Es ist die „Mutter aller Kräuterbücher“, doch niemand kennt es: „Gart der Gesundheit“ hieß ein Werk, das 1485 in Mainz gedruckt wurde. 380 Heilpflanzen listet das Werk auf, es ist zu jenem Zeitpunkt die umfassendste Behandlung des Kräuterwissens überhaupt – Jahrhunderte lang war es ein Bestseller. In unserer Zeit aber ist der „Gart der Gesundheit“ völlig unbekannt, nun holen der Botanische Garten der Uni Mainz und das Gutenberg-Museum den Schatz der Vergangenheit aus dem Vergessen.

Gart der Gesundheit Borago - Foto Martina Pipprich
Seite aus dem „Gart der Gesundheit“ von 1485: der Borago

Es war vor etwa 15 Jahren, als Ralf Omlor in der Fachbereichsbibliothek der Botanik ein altes, unscheinbares Buch entdeckte. Ein Kräuterbuch von 1485? So alt – und in Mainz gedruckt? Omlor staunte nicht schlecht, und er begann zu recherchieren. Denn eigentlich galten als die „Väter der Botanik“ drei andere Verfasser von Kräuterbüchern: Otto Brunfels, Hieronymus Bock und Leonhard Fuchs. Die Herren aber schrieben ihre Kräuterbücher „erst“ zwischen 1530 und 1542 – der Mainzer „Gart der Gesundheit“ entstand 45 Jahre früher.

„Der ‚Gart der Gesundheit‘ ist die Mutter aller Kräuterbücher schlechthin, das ist der Prototyp, aus dem sich die anderen weiter entwickelten“, sagt Omlor, heute wissenschaftlicher Leiter des Botanischen Gartens an der Mainzer Universität. Mainz war 1484 eine Stadt des Wissens und des Reichtums, 1477 hatte Kurfürst Adolf II. von Nassau die Mainzer Universität gegründet, in den Klöstern wurde das medizinische Wissen bewahrt – und das hieß: Kräutermedizin. Die Heilkräuter waren seit Jahrhunderten die Medizin des Volkes, Kräuterweiber bewahrten einen reichen Erfahrungsschatz über die natürlichen Heilmethoden. Hildegard von Bingen brachte schon 1150 in ihrer Schrift „Physica“ das Heil-Wissen aus antiken lateinischen Schriften mit dem Volkswissen über die Kräuterkunde zusammen.

- Werbung -
Werben auf Mainz&

Mit dem „Gart der Gesundheit“ aber entstand 1485 das erste Kompendium von Wissen, das es damals über die Kräuterheilkunde gab, und das auch noch in deutscher Sprache. Es war wohl kein Zufall, dass dieser Schatz ausgerechnet in Mainz gedruckt wurde: Die vielen Klöster in der Stadt bewahrten das Heilwissen des Mittelalters, und 1477 hatte Kurfürst Adolf II. von Nassau gerade die Mainzer Universität gegründet.

Gart der Gesundheit Schautafel Botanischer Garten Seite
Gart der Gesundheit: Eine Seite aus dem Kräuterbuch von 1485 auf der Schautafel im Botanischen Garten erklärt – Foto: BotGarten

Ideengeber für den „Gart der Gesundheit“ war niemand anderes als der Mainzer Domdekan Bernhard von Breidenbach. Von ihm sei sehr wahrscheinlich das Vorwort, sagt Omlor, darin sei von einem Kräuterbuch „zu Ehren Gottes und zum Nutzen der Menschheit“ die Rede, das sei schon richtiggehend „ein humanistischer Auftrag.“

Autor wurde Johann Wonnecke von Kaub, Leibarzt Adolfs und ab 1484 Stadtarzt von Frankfurt. Drucker aber war niemand anderes als Peter Schöffer, erst Mitarbeiter Johannes Gutenbergs, dann Nutznießer und Erbe seiner Werkstatt nach dessen Bankrott – unter etwas dubiosen Umständen. 30 Jahre zuvor hatte Gutenberg das Drucken mit beweglichen Lettern erfunden und damit den Buchdruck revolutioniert. Schöffer war sein Mitarbeiter und verfeinerte danach die Technik und führte Gutenbergs Werkstatt mit Erfolg weiter. Um 1470 war die Technik erfunden worden, Holzschnitte im Buchdruck zu verwenden – die Zeit war reif für ein Buch, das Text und Abbildungen verband.

380 Heilpflanzen werden in dem „Gart der Gesundheit“ in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, „die umfangreichste Behandlung bis zu diesem Zeitpunkt“, sagt Omlor. Aufgelistet werden vor allem die medizinischen Verwendungen, flankiert von detailgetreuen Abbildungen: Zum ersten Mal würden hier Pflanzen naturgetreu dargestellt, sagt Omlor, etwas völlig Neues in jener Zeit. Damit stehe der „Gart der Gesundheit“ an der Schwelle zur naturwissenschaftlichen Betrachtung der Pflanze, an der Schwelle vom Mittelalter zur Wissenschaft der Neuzeit.

Wonneckes Auftrag: das gesamte Heilmittelwissen des ausgehenden Mittelalters erstmals in deutscher Sprache zusammenzufassen. Und so wertete Wonnecke die klösterliche Kräutermedizin ebenso aus wie Volksmedizin und Aberglaube und die antiken Meister der arabischen und griechisch-römischen Tradition. Oft würden die großen Meister aber nur dem Namen nach erwähnt, fand Omlor heraus: „Wenn man recherchiert, stellt man oft fest, dass die Quellen nicht wirklich angeguckt oder zitiert wurden, die alten Meister werden nur dem Namen nach aufgeführt, um dem Kapitel und dem Buch Autorität zu verleihen.“

Gart der Gesundheit - Titelholzschnitt der 13 Gelehrten - Screenshot gik
Gart der Gesundheit: Titelholzschnitt der 13 Gelehrten – Screenshot: gik

In den Text flossen dann eher Handschriften aus der Region ein, recherchierte Omlor  – auch Hildegard von Bingens „Physica“. „Sie wird nicht zu den großen Meistern der Medizin gerechnet“, sagt Omlor, „aber in eine ganze Reihe von Pflanzenkapiteln ist Material aus ihrer Physica eingeflossen.“ Gleich zu Beginn des Buches zeigt ein eindrucksvoller Holzschnitt 13 Personen, einer mit Turban, in der Mitte ein Grieche. „Das soll die 13 großen Meister der Medizin des Mittelalters symbolisieren“, sagte Omlor, man vermute, der Grieche stelle Aristoteles dar. Doch auf dem Bild ist auch eine alte Frau mit Schleier zu sehen – eine Nonne, vielleicht doch am Ende Hildegard? Omlor kann es nicht sagen, der „Gart der Gesundheit“ ist noch zu wenig erforscht.

Die Qualität der Texte im „Gart der Gesundheit“ sei denn auch sehr unterschiedlich, berichtet er: Mal muteten die Texte sehr modern an, dann wieder wimmele es von Teufel und Zauber. Der Inhalt des Buches sei deshalb so ohne weiteres heute nicht verwendbar, meint Omlor: zu schwierig die Sprache, zu unverständlich oft die Sätze. „Wir stehen hier in vielerlei Hinsicht an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, das macht das Buch unglaublich vielschichtig und spannend“, sagt Omlor – und alle Kräuterbücher danach seien eine Weiterentwicklung und Verbesserung.

Dazu enthielt das Buch nicht nur heimische Pflanzen, sondern auch solche aus dem Mittelmeerraum und dem vorderen Orient wie Citrusfrüchte, Zimt oder Weihrauch, berichtet Omlor. Denen allerdings fehle hin und wieder die Abbildung, „das hat den Druck sogar verzögert“. Dabei habe Breidenbach eigens eine Pilgerreise ins Heilige Land unternommen und dabei einen Illustrator aus Mainz mitgenommen – um während der Fahrt Heilpflanzen des Orients naturgetreu zu zeichnen.

Mainz, Kräutergarten vor dem Gutenberg-Museum   Foto: Bernd Essling
Kräutergarten vor dem Gutenberg-Museum nach dem „Gart der Gesundheit“ – Foto: Bernd Eßling/ Gutenberg-Museum

„Es hat aber nicht geklappt, warum weiß man nicht“, berichtet Omlor. Zwar wurde die Pilgerfahrt tatsächlich durchgeführt, Breidenbach schrieb darüber auch einen hochwertigen Reisebericht – die Abbildungen der Pflanzen aber gab es nicht. „Wahrscheinlich hat die Jahreszeit nicht gestimmt oder er kam zu spät – man weiß es nicht“, sagt Omlor.

Der „Gart der Gesundheit“ aber wurde zum Bestseller und zur Grundlage aller weiteren Kräuterbücher – und zum Anfang der Botanik. Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden die ersten Botanischen Gärten, zur Ausbildung der Ärzte und aus den Vorlagen der Kräuterbücher. „Das stand am Anfang unserer Disziplin“, sagt Omlor, „da kommen wir her.“ Und deshalb ist der „Gart der Gesundheit“ nun neu entstanden: 70 Heilpflanzen wurden im Botanischen Garten gepflanzt,in geometrisch angeordneten Beeten.

Im Zentrum stehen vier große Einzelbeete, eingefasst sind sie mit großen Natursteinplatten, und in die hat ein Bildhauer Abbildungen und Holzschnitte vom Garten der Gesundheit eingemeißelt. Eine medizinische Verwendung steht an den Pflanzen selbst aber nicht: „Das Spektrum der Anwendung ist unglaublich breit, und es könnte der Eindruck entstehen, das wäre heute noch gültig und das wäre unsere Empfehlung“, sagt Omlor: „Das wollen und können wir nicht.“

Mainz, Kräutergarten vor dem Gutenberg-Museum   Foto: Bernd Essling
Der Kräutergarten vor Gutenberg-Museum und Dom nach dem „Gart der Gesundheit“ – Foto: Bernd Essling/ Gutenberg-Museum

Denn die Idee der Heilpflanzenanwendung im Mittelalter sei eine andere gewesen, damals sei es nicht um das Kurieren von Symptomen gegangen, sondern um das Gleichgewicht der Säfte im Körper des Menschen, erklärt Omlor. Da sei immer „etwas Richtiges dabei – einfach, weil die Kräutergeschichte auf einer jahrtausendenalten Erfahrung beruht.“ Doch das alte Kräuterwissen, es nutzte auch Giftpflanzen, und deren Anwendung heute wäre für den Laien schlicht gefährlich. Allerdings sind Heilpflanzen noch heute für einen Großteil der Menschheit der wichtigste und manchmal auch einzige Zugang zu Gesundheit, sagt Omlor, „das haben wir ein bisschen aus dem Blick verloren.“

Und die Heilkräuter bergen noch manchen Schatz, den unsere chemische Arzneimedizin schlicht vergessen hat: 2015 ging der Medizin-Nobelpreis an die Entdeckung eines Malariamittels auf Grundlage einer Beifuß-Art. „Da schließt sich der Kreis“, lacht Omlor: „Borago, oder Beifuß – das ist das erste Kapitel im ‚Gart der Gesundheit‘.“

Info& auf Mainz&: Den Themengarten „Gart der Gesundheit“ könnt Ihr im Botanischen Garten der Uni Mainz entdecken – am besten bei Führungen oder beim großen Sommerfest am 12. Juni. Informationen dazu unter www.botgarten.uni-mainz.de.

Das Mainzer Gutenberg-Museum zeigt seit dem 2. Juni eine spannende Ausstellung dazu: In den „Kräuterbüchern“ könnt Ihr ein Original des „Gart der Gesundheit“ von 1485 sehen! Dazu wird die Entwicklung der Kräuterbücher über die Herren im 16. Jahrhundert und Hildegard von Bingen bis heute nachgezeichnet – in Rheinhessen nämlich beleben die Kräuterhexen von Siefersheim und Umgebung das alte Wissen um Wildkräuter neu. Heute könnt Ihr das bei der Ausstellungseröffnung um 10.00 Uhr im Gutenberg-Museum selbst erleben. Vor der Tür, zu Füßen des Doms sind außerdem Kräuterbeeten mit Pflanzen aus dem „Gart der Gesundheit“ entstanden – eine Ausstellung wahrlich für alle Sinne. Infos beim Gutenberg-Museum, genau hier.

HINTERLASSEN SIE EINEN KOMMENTAR

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein