Das 45. Open Ohr Festival wird grundsätzlich: „Partei ergreifen“ lautet das Motto des Jahres 2019, und dieses Mal setzt das politische Jugendkulturfestival die Diskussions-Axt an den Wurzeln unserer Demokratie an. Im Mittelpunkt steht in diesem Jahr die Frage, ob politische Parteien noch zeitgemäß sind, welches ihre Rollen und Aufgaben sind – und wie andere Beteiligungsformen in der Demokratie aussehen könnten. „Wir fragen uns, ob unsere Parteien ihrem gesellschaftlichen und politischen Auftrag nachkommen“, sagt Nine Wolny von der Freien Projektgruppe, die das jeweilige Thema des Open Ohrs setzt. Damit setzt das Open Ohr 2019 nach Moderner Sklaverei, Heimat und Flüchtlingen die Reihe hoch-politischer Themen fort und spricht im Wahljahr 2019 ein zentrales Thema an, das auch viel mit Politikverdrossenheit zu tun hat.
Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie, die politischen Parteien sind darin ein zentraler Baustein: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“, heißt es in Artikel 21 des Grundgesetzes. In der parlamentarischen Demokratie sind sie die Träger des Willen des Volkes, sie sollen alle Gesellschaftsschichten abbilden und den Willen der Menschen in den Parlamenten in Gesetze und Regierungshandeln umsetzen. Kurz: die politischen Parteien sind die Repräsentanten des Volkes – doch wie gut erfüllen sie diese Funktion eigentlich noch? Postenschacherei, Kungelei in Hinterzimmern, Lobbyismus und Fraktionszwang sind Gründe, warum sich viele Menschen von den politischen Parteien abwenden – und zunehmend auch gleich von der parlamentarischen Demokratie.
Genau diesem Themenkomplex widmet sich an Pfingsten das Open Ohr 2019: Ohne Parteien sei das politische System der Bundesrepublik „bisher nicht vorstellbar“, heißt es von der Freien Projektgruppe. Das Festival wolle „einen Diskurs initiieren, ob Parteien heute noch die bestimmenden Orte für politische Diskurse aus dem Herzen der Gesellschaft sind, obwohl sie scheinbar keine trag- und zukunftsfähigen Konzepte für anstehende Herausforderungen anbieten.“ Und so soll auf dem Festival über Probleme wie mangelnde Identifikationsmöglichkeiten mit Parteiprofilen geredet werden, soll das Funktionieren unseres Parteisystems durchleuchtet und seine Schwächen aufgezeigt werden.
Denn das Vertrauen in die Parteien und ihre Politiker schwinde, negative Schlagzeilen hinterließen den Eindruck, dass Politiker ihrer eigentlichen Verantwortung gar nicht mehr nachkämen – das Misstrauen wachse, ob Politiker überhaupt noch dem Gemeinwohl und ihren Wählern verpflichtet seien „oder viel mehr den Parteiinteressen, dem eigenen Machtstreben oder Lobbyisten dienen“, heißt es im Thesenpapier zum Open Ohr 2019. „Politische Visionen, leidenschaftliche Kampfansagen und waghalsige Reformvorschläge im Interesse der eigenen Parteibasis finden sich heute eher vereinzelt“, klagt die Projektgruppe.
Kurz: die Parteien seien in der Krise, die Individualisierung der modernen Gesellschaft destabilisiere das Großparteiensystem. Fraglich sei deshalb, ob das repräsentative Parteiensystem in der benannten pluralisierten Gesellschaft „eine adäquate Repräsentation der Interessen und Bedürfnisse des „Volkes“ ermöglicht“, fragt das Thesenpapier weiter. Viele Bürger fühlten sich inzwischen vom politischen System ausgeschlossen und suchten ihr verloren geglaubtes Mitbestimmungsrecht auch in rechten Bewegungen.
„Die Stellung der Parteien als Vermittler zwischen Staat und Bevölkerung wird in Frage gestellt und schürt so demokratiegefährdende Momente“ – die Parteien würden zum Risikofaktor. Die Wähler sähen ihre Interessen nicht mehr hinreichend vertreten, politische Entscheidungen schienen nicht mehr durch sie getroffen zu werden. „Wenn Parteien nicht mehr in der Lage sind Entscheidungen im Sinne der Wähler zu treffen, Willensbildung und politische Teilhabe zu fördern, verlieren sie ihre Legitimation“, warnt die Projektgruppe.
Aber das Open Ohr wäre nicht das Open Ohr, wenn es rein destruktiv bliebe: auf dem letzten verbliebene politischen Jugendkulturfestival der Republik wird immer auch nach Lösungen gesucht. Mögliche Weiterentwicklungen stehen deshalb ebenfalls im Fokus: „Wir möchten über neue Beteiligungsformate und Räume für politischen Diskurs jenseits von Parteibüchern nachdenken, die vielleicht auch einen institutionalisierten Platz in unserer Demokratie eingeräumt bekommen könnten“, sagt Konrad Herfurth von der Freien Projektgruppe. Gemeinsam wolle man erkunden, wie Bürger auch abseits von Parteibüchern für eine Sache Partei ergreifen können.
„Brauchen wir eine neue demokratische Kultur ohne das gewohnte Parteiensystem?“, fragt die Projektgruppe deshalb in ihrem Thesenpapier. Es müsse die Frage gestellt werden, ob Parteien immer noch der beste Ort für einen politischen Diskurs seien, ob sie noch immer die Basis neuer Ideen und visionärer Veränderungsbewegungen sein könnten – bisher jedenfalls würden zentrale Zukunftsthemen wie Klimawandel, Armut, Mietpreise, Pflege oder Asylpolitik von den Parteien nur unzureichend gelöst.
„Wir sind überzeugt: Ohne unsere aktive Beteiligung bleibt Demokratie eine leere Hülse“, heißt es im Thesenpapier weiter: „Als Bürger ist es unsere Aufgabe mitzureden, mitzugestalten, mitzudenken. Lasst uns Partei ergreifen für die Demokratie, verteidigen wir sie – mit oder ohne Hilfe der Parteien.“
Info& auf Mainz&: Das 45. Open Ohr findet wie immer an Pfingsten auf der Zitadelle in Mainz statt, in diesem Jahr ist das vom 7. bis 10. Juni 2019. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, Dauerkarten zum Preis von 36,20 Euro können online oder über die bekannten Vorverkaufsstellen gekauft werden. Inklusive vier Tage Zeltplatz kostet die Dauerkarte 56,- Euro. Tageskarten gibt es nur an der Festivalkasse vor Ort, sie sind erfahrungsgemäß schnell vergriffen. Kosten: Freitag, Samstag, Sonntag jeweils 23,- Euro, am Montag 11,- Euro. Alle Informationen zum 45. Open Ohr 2019 findet Ihr auf dieser Homepage, zum spannenden Thesenpapier geht es genau hier. Mehr zum Kultur- und Musikprogramm des Open Ohr gibt’s auf einer Pressekonferenz im Mai oder fortlaufend über die Homepage.