Zerstörte Häuser, vernichtete Existenzen, Geisterstädte, ausradierte Infrastruktur – wie stellt man Wahlunterlagen in Schlammwüsten und Trümmerbergen zu? An leere Häuser ohne Menschen? In neun Wochen soll Bundestagswahl sein – wie soll das gehen? Die Flutkatastrophe vom 14. Juli war die vielleicht größte Naturkatastrophe in Deutschland seit Jahrhunderten. Hunderttausende Menschen in NRW und Rheinland-Pfalz haben durch die verheerende Flut Häuser und Geschäfte, Lebensgrundlagen und vielfach auch geliebte Menschen verloren. In vielen Orten entlang der Ahr gibt es kein geordnetes Staatswesen mehr. Mainz& sagt: Verschiebt die Bundestagswahl! Ein Leitartikel zur Flutkatastrophe an Ahr, Wupper, Erft & Co von Chefredakteurin Gisela Kirschstein.

Zerstörtes Haus in Schuld im Ahrtal: Zustellung von Wahlunterlagen? - Motiv: SWR, Screenshot: gik
Zerstörtes Haus in Schuld im Ahrtal: Zustellung von Wahlunterlagen? – Motiv: SWR, Screenshot: gik

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“, heißt es im Grundgesetz, es ist ein guter Grundsatz. Frei, gleich, geheim – das setzt äußere Freiheit voraus, aber auch innere. Geheim, das setzt funktionierende Wahlkabinen und Abstimmungsmodalitäten voraus. Und gleich bedeutet: Alle haben die gleichen Chancen. Doch für die Menschen in den Flutgebieten vom 14. Juli ist nichts an dieser Wahl frei, gleich oder gar fair.

Das gilt ganz besonders für die Menschen im Ahrtal: Auf einer Länge von 40 Kilometern ist hier nichts mehr, wie es war. Mehr als 80 Kilometer Straßen, Schienen und Wege sind nach einer Auswertung des SWR mindestens beschädigt, 62 Brücken wurden in Ahrtal von den Fluten weggerissen, sieben Eisenbahnbrücken zerstört. 7.000 Gebäude seien im Ahrtal in Mitleidenschaft gezogen, sagte der Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), am Samstag – allein im Landkreis Ahrweiler.

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Zerstörtes Erdgeschoss eines Hauses in Dernau an der Ahr: Zustellung der Wahlunterlagen? - Foto: gik
Zerstörtes Erdgeschoss eines Hauses in Dernau an der Ahr: Zustellung der Wahlunterlagen? – Foto: gik

Man kann es auch anders sagen: Im Ahrtal steht kaum noch ein Stein mehr auf dem anderen. Die Infrastruktur: hinweggefegt. Strom, Wasser, Gas sucht man vergeblich, Kläranlagen, Schulen, Kitas, Geschäfte, Handwerksbetriebe, Apotheken, Arztpraxen – ein geordnetes Staatswesen gibt es hier nicht mehr. Wohlgemerkt: Das ist kein „Staatsversagen“, es geht um einen Zusammenbruch des Staatswesens, also sämtlicher Versorgungseinrichtungen, die man für das tägliche Leben so braucht.

Und hier sollen die Menschen in neun Wochen eine Wahl bestreiten? Wie denn? In Häusern, in denen es keine Briefkästen, geschweige denn Menschen mehr gibt? In zerstörten Schulen und Verwaltungsräumen als Wahllokale? Wie will man denn, bitte, Wahlunterlagen zustellen an Menschen, die in alle Himmelsrichtungen versprengt wurden? In drei (!) Wochen wäre es übrigens so weit, dann müssen die Wahlunterlagen rausgeschickt werden, bundesweit, an alle gleich. Noch immer sind 149 Menschen im Ahrtal vermisst, ihr Verbleib ungeklärt, 132 Tote zählt die Region derzeit. Ganze Häuser wurden von den Fluten weggerissen. Manche samt ihrer Bewohner. Wahlunterlagen zustellen – hier?

Zerstörter Bahnsteig in Dernau an der Ahr. - Foto: gik
Zerstörter Bahnsteig in Dernau an der Ahr. – Foto: gik

Von 550 Mitarbeitern der Kreisverwaltung Ahrweiler seien 200 Mitarbeiter von der Flutkatastrophe persönlich betroffen, sagte Pföhler, sie seien „freigestellt, traumatisiert.“ Und hier will man in neun Wochen ein geordnetes Staatswesen präsentieren? Selbst wenn man das mit Hilfe von Bediensteten anderer Regionen stemmen könnte – will man ernsthaft Wahlurnen zwischen Häuserruinen aufstellen? Es gibt noch immer Orte im Ahrtal, die durch einen geregelten Verkehr nicht zu erreichen sind, allenfalls über verschlammte Waldwege – oder zu Fuß. Hier leben Menschen im Ausnahmezustand, die Aufräumarbeiten werden noch Wochen dauern. Andere besitzen schlicht kein Auto mehr, um sich von A nach B zu bewegen, geschweige denn zu einem Wahllokal.

Ein Tal im kollektiven Schockzustand, Städte verwüstet

Und überhaupt, die psychische Komponente: Wer ins Ahrtal fuhr in den ersten Tagen nach der Flut, erlebte ein Tal im kollektiven Schockzustand. Man traf Menschen, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli stundenlang um ihr Leben gebangt oder gekämpft haben. Die Nachbarhäuser in den Fluten versinken sahen – samt ihrer Nachbarn drin. Der Bürgermeister einer dieser Ort – welcher ist jetzt mal unwichtig – musste in der Nacht zusehen, wie seine Mutter mitsamt ihrem Haus ein Opfer der Fluten wurde. Glaubt eigentlich irgendjemand, dass sich dieser Mann in neun Wochen ernsthaft für eine Wahl interessiert?

Zerstörte Brücken an der Ahr. - Foto: Polizei RLP
Zerstörte Brücken an der Ahr. – Foto: Polizei RLP

Und das ist ja nicht nur im Ahrtal so: Hagen, Wuppertal, Erftstadt, Altena, Trier-Ehrang, Euskirchen – in fast 30 weiteren Orten in NRW, in mindestens einem Dutzend weiterer Orte in Rheinland-Pfalz, in Rheinbach, Erftstadt, Trier und Prüm haben Menschen in jener Flutnacht Schreckliches, Schockierendes, Traumatisierendes erlebt. Wie sollen diese Menschen am 26. September eine qualifizierte, abgewogene Wahlentscheidung treffen? Zusammengerechnet dürften die von der Flutkatastrophe betroffenen Regionen mehr als eine Million Einwohner haben, mindestens. Da sind Regionen wie das Berchtesgardener Land gar nicht mit berücksichtigt.

Und auch wer nicht direkt betroffen war, steht unter dem Schock der Ereignisse. Im Ahrtal kommen Tausende Helfer der ersten Stunde dazu, die Unfassbares erlebten. Landwirte, die Straßen und Plätze von Trümmerbergen freiräumten, und dabei nicht nur Schutt fanden. Bauunternehmer und Landschaftsbauer mit ihren riesigen Maschinen, die seit mehr als zwei Wochen die Überreste menschlicher Existenzen wegbaggern. Zehntausende an Helfern aus allen Teilen der Republik, die Schlamm schippten, Trümmer räumten und Schicksale erfuhren, von denen sie nicht einmal in ihren schlimmsten Alpträumen träumten. Wer dieses Tal in den Tagen nach der Katastrophe betreten hat, hat es verändert verlassen.

Wut auf den Staat, der nicht schützt und nicht hilft

Verwüstungen an der Ahr: Das Ende der Sicherheit. - Screenshot SWR: gik
Verwüstungen an der Ahr: Das Ende der Sicherheit. – Screenshot SWR: gik

Da sind Schock, da sind Fassungslosigkeit – und da ist auch wachsende Wut über einen Staat, von dem sich viele im Stich gelassen fühlen, weil von den Helfern des Staates in den ersten Tagen vor Ort wenig zu sehen war. „Es hat sich etwas verschoben in Deutschland“, schreiben die Kollegen vom Spiegel in ihrer neuesten Titelgeschichte: „Es geht um die Frage, wie sicher sich die Menschen hier noch fühlen können. Ob die Bürger den Eindruck haben, dass der Staat sie schützt, ob auf ihn Verlass ist, wenn es gefährlich wird, lebensgefährlich.“

Wer in diesen Tagen im Ahrtal unterwegs ist, der hört ganz klar eine Antwort: Nein, der Staat hat uns nicht geschützt, denn Warnketten für den Katastrophenfall haben kläglich versagt. Und danach, nach der Katastrophe, hat „der Staat“ auch nicht geholfen (so das Empfinden) – das waren die Tausenden freiwilligen Helfern mit ihren Schippen und Eimern, das waren die Landwirte und Unternehmer. Der Staat war weit weg und praktisch nicht präsent – und damit sind NICHT die Helfer von Feuerwehr und THW, von Polizei oder Rettungsdiensten gemeint, und schon gar nicht die Soldaten der Bundeswehr. Gemeint ist damit der Staat als Institution, als leitende, koordinierende, ordnende Hand.

Baggerfahrer und Traktoren von Landwirten und Unternehmern in Dernau an der Ahr: Helfer der ersten Stunde. - Foto: gik
Baggerfahrer und Traktoren von Landwirten und Unternehmern in Dernau an der Ahr: Helfer der ersten Stunde. – Foto: gik

Jetzt, zehn Tage nach der Katastrophe, taucht der Staat im Tal wieder auf. Der Vertrauensverlust ist längst geschehen – und er wird Spuren hinterlassen. Man kann sie überall nachlesen, in Helferforen, in den sozialen Medien, man hört sie in jedem Gespräch, vor allem bei denen, die von Tag eins an vor Ort waren, angepackt haben, die Hilfe koordiniert, ja: organisiert haben. Es waren die Bürger dieses Land, die diese gigantische Herausforderung heroisch angepackt haben – der Staat war: abwesend.

Wahl in existenzieller Lage: unzumutbar

In dieser existenziellen Gemengelage ist eine Wahl genau eines: Unzumutbar. Sie ist unzumutbar für die Bürger, die vor der Zerstörung ihres bisherigen Lebens und ihrer Existenzen stehen. Sie ist unzumutbar für Verwaltungen und Regierungen in zwei Bundesländern, die wahrlich gerade anderes zu tun haben, als sich um eine Wahl zu kümmern. Und sie ist unzumutbar für die Wahlkämpfer: Wer kann sich denn bitte vorstellen, in einem Krisengebiet wie dem Ahrtal Wahlkampf zu machen? Wer will diesen Wahlkampf hier jetzt hören? Wenn aber – sagen wir – eine Million Menschen gar nicht in der Lage sind, sich auf eine Bundestagswahl zu konzentrieren, wie fair und gleich ist diese Wahl dann noch?

Überflutungen an der Ahr: gigantische Aufgaben für die kommenden Jahre. - Motiv: SWR, Screenshot: gik
Überflutungen an der Ahr: gigantische Aufgaben für die kommenden Jahre. – Motiv: SWR, Screenshot: gik

Und es ist ja auch nicht irgendeine Wahl: Mit dem Abtreten von Angela Merkel sucht Deutschland nichts weniger als einen Staatenlenker oder eine Staatenlenkerin für die kommenden Jahre, der oder die geradezu Herkules-artige Aufgaben stemmen muss. Da ist die Bewältigung dieser gigantischen Katastrophe, die Aufräumarbeiten der kommenden Monate, da gilt es die Weichen gegen kommende Katastrophen zu stellen, den Katastrophenschutz komplett umzubauen und mal eben noch mit den richtigen Weichen in Sachen Klimakrise die Welt zu retten. Ach ja, und die Corona-Pandemie gibt es übrigens auch noch – soeben baut sich eine vierte Welle auf, deren Auswirkungen nicht absehbar sind.

Koalitions-Hängepartie statt Krisenmanagement?

Und in all dem wollen wir jetzt echt „die Pferde wechseln“? Eine Regierung komplett austauschen, mit neuen Ministern, neuen Ressorts – einer/m neuen Chef/in an der Spitze? Machen wir uns doch nichts vor: Egal, wie diese Wahl ausgeht, es werden schwierige Koalitionsverhandlungen. Wollen, nein: können wir uns in dieser Lage wirklich eine wochenlange Hängepartie leisten, aus der danach ein Dutzend Ressortchefs und -chefinnen hervorgehen, die sich erst einmal in ihre neuen Jobs einarbeiten müssen?

Erfahrene Krisenmanagerin und Staatenlenkerin: Angela Merkel beim Besuch an der Ahr. - Foto: RLP News
Erfahrene Krisenmanagerin und Staatenlenkerin: Angela Merkel beim Besuch an der Ahr. – Foto: RLP News

Und wer jetzt schreit: Ja, gerade jetzt müssen wir doch wählen, wegen dem Klimawandel und den Konsequenzen, und überhaupt…!! Dem kann ich nur empfehlen: Einfach mal ins Ahrtal fahren. Mit offenen Augen und Ohren. Vor zerstörten Brücken stehen und gähnenden Geisterstädten. Vor herausgerissenen Leitungen und Autos, die schlammverkrustet in Bäumen hängen. Ach ja: Gummistiefel und Handschuhe nicht vergessen. Die Menschen dort mögen Gaffer und Besserwisser gerade nicht besonders.

Nein, dieses Land braucht jetzt noch einmal für eine kleine Weile Stabilität und Besonnenheit, eingearbeitete Regierende – und eine Bundeskanzlerin, die schlicht weiß, was sie tut, wie sie es tut und was sie tun kann und muss. Angela Merkel wirkte bei ihrer Sommer-Pressekonferenz gerade so frisch und aufgeräumt, als würde sie noch einmal ganz neu durchstarten – von Amtsmüdigkeit keine Spur. In ihrer überlegten Art ließ sie schnell noch Ansätze zum grundlegenden Umsteuern in Sachen Klima & Katastrophen durchblicken, mit strategisch klarem Blick für das jetzt Notwendige. Angela Merkels Auftritt im Tal der Ahr, hat die Menschen zudem tief beeindruckt. Der Besuch der „alten“ Kanzlerin hat ihnen Halt und Vertrauen zurückgegeben, neue Hoffnung, kurz: Stabilität.

Diese Ahr-Apokalypse: ein Game-Changer

Erfahrene Krisenmanagerin mit Empathie: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz im Ahrtal. - Screenshot: gik
Erfahrene Krisenmanagerin mit Empathie: Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Pressekonferenz im Ahrtal. – Screenshot: gik

Ein Jahr noch sollte sich die Republik diese erfahrene Managerin an der Spitze gönnen. Ein Jahr, in dem die heißesten Tränen getrocknet, die allerschlimmsten Wunden verbunden werden können. Ein Jahr um ein wenig zur Ruhe zu kommen in den betroffenen Gebieten, um neue Weichen zu stellen, um wieder Mut zu schöpfen und die Kraft, den Blick nach vorne überhaupt wieder wagen zu können. Und gerne auch ein Jahr, um im Rest der Republik schon mal ordentlich zu streiten, wo es hingehen soll in einer Zukunft, die eine andere sein wird.

Diese Katastrophe, vor allem die Apokalypse an der Ahr, sie ist ein „Game Changer“, eine „Stunde Null“, eine Art Fukushima in Sachen Klima und Katastrophen. Sie wird Folgen für dieses Land haben wie weiland die Bewältigung der Deutschen Einheit, sie wird enorm viel Kraft und Summen kosten, und sie wird das Land verändern. Und sie wird die, die jetzt da draußen kandidieren, mit ganz neuen Fragen konfrontieren. Es wäre nur fair, auch ihnen die Zeit zu geben, sich auf die veränderte Republik einzustellen. Allgemein, frei und gleich – so sollen Wahlen in Deutschland sein. Findet die Bundestagswahl am 26. September wirklich statt, wird sie vor allem eines nicht sein: fair.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Thema Zusammenbruch des Staatswesens lest Ihr in diesem persönlichen Erlebnisbericht aus dem Ahrtal auf Mainz&. Mehr zur ersten Bilanz der Zerstörungen an der Ahr könnt Ihr hier bei Mainz& nachlesen. Es gibt es sogar eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zum Thema Verschiebung der Bundestagswahl – von Anfang Juli. Darin heißt es: Ein Wahl kann verschoben werden wegen Naturkatastrophe und Seuchen – mehr dazu lest Ihr hier im Internet.

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