Dreieinhalb Jahre nach ihrem krachenden Rücktritt als Bundesfamilienministerin in Berlin steht die Grünen-Politikerin Anne Spiegel vor einem Comeback in der Politik: Medienberichten zufolge soll Spiegel neue Sozialdezernentin der Region Hannover werden. Regionspräsident Steffen Krach (SPD) habe Spiegel vorgeschlagen, im November soll die frühere Rheinland-Pfälzerin gewählt werden. Spiegel hatte in der Flutkatastrophe im Ahrtal eine unrühmliche Rolle gespielt und wegen einer verschwiegenen Urlaubsreise und Falschaussagen als Bundesfamilienministerin zurücktreten müssen. Die Grünen jubelten, mit Spiegel stehe „eine erfahrene Persönlichkeit“ für Hannover zur Verfügung. Zu ertragen ist das nicht, erst Recht nicht für die Menschen im Ahrtal, kommentiert Mainz&.

Es war der 10. April 2022, als die politische Szene in Deutschland über einen bizarren Auftritt staunte: In Berlin trat Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) vor die Fernsehkameras und versuchte stockend und in teils wirren Sätzen zu erklären, warum sie im Juli 2021 vier Wochen lang in Urlaub fuhr, warum sie diesen verschwieg – und dass sie der BILD-Zeitung gegenüber fälschlicherweise behauptet habe, sie sei trotz Urlaub „an allen Kabinettssitzungen teilgenommen.“
Das Wort Rücktritt nahm Spiegel trotz eines massiven Trommelfeuers an Rücktrittsforderungen zu dem damaligen Zeitpunkt nicht in den Mund, stattdessen sprach sie mit emotionaler Tonlage von einem Schlaganfall ihres Mannes und den Belastungen ihrer Kinder während der Corona-Pandemie – der Auftritt der Ministerin ließ gestandene Politik-Beobachter verstört zurück: Unprofessionell, überfordert, bizarr, so lauteten die Reaktionen. Ein solches Statement habe er in 40 Jahren Politik-Journalismus noch nicht erlebt, sagte der damalige ZDF-Hauptstadtstudioleiter Theo Koll am Abend im „Heute Journal“, und RTL-Politikchef Nikolaus Blome staunte, „einen derart verstörenden und verstörten Auftritt“ habe er in 20 Jahren Hauptstadt-Journalismus noch nicht erlebt.
Spiegel: Frankreich-Urlaub während Katastrophe Ahrtal
Die Pressekonferenz war der vorläufige Endpunkt einer Karriere, der Rücktritt Spiegels folgte am nächsten Tag auf massiven Druck ihrer eigenen Partei – die Ursache war die Flutkatastrophe im Ahrtal im Juli 2021. Spiegel war im Mai 2016 Ministerin für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz des Landes Rheinland-Pfalz geworden, im Mai 2021 wurde sie Umweltministerin im Kabinett von Malu Dreyer (SPD). Damit war Spiegel für zentrale Bereiche der Regierung in Sachen Hochwasserschutz und Hochwasserwarnungen zuständig – nur: Gewarnt hatte die Ministerin an jenem 14. Juli 2021 vor einer Flut im Ahrtal gerade nicht.

Spiegel hatte am 13. Juli 2021 im Ministerkabinett von Warnungen über Starkregen und Hochwasser berichtet., doch die Berichte bezogen sich allein auf Rhein und Mosel – die Ahr spielte im Bericht im Kabinett am 13. Juli 2021 keine Rolle. Dabei gab es da bereits seit Tagen Warnungen vor Sturzfluten über das europäische Warnsystem EFAS, das Spiegel unterstellte Landesamtes für Umwelt in Mainz errechnete schon am Mittag des 14. Juli erschreckende Pegelwerte für die Ahr – doch Spiegel gab noch um 17.40 Uhr eine Pressemitteilung heraus, ein Extremhochwasser sei nicht zu erwarten.
Entwarnung statt Evakuierung, Funkstille statt Bevölkerungswarnung – der Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal im Mainzer Landtag zeichnete ab Januar 2022 ein verheerendes Bild vom Agieren der Umweltministerin Spiegel in der Flutnacht. Die Ministerin war über Stunden hinweg abgetaucht und nicht erreichbar, weder stellte sie sicher, dass Warnungen über Pegelstände oder dramatische Schilderungen aus dem Ahrtal an ihre Kabinettskollegen weitergeleitet wurde, noch kümmerte sie sich darum, ob die Bevölkerung gewarnt oder evakuiert wurde.
Imagesorgen, Blame Game und Funkstille in der Super-Katastrophe
Überliefert sind hingegen Chatverläufe, nach denen Spiegel sich am nächsten Morgen um ihr eigenes Image sowie ein mögliches „Blame-Game“ in der Landesregierung sorgte: „Wir brauchen ein Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, ich im Kabinett“, schrieb Spiegel einem engen Mitarbeiter bei der Pressearbeit, ihre Leute schrieben zurück, die Ministerin brauche eine „glaubwürdige Rolle“ und solle medienwirksame Ortstermine absolvieren. Zu diesem Zeitpunkt saßen noch Menschen an der Ahr auf den Dächern ihrer Häuser und mussten aus der Luft gerettet werden, in den Tagen danach wurde klar: 136 Menschen starben in den bis zu zehn Meter hohen Fluten im Ahrtal.

Die Tage nach der Flut offenbarten eine veritable Apokalypse: das Ahrtal war auf 40 Kilometern Länge verwüstet, die Infrastruktur komplett zerstört worden, inklusive der Trinkwasserversorgung. Die Ahr selbst war verseucht durch Schweröl und Chemikalien, Pestiziden und Fäkalien, immer wieder wurden Leichen von Menschen und Tieren zwischen Trümmern und entlang des Flusses gefunden – eine Woche nach der Katastrophe Juli drohte dem Tal sogar Seuchengefahr. Zuständig für genau dieses Problem: Anne Spiegel.
Doch während Tausende von freiwilligen Helfern aus dem ganzen Land zum Helfen und Aufräumen ins Ahrtal strömten, fuhr die zuständige Ministerin nach Südfrankreich in den Urlaub – vier Wochen lang. Heraus kam das indes erst im April 2022: Die „BILD am Sonntag“ enthüllte, dass die Ministerin nur zehn Tage nach der Flutkatastrophe in den Urlaub entschwand, und das sogar vor ihrer eigenen Partei geheim hielt, wie später „Zeit Online“ berichtete. Stattdessen wurde im politischen Mainz in jenen Wochen gegenüber Journalisten kolportiert, die Ministerin „halte sich zurück“ mit Besuchen im Ahrtal, sie wolle „den Aufräumarbeiten nicht im Wege stehen.“

PR-Gau Spiegel: „Ich muss das jetzt noch abbinden…“
Der Enthüllung folgten Fassungslosigkeit und reihenweise Rücktrittsforderungen, doch Spiegel versuchte mit dem skurrilen Auftritt am 10. April ihr Amt zu retten: Spiegel schob einen Schlaganfall ihres Mannes und eine belastende Familiensituation als Gründe für den Urlaub vor, doch der unsichere Auftritt gipfelte in einem PR-Desaster, als Spiegel am Ende noch zu jemandem im Raum sagte: „Ich muss das jetzt noch abbinden…?“ Einen Tag später trat die damals 41-Jährige vom Amt der Bundesfamilienministerin zurück, nach nicht einmal einem halben Jahr im Amt.

Danach suchte Spiegel immer mal wieder nach Wegen für eine Rückkehr in die Politik, im April 2024 tauchte sie gar überraschend auf einem Parteitag der rheinland-pfälzischen Grünen auf – durchaus zum Entsetzen vieler Parteifreunde. Seit November 2024 arbeitete Spiegel für das Chat-Beratungsangebot „krisenchat“ für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Berlin, wie der NDR aus Hannover berichtet – und genau dort steht Spiegel nun offenbar vor einem Comeback auf der politischen Bühne.
Die heute 44-Jährige soll neue Sozialdezernentin der Region Hannover werden, Regionspräsident Steffen Krach (SPD) habe sie vorgeschlagen, berichten diverse Medien. Spiegel soll Nachfolgerin von Andrea Hanke folgen, deren Amtszeit im Mai 2026 ende und in der Regionsversammlung am 11. November 2025 gewählt werden. Spiegel bringe „herausragende fachliche Erfahrung mit“ für das Dezernat Soziales, Teilhabe, Familie und Jugend mit, lobte Krach dem NDR zufolge – die Flutkatastrophe im Ahrtal oder Spiegels Rücktritt in Berlin erwähnte er nicht.
Auch den Grünen in Hannover waren diese Gegebenheiten keine Zeile Wert, dass Spiegel Umweltministerin in Rheinland-Pfalz war, erwähnen sie ebenfalls nicht. Stattdessen freuten sich die Grünen-Vorsitzenden Vorsitzenden Silke Musfeldt und Victoria Schwertmann laut Pressemitteilung, man habe mit „Spiegel eine hervorragend qualifizierte Kandidatin“ mit umfassender Erfahrung und Expertise gefunden. Spiegels „nachgewiesenen Erfolge, unter anderem ihre Programme und Maßnahmen für mehr Frauen in Führungspositionen, machen sie zur idealen Besetzung für diese verantwortungsvolle Aufgabe.“
Info& auf Mainz&: Ausführliche Informationen zum Rücktritt von Anne Spiegel als Bundesfamilienministerin im April 2022 lest Ihr hier auf Mainz&, unseren Bericht zur Rolle Spiegels in der Flutnacht im Ahrtal könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.
Mainz&-Kommentar: Schlag ins Gesicht aller Opfer im Ahrtal
Das ist ein bitterer Tag für alle im Ahrtal, die noch immer auf Gerechtigkeit gehofft haben. 136 Tote. 40.000 geschädigte Menschen. Ein Wiederaufbau, der bis heute die Menschen im Ahrtal vor schier unüberwindbare bürokratische Hürden stellt. Eine Bevölkerung, die in weiten Teilen jedes Vertrauen in die Politik verloren und manche gar den Mut am Leben verloren hat. War da noch was?

Vier Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal wird eine der Hauptverantwortlichen für das Versagen der Landesregierung und des Staates Rheinland-Pfalz in der Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 zu neuen politischen Ehren gekürt – und niemand hält es auch nur für nötig, das Wort „Flutkatastrophe“ auch nur in den Mund zu nehmen.
Die Vergangenheit der Ministerin Spiegel, ihr höchst unrühmliches Agieren in der Flutnacht und vor allem danach, ihre Flucht in den Urlaub, ihre Ausflüchte und ihr Rücktritt danach – den Grünen in Hannover und dem Regierungspräsidenten von der SPD ist es keine Zeile Wert. 136 Tote – verschwiegen und vergessen.
Schwamm drüber. War da noch was?
Lieber wird genau dieselbe Person in höchsten Tönen für ihre „Expertise“ und ihre „Führungspersönlichkeit“ gerühmt – den Menschen im Ahrtal dürfte die Kaffeetasse aus der Hand gefallen sein. Kein einziger Politiker in Rheinland-Pfalz hat bislang echte Verantwortung für das Versagen des Staates in der Flutnacht, für ausgebliebene Warnungen und unterlassene Hilfeleistung übernommen. Es gibt bis heute keine Entschuldigung für Versäumnisse des Staates, keine Anklage gegen irgendjemanden, nicht einmal Ermittlungen gegen führende Landespolitiker wurden aufgenommen.

Bis heute kämpfen Hinterbliebene der Flutopfer verzweifelt um Anerkennung und Aufarbeitung vor Gericht – vergeblich. Nun demonstriert ihnen die Politik in aller Dreistigkeit: Gerechtigkeit sucht Ihr bei uns vergeblich. Konsequenzen für Politiker? Keine. „Und dann krabbeln sie aus der Versenkung auf einen gut dotierten Posten“, merkte ein Leser in den sozialen Netzwerken heute an. Vier Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal dokumentieren SPD und Grüne: Ja, die Politik ist genau so gewissenlos, respektlos und skrupellos, wie ihre Kritiker es ihr immer vorgeworfen haben.
„Hauptsache der eigene Posten ist sicher und eine gute Bezahlung springen dabei raus. Ich für meine Person kann sagen, dass ich diese Menschen zutiefst verachte“, kommentierte heute ein Leser auf Facebook, und eine andere schreibt fassungslos: „Diese Personen haben zig Leben auf dem gewissen und machen einfach weiter. Pfui, Teufel und Verachtung.“
Die Moral von der Geschicht‘? Man kann als Politiker auf ganzer Linie in der größten Krise des Landes versagen, man kann Abtauchen, sich Herausreden und sogar die Öffentlichkeit falsch informieren – am Ende winken ein gut dotierter Posten, Lobeshymnen der Parteifreunde und wer weiß, vielleicht sogar noch die eine oder andere Ehrung. Ist das noch eine Republik, auf die der Bürger bauen und vertrauen kann? Wer soll sich für diese Demokratie noch begeistern, wer engagieren? Meinen die das in Hannover da wirklich Ernst, wissen sie, was sie da anrichten?
Im Ahrtal ringen sie vier Jahre nach der Katastrophe um Zuversicht, darum, das Dunkel der Traumata zu überwinden. Der Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler sprach am vierten Jahrestag von „Trauer, Wut, Frustration“. Nun müssen die Menschen im Ahrtal auch noch erleben, wie Politiker ihnen virtuell ins Gesicht schlagen mit Ignoranz, Dreistigkeit und Wegsehen. Wie sie weiter machen, als wäre nichts geschehen. Nach uns die Sintflut – im wahrsten Sinne des Wortes. Zu ertragen ist das nicht.