& auf Mainz&: Lesung „Flutkatastrophe im Ahrtal“ mit Buchautorin Gisela Kirschstein am Donnerstag, den 22. August 2024 um 19.00 Uhr im Offenen Wohnzimmer in der Winterstraße 13 in Mainz-Kostheim. Das Offene Wohnzimmer ist ein Kultur- und Nachbarschaftsladen im alten Kostheimer Ortskern – Infos dazu und zur Lesung hier im Internet. Mehr zum Buch findet Ihr hier. Einen ausführlichen Bericht über den Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses zur Flutkatastrophe im Ahrtal lest Ihr hier auf Mainz&.

Buch „Flutkatastrophe Ahrtal – Chronik eines Staatsversagens“ arbeitet politisches Versagen in der Flutnacht auf