Wenn die Welt in Krisen und Kriege zerfällt, und es kalt wird in der Welt, dann ziehen die Gonsenheimer Narren eben einfach in den Märchenwald und suchen nach dem Spaß im Leben. Aber wie könnte es anders sein: In diesem Märchenwald ist nichts so, wie es scheint. Da will der süße Hamster unbedingt ein Bösewicht sein, das Sterntaler-Mädchen verzweifelt im Mainzer Straßenverkehr – und Hänsel und Bleedel am Kartenverkauf für den Schillerplatz. Gut, dass die Narren von Gonsenheimer Carneval Verein (GCV) ihre Geheimwaffe haben: Wenn die Schnorreswackler mit dem Schnorres wackeln, dann wird „Alles wieder gut“.
Jedes Jahr zum 11.11. lädt der Gonsenheimer Carnevals-Verein (GCV) zu seinen Närrischen Kammerspielen in die Turnhalle nach Gonsenheim, und da wird mal auf Pilgerfahrt gegangen und mal auf Kreuzfahrt, wird die Kriminalstunde gegeben oder – wie Anno 2022 – mit Scheichs auf der Ölwiese die Energiekrise gelöst. Der schlecht gelaunte Hamster vom Vorjahr ist jetzt in den Märchenwald gezogen, und klagt, er sei „gefangen im Körper eines süßen Nagers – und jetzt ist hier auch noch Märchenstunde, das ist diskriminierend!“
Johannes Emrich ist als pelziges Nagetier wie schon auf der Ölwiese ein Highlight auf der GCV-Bühne. „Ooohhh, ist der süß“, schwärmt der „Bruder Krimm“, doch da kommt er an den Falschen: „Ich will Bösewicht in ’nem Märchen werden, das hat mit Spaß nichts zu tun“, faucht der Hamster zurück – ja, es ist nicht einfach heutzutage im Märchenwald. Dort sucht Herr Becker aus Gonsenheim – alias Marius Vohmann alias Marius Hohmann – das Glück, nachdem er fünf Jahre lang im Krisengebiet im fernen Finthen Aufbauhilfe beim Spargelstechen leisten musste.
Seitenhiebe auf MCV: „Mer wollen auf de Schillerplatz…“
Peter Büttner hat als findiger Finther Spargelbauer die Klimakrise und neue Heizpilze genutzt, um Winterspargel zu züchten, die närrische Allzweckwaffe des GCV gibt später noch einen herrlich schmierigen Eis-Mario-Italiener und einen gewieften Jacques Herrmann. Sie alle verkaufen dem Herrn „Becker im Glück“ Wege zum Glücklichsein, doch das ist nicht so einfach: Die Dauerkarte für die Mainz 05er erweist sich als gar nicht so glücklich-machend, also tauscht sie Herr Becker gegen zwei Karten für den 11.11.2024 auf dem Schillerplatz…
Die Pleiten, Pech und Pannenserie des Mainzer Carnevals-Verein zum 11.11. dieses Jahres mit verpatztem Ticketverkauf und umzäunter Narrenparty wird zum Running Gag des Abends. Wer den Schaden hat, der darf sich auf den Spott der Narren schon mal freuen – den Hit schießen dabei natürlich Christian Schier und Martin Heininger ab: Die beiden wandern als „Hänsel und Bleedel“ durch den Märchenwald und singen ganz verzweifelt: „Schi, Schi, Schillerplatz, mer woll’n auf de Schillerplatz…“. Das Video dazu könnt Ihr hier auf Facebook sehen.
Da hilft auch kein Locken von „Hexe“ Katharina Greule im Lebkuchenhaus: Die hat eh‘ schon keinen Ofen mehr, „ich musste eine Wärmepumpe einbauen“, klagt die wieder einmal glänzend performende Greule. Und weil sie danach jetzt Pleite ist, muss ein Zauberspruch helfen: „Papagei und Ententeich, hex hex hex, jetzt mach mich reich.“ Das Ergebnis: ein Papagei aus Wiesbaden auf der Schulter – und zwei Karten für den 11.11. auf dem Schillerplatz im nächsten Jahr, „ganz exklusiv, für einen ausgewählten Kreis“, freut sich die Hexe: „Für die Leut‘ mit dem schnellsten Internetanschluss oder mit viel Vitamin B.“
Sterntaler und Peterchens Mondfahrt: Zwei Sternstunden des GCV
Ja, im Märchenwald ist die Welt auch nicht mehr, wie sie mal war: Dem „Sterntaler“ alias Christina Grom fliegen die Sterne um die Ohren, und der Mercedes gerät „Lost im Schilderwald“. Mit einem närrischen Parforceritt persifliert die Tochter aus dem Hause Grom die wahrhaft irrwitzige Mainzer Verkehrspolitik, und lässt gleich noch den Rest des politischen Jahres Revue passieren: Steuerlast und Inflation, Klimakrise, linke Ampel, AfD, Ukraine, Flüchtlingsstrom – Chrissy Grom legt nach ihrem Einstand als Polit-Rednerin im Vorjahr erneut ein überzeugend-schwungvolles Protokoll auf die Bühne, das weckt definitiv Lust auf mehr.
Ganz starke Worte aber findet „Sterntaler“ Grom zum jüngsten Kriegsgeschehen im Heiligen Land: „Erschüttert sind wir diese Zeit von äußerst großer Grausamkeit“, reimt Grom – und schließt ihren Vortrag mit einem eindringlichen Plädoyer für Frieden, Freiheit und Toleranz: „Ob Juden, Moslem oder Christ, am End‘ des Tages Mensch man ist“, schreibt Grom allen Hassenden ins Stammbuch: „Denn Mitgefühl, ich glaub daran, ist was am End uns’re Welt noch heilen kann.“ Da erhebt sich der Saal wie ein Mann und spendet der Rednerin „Bravos“ und donnernden Applaus.
Zur zweiten Sternstunde wird kurz darauf Peterchens Mondfahrt: Ein wunderbar aufgelegter „Mann im Mond“ alias Thomas Becker schaut da mit Peterchen, das nicht schlafen kann, auf die Erde hinab und in die Sterne, und findet dort einen „Sahra Putinknecht, der so eitel ist wie die Cassiopeia“ und der „die Arbeit für den Kreml kaum Zeit lässt für die Parteiarbeit.“ Sahra Wagenknecht und ihre Parteigründung lassen grüßen. „Die wird nicht weit kommen“, winkt der Mann im Mond ab.
Braune Bären, ein Putinknecht und eine Laterne für den Frieden
Auch allerlei große und kleine braune Bären entdecken Mondmann und Peterchen am Himmel, aber Achtung: „Die sind nicht alle Rechts“, beruhigt der Mondmann, „da sind auch stinknormale Faschisten dabei.“ Jaja, früher habe man immer gedacht, „der Grund für die menschliche Dummheit wär‘ der Mangel an Infomöglichkeiten“, seufzt Becker: „Jetzt wissen wir: war’s nicht.“ Nun, im Zweifel ist ohnehin die Regierung an allem Schuld, was da unten auf der Erde schief läuft – bis hin zu Fußpilz, Wasserrohrbruch auf der Breiten Straße, dem Meenzer Tatort und daran, dass der Gonsenheimer Hof dicht gemacht hat.
„Darf man in diesen Zeiten überhaupt noch schlafen, lachen, oder Fastnacht feiern“, sorgt sich „Peterchen“ alias Peter Gottron: Der Sitzungspräsident der Prinzengarde gibt bei diesen Kammerspielen seinen Einstand auf der Gonsenheimer Narrenrostra. Doch der Mann im Mond beruhigt: „Der Rosenmondtag ist ja auch mein Feiertag“, sagt er. Und auch, „wenn wir heute das Gefühl haben, dass die Grundfeste dieser Erde erschüttert werden“, er halte es mit dem alten Ministerpräsidenten Hansjochen Vogel, der einmal sagte: „Der Willen zu Frieden und Versöhnung sind größer.“
Nein, die Narren blenden die Kriege und Katastrophen dieser Zeit keineswegs aus, und so wird aus einer beschaulichen Märchennummer ein politischer Parforceritt über das Himmelszelt, und eines dabei Sternenklar: Die Fastnachter in Mainz zünden eine große Laterne für den Frieden in der Welt.
Ein Frosch will OB von Meenz werden und schiebt Störche ab
Doch der GCV wäre nicht der GCV, würde er samt seinem Publikum im Trübsal versinken – weit gefehlt: Der Hamster ist wieder da, und drangsaliert nun inzwischen die Großmutter auf der Suche nach den leckersten Haselnüssen im Land – das finden dann selbst die abgebrühten Regisseure Jens Ohler und Andreas Müller zum Gruseln. Grund zu Beschwerden hat auch Dornröschen: „Ständig weckt mich jemand durch Küssen“, klagt Julia Gehrlein, und erteilt den Lindemanns und Rubiales‘ dieser Welt eine klare Abfuhr: „Küssen verboten!“
Ein paar Bäume weiter krabbelt derweil der rote Erdal-Froschkönig aus dem Brunnen, Maurice Müller schafft das Kunststück, ein großartiges Kalauer-Feuerwerk abzubrennen, aber dennoch nicht im Seichten zu versanden. Stattdessen will „der Frosch mit den meisten Kröten vun ganz Meenz“ jetzt auch OB in Mainz werden: „Nach Fuchs und Haase wirds dringend Zeit, dass ein Frosch OB wird“, findet er. Erste Amtshandlung: Die Abschiebung von Störchen forcieren, besonders einer gewissen Beatrix von Storch…. eine ganz starke Nummer.
Derweil ziehen auch noch ein Leprechaun (Christophe Heinz) und zwei sehr blaue Avatare durch den Märchenwald. Letztere verdingen sich als Statisten bei der AfD: „Da biste den ganzen Abend blau, und musst nix im Kopf haben“, erklärt Thorsten Spengler. Gemeinsam mit Partner Thorsten Schäfer nehmen die beiden die Avatar-Filme ebenso aufs Korn wie den jüngsten Umfrageboom der Rechtsextremen: „Tja, hätt‘ die Ampel funktioniert, wär ich nie bei der AfD gelandet“, sagt „Jimmy Blue Kobold“ alias Spengler – Narrenmund tut Wahrheit kund.
Närrisches Musical von der Breiten-Broadwaystraße
Der Rest ist Schweigen, oder vielmehr: Musik. Hatten zu Beginn schon „Voll auf die 7“ samt Schneewittchen mit glasklarem Rock dem Märchenwald eingeheizt, so wird aus den Kammerspielen zu späterer Stunden endgültig ein Musical von der Breiten-Broadwaystraße. Da präsentiert Altmeister Rudi Hube ein hintersinniges „Märchen von der Verkehrswende“ und bringt mit seinem Couplet vom „Fahrrad übern Rhein“ die Zuschauer im Saal zum begeisterten Mitsingen. „Garniert“ wird das Ganze, wie es sich für ein gutes Musical gehört, durch fantastische Tanzeinlagen der Balletts: Das GCV-Ballett tobt als mittelalterliche Ritterinnen über die Bühne, das Füsiliergarde-Ballett brilliert mit einem Hexentanz.
Überhaupt ist Singen an diesem Abend groß angesagt: Mit größter Begeisterung huldigt die Narrenschar „Kammersänger“ Johannes Bersch und Begleiter Sebastian Kraus – wer es schafft, aus „Kein Geländer“ einen Tophit zu machen, der hat wahrhaft Narrentalent vom Feinsten. Doch skurriler geht immer: Die Bremer Stadtmusikanten verzweifeln an ihrer Pyramide, während der Esel von der Deutschen Bahn zweigeteilt wird, und also in Peter Maffay-Manier singt: „Und wenn ich geh‘, geht nur ein Teil von mir – der andere Teil fährt nach Trier.“ Und der Saal feiert.
Mehr Lachsalven-Attacke können nur Thomas Becker und Frank Brunswig, die dieses Mal als Bauchredner und sein Bommel daherkommen und ein extrem schräges Kalauer-Kino abliefern. Da ist dem Saal auch egal, wie sehr die Nummer hinten heraus verflacht – die Lachsalven sind nicht mehr zu stoppen. „Es ist spät geworden im Märchenwald“, sagt der Märchenerzähler Andi Bockius, und erzählt das Märchen von zwei Brüdern, die einander verloren haben.
Herr Becker sucht den Spaß – und der Schnorres wackelt
„Ausgerechnet am 11.11. konnte Matze am Schillerplatz seinen Bruder nicht finden“, berichtet Andi, und so hat der Neue Song von „Doppelbock“ eben eine Woche später Premiere: „Ohne Dich“ zündet indes noch nicht so richtig. Herr Becker sucht derweil immer noch den richtigen Spaß, und hat inzwischen seine Karten für den 11.11. gegen einen Gold-Esel getauscht, der aber nur Äpfel legt. Bis ihn Fastnachts-Zubehör-Legende Jacques Herrmann belehrt: „Das Wertvollste, was ich besitze, ist en Schnorres – das ist der Garant für Spaß.“
Natürlich: Wenn der Schnorres wackelt, lacht die Welt, das weiß in Gonsenheim jedes Kind, und die „Schnorreswackler“ von GCV feiern 2024 ihr 60-jähriges Bestehen. Zur Vor-Feier brennt die Gesangstruppe schnell noch mal ihr rasantes Medley von Fastnachtshits ab, und begeistern als Zombies vom mexikanischen Día de los Muertos. Als wahre Narrenhymne aber erweist sich einmal mehr das Lied, das schon zur Coronazeit zum Sehnsuchtshit in Mainz wurde – jetzt wird es zum Schrei nach Frieden.
„Bei allem Übel auf der Welt, bei Macht, Korruption und Geld“, sprechen die Bockius-Brüder, gebe es doch eines, das Mut mache: „Was nützt das größte Glück der Welt, wenn niemand mehr zusammenhält. Geht aufeinander zu, probiert’s! Dann wird aus Wut auch wieder Mut – und dann ist ‚Alles wieder gut‘.“ Und manchmal gibt es Happy Ends ja nicht nur im Märchen…
Info& auf Mainz&: Wer nicht weiß, was es mit dem 11.11. und dem Schillerplatz auf sich hat, kann das hier noch einmal nachlesen. Und gleich steht hier auch noch unsere Fotogalerie: