Schock in den Morgenstunden: Viele Mainzer registrierten am Freitagmorgen ungläubig, die Ergebnisse aus Großbritannien – die Briten haben tatsächlich für den „Brexit“, den Ausstieg aus der EU gestimmt. Von einem „schlechten Tag für Europa und für Mainz“, sprach Oberbürgermeister Michael Ebling (SPD), und die Wirtschaft warnt vor den Folgen für Unternehmen. Sorgen machen sich insbesondere die Winzer – England ist der drittgrößte Exportmarkt für deutsche Weine. In Frankfurt hingegen sagen sie „Welcome to FRM“ – und schalteten eine Landingpage für britische Unternehmen.

Zollhafen Frankenberg Kräne im Sonnenuntergang
Quo vadis Wirtschaft nach dem Brexit? Der Export wird sicher leiden, sagen Experten – Foto: gik

Geglaubt hatte es ja eigentlich keiner so wirklich, doch die Briten machten am Donnerstag Ernst: 51,9 Prozent stimmten für eine Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union, 48,1 Prozent dagegen. Damit votierten 17,4 Millionen Briten für den Brexit, etwa 16,1 Millionen dagegen – unglaublich knapp. In der Folge stürzten die Börsenkurse an den Finanzmärkten sowie das britische Pfund ab – Experten rechnen mit erheblichen Turbulenzen auf den Wirtschaftsmärkten und einem Verlust von rund 950.000 Arbeitsplätzen auf der Insel.

Der Brexit habe „das Potenzial, die Finanzkrise wieder aufflammen zu lassen“, sagte der rheinland-pfälzische Wirtschaftsminister Volker Wissing (FDP) am Freitag in Mainz. Dazu würde ein dauerhafter Absturz des britischen Pfundes deutsche Waren verteuern und Investitionen stoppen – keine guten Aussichten für die Wirtschaft.

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Von gravierenden Folgen für rheinland-pfälzische Unternehmen sprach die Industrie- und Handelskammer, es drohten neue Grenzen und Zollschranken, und damit Verteuerungen für den Warenverkehr. Immerhin wurden aus Rheinland-Pfalz 2015 Waren im Wert von 3,4 Milliarden Euro auf die britische Insel exportiert. Rund 30 Prozent machten Autos und Autoteile aus, gefolgt von Maschinen, Gummi- und Kunststoffwaren. Chemische Produkte waren die zweitwichtigste Produktgruppe.

Winzer mit Traktor in Weinbergen von Oben - Foto DWI
Weine für Großbritannien? Wird schwieriger. Foto: DWI

Allerdings machten die Briten mit Nordirland damit aber auch nur 6,7 Prozent des rheinland-pfälzischen Exportmarktes aus. Wissing versuchte deshalb auch zu beruhigen: „Wir sind unterdurchschnittlich betroffen im Vergleich zum Bundesschnitt“, betonte er, „es gibt keinen Grund, zu dramatisieren und in Panik zu verfallen.“ Ein Austritt der Briten werde ja nicht sofort geschehen, die Handelsbeziehungen nicht sofort abgebrochen. „Es ist eigentlich unvorstellbar, dass in Europa neue Handelsgrenzen aufgebaut werden“, sagte er aber auch.

Und das könnte vor allem auch die rheinland-pfälzischen Winzer treffen: 33 Millionen Euro  erwirtschafteten die deutschen Winzer 2014 in Großbritannien, dem drittwichtigsten Exportmarkt für deutsche Weine. „Für die Winzer kann das kann erhebliche Einbußen bedeuten“, sagte Ernst Büscher vom Deutschen Weininstitut (DWI) Mainz&: Ein fallendes Pfund würde deutsche Weine verteuern, in Wirtschaftskrisen werde als erstes an Lifestyle-Produkten wie Wein gespart. Dazu etablierten sich deutsche Wein in Großbritannien nach Einbrüchen im Billigsegment gerade in höherpreisigen Qualitätsbereichen. „Viele junge Winzer fassen gerade vor Ort Fuß“, sagte Büscher – all das steht nun mit dem Brexit auf dem Spiel.

Auch Ebling erinnerte daran, dass der wirtschaftliche Erfolg des gesamten Kontinents von einem starken, einigen Europa abhänge. „Auch die Wirtschaft in Mainz und mit ihr das Wohlergehen der Arbeitnehmer mit ihren Familien hängt in großem Maße vom Erfolg Europas ab“, betonte er. In Mainz leben nach Angaben der Stadt derzeit 371 Briten, eine eher kleine Gemeinschaft. Eng sind aber die Beziehungen zur britischen Partnerstadt Watford, darauf werde der Brexit aber keine Auswirkungen haben, sagte Stadtsprecher Ralf Peterhanwahr.

Europafahne bei Anti-Pegida-Demo in Mainz
Europafahne bei Anti-Pegida-Demo in Mainz: Wohin geht das Projekt Europa? – Foto: gik

Die größere Sorge gilt jetzt eher dem Projekt Europa als Ganzes: Dass „eine Union, die uns 70 Jahre lang Frieden und Wohlstand beschert hat, so leichtfertig aufgegeben wird“, mache ihn fassungslos, sagte Wissing. „Europa ist das große Friedensprojekt unserer Zeit – nicht umsonst hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen“, erinnerte Ebling.

Doch „die wunderbare Idee des europäischen Lebens in Frieden und Freiheit“ werde im Alltag oft von europäischer Bürokratie beschwert, aus Brüssel kämen zu oft „unsinnige Regelungen, die auch die kommunale Daseinsvorsorge berühren.“ Ebling erinnerte etwa an Vergabevorgaben für den ÖPNV, Festsetzungen zur Luftreinhaltung oder zum Naturschutz. Europa müsse sich „nach dem Brexit wieder stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen in den Städten und Kommunen orientieren“, forderte Ebling. Europa könne auch „das große Projekt der sozialen Gerechtigkeit werden, wenn wir dafür streiten.“

Von einem „Weckruf für Europa“ sprachen denn auch viele: „Europa muss demokratischer, sozialer und solidarischer werden“, forderte Dietmar Muscheid, Vorsitzender des DGB Rheinland-Pfalz, Europa brauche nicht mehr Isolation, sondern mehr Miteinander. „Mit dem Brexit wird die Europäische Union vor große Herausforderungen gestellt“, sagte die Mainzer Bundestagsabgeordnete Tabea Rößner (Grüne). Für die EU sei der Brexit „ein Aufruf, in Ruhe und nicht in Panik, zu prüfen, wo Verbesserungen notwendig sind.“

Die EU werde sich nun „neu finden müssen, ein einfaches ‚Weiter so‘ kann es nicht geben“, sagte der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Mainzer Landtag, Alexander Schweitzer. Viele Menschen in Großbritannien hätten sich „offensichtlich von Stimmungsmache leiten lassen.“ Die Konsequenz sei, in Zukunft „leidenschaftlicher und klarer für europäische Werte wie Freiheit und Solidarität werben zu müssen.“

Europa küsst Erdogan die Füße - Foto: gik
Europa küsst Erdogan die Füße – auf dem Motivwagen der Mainzer Fastnachter – Foto: gik

Es müsse eine wirtschaftspolitische Wende geben, Wachstumsimpulse gesetzt, Steuerbetrug und Steuerhinterziehung bekämpft werden, forderte Schweitzer: „Vielfalt, Toleranz und Gleichberechtigung müssen wir kompromisslos gegen radikale und populistische Rechte verteidigen.“ Tatsächlich befürchten nun viele Experten einen Aufschwung für rechtspopulistische und nationalistische Strömungen.

Die Alternative für Deutschland (AfD) war denn auch die einzige, die über den Brexit jubelte: Das sei „ein richtungsweisender Tag für Europa“, sagte der AfD-Fraktionschef im Mainzer Landtag, Uwe Junge. Die Briten hätten sich „für Souveränität und Selbstbestimmung und gegen den auswuchernden Brüsseler Zentralismus entschieden“, Britannien emanzipiere sich damit gegenüber „der Brüsseler Eurokratie.“

Gravierende Auswirkungen kann der Brexit aber auch für die Rhein-Main-Region haben: In Frankfurt rechnet man damit, dass zahlreiche Banken ihre Mitarbeiter aus der Londoner City abziehen werden, von bis zu 6.000 Bankern ist die Rede. Und die würden dann wohl nach Frankfurt kommen – und dort Wohnungen suchen. Ein massiv steigender Druck auf den Wohnungsmarkt im gesamten Rhein-Main-Gebiet wäre die Folge.

In Hessen reagierte man indessen prompt: In Frankfurt wurde direkt am Freitag eine „Landingpage“ geschaltet, auf der sich Unternehmen aus Großbritannien einen Überblick über die Region verschaffen können. „Welcome to FRM“ heißt es dort, zudem wurde eine Hotline für weitergehende Fragen geschaltet – rund um die Uhr und sieben Tage die Woche. Das nennen wir mal flotte Ansiedlungspolitik… „Die Region FrankfurtRheinMain ist für Ansiedlungsanfragen aus Großbritannien bestens gerüstet“, hieß es vom Frankfurt Marketing. Wer immer eine „stabile Basis in der Eurozone“ suche, sei herzlich willkommen.

 

 

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