Sturzflut-Wellen und Verklausungen durch Treibgut an den Brücken sieht die Staatsanwaltschaft Koblenz als maßgebliche Faktoren für die verheerende Flutkatastrophe im Ahrtal am 14. Juli 2021. Die Flut im Ahrtal sei eine Sturzflut unbekannten Ausmaßes gewesen, bei der Verklausungen an den Brücken durch Treibgut eine maßgebliche Rolle gespielt hätten, teilte die Staatsanwaltschaft am Freitag mit. Gleichzeitig spricht die Ermittlungsbehörde von verspäteten Warnmeldungen der Hochwasserbehörden und schließt neue Nachermittlungen nicht aus. Das Ausmaß der kommenden Katastrophe hätte ab 20.20 Uhr erkannt werden können – auch durch einstürzende Häuser in Schuld.

Innenminister Roger Lewentz (SPD, links) beim Besuch in der Einsatzleitung des Kreises Ahrweiler am Abend der Flutkatastrophe, ganz rechts: Landrat Jürgen Pföhler (CDU). - Foto: Kreis Ahrweiler
Innenminister Roger Lewentz (SPD, links) beim Besuch in der Einsatzleitung des Kreises Ahrweiler am Abend der Flutkatastrophe, ganz rechts: Landrat Jürgen Pföhler (CDU). – Foto: Kreis Ahrweiler

Seit dem 6. August 2021 ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz in der Folge der Flutkatastrophe im Ahrtal wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung im Amt, beides durch Unterlassen. Die Flutwelle im Ahrtal hatte in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 insgesamt 134 Menschen das Leben gekostet, zwei werden bis heute vermisst. Mehr als 40.000 Menschen wurden geschädigt, rund 9.000 Häuser geflutet oder zerstört, Tausende verletzt und um ihr Hab und Gut gebracht.

Ermittelt wird bisher aber weiter nur gegen zwei Personen: Den früheren Landrat des Kreises Ahrweiler, Jürgen Pföhler (CDU), sowie den Brand- und Katastrophenschutzinspekteur des Kreises Ahrweiler, Michael Zimmermann. Ermittlungen gegen weitere Personen – insbesondere Innenminister Roger Lewentz (SPD) oder etwa Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz – lehnte die Staatsanwaltschaft in Koblenz bislang stets ab. Die Ermittlungen schleppten sich zudem in den vergangenen Monaten ohne größere Bewegung dahin, doch nun meldet die Behörde neue Erkenntnisse.

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Offenbar beobachtet man in Koblenz sehr genau die Ermittlungen im Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe im Ahrtal – und lässt Ergebnisse von Zeugenvernehmungen und Unterlagen  in die Auswertungen einfließen. Mittlerweile habe die Polizei „die aus den bisherigen Ermittlungen gewonnenen Erkenntnisse in wesentlichen Teilen zusammengefasst und mit der Fertigung ihres Abschlussberichts begonnen“, teilte der Leitende Oberstaatsanwalt Harald Kruse am Freitag mit. In der nun folgenden Phase des Verfahrens „erfolgt eine eingehende Auswertung der Erkenntnisse und der bereits zu einzelnen Fragekomplexen vorliegenden Berichte durch die Staatsanwaltschaft.“

Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz vor dem U-Ausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal: Warum warnten die Hochwasserbehörden so spät vor der Flut? - Foto: gik
Umwelt-Staatssekretär Erwin Manz vor dem U-Ausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal: Warum warnten die Hochwasserbehörden so spät vor der Flut? – Foto: gik

Dabei flössen auch Erkenntnisse „aus einzelnen weiteren Zeugenvernehmungen sowie aus den beim Untersuchungsausschuss ‚Flutkatastrophe‘ angeforderten und von dort zur Verfügung gestellten Unterlagen Berücksichtigung“, betonte Kruse explizit. Dazu traf nun inzwischen ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes Gutachten eines hydrologischen Sachverständigen in Koblenz ein, dieses müsse nun ausgewertet und inhaltlich eingeordnet werden.

Verklausungen als maßgeblicher Flut-Faktor

Das Gutachten ordnet die Flutwelle im Ahrtal offenbar als massive Sturzflut ein, die mit verheerenden und schwanken Wellen einherging. Auslöser für diese Wellen seien zum einen unterschiedliche Sturzfluten aus Nebenbächen, vor allem aber auch Blockaden an Brücken durch Treibgut gewesen: Diesen sogenannten „Verklausungen“ ordnet das Gutachten offenbar eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der ungeheuren Pegelstände zu. Die Wassermassen hatten sich vor allem in engeren Regionen des Tals in der Flutnacht teilweise um bis zu neun und zehn Metern Höhe aufgestaut und gerade auch dadurch ungeheure Verwüstungen angerichtet.

 

Die Staatsanwaltschaft hebt nun in ihrer Mitteilung vom Freitag ausdrücklich die Bedeutung dieser Verklausungen hervor: Das Ausmaß der Zerstörung sei „nicht allein auf die extreme Abflussgröße zurückzuführen“, vielmehr seien „große Mengen an Treibgut flussabwärts transportiert worden, was an zahlreichen Brücken zu Verklausungen geführt habe“, zitiert die Ermittlungsbehörde als relevantes Ergebnis des hydrologischen Gutachtens. Dies habe „lokale und punktuelle weitere Erhöhungen“ des Wasserstandes durch Rückstau zur Folge gehabt – kurz: Die Rückstaus lösten regelrechte Flutwellen aus.

Totholz und ganze Bäume sorgten an den Brücken im Ahrtal für riesige Stauwände - und für erhebliche Flutwellen. - Foto: gik
Totholz und ganze Bäume sorgten an den Brücken im Ahrtal für riesige Stauwände – und für erhebliche Flutwellen. – Foto: gik

Tatsächlich waren es gerade riesige Bäume, Öltanks sowie letztlich auch Campingwagen und Autos, die – von den Fluten mitgerissen – vor den Brücken im Ahrtal ganze Wände aus Treibgut bildeten. Ursache dafür waren offenbar große Mengen von Totholz, die von den Ufern der Ahr mitgerissen wurden. Damit aber rückt nun wieder die Rolle des Mainzer Umweltministeriums und seiner untergebenen Behörden bei der Suche nach Versäumnissen wieder in den Fokus: Mehrere Bürgermeister hatten bereits im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe berichtet, ihnen sei die Entsorgung gerade solchen Totholzes vor der Flut immer wieder von Naturschutzbehörden untersagt worden.

Die Freien Wähler (FW) hatten das Thema „Verklausungen“ im Untersuchungsausschuss bereits aufgegriffen und kritisiert, dass es entlang der Ahr praktisch keine Vorbeugungskonzepte dagegen gegeben habe – trotz des „Jahrhundert-Hochwassers“ von 2016. Auch danach seien zumeist keine Gerätschaften zur Beseitigung von Totholz angeschafft oder Konzepte gegen Verklausungen entwickelt worden, kritisierte FW-Obmann Stephan Wefelscheid.

 

Am kommenden Freitag, den 16. September 2022, will sich der U-Ausschuss nun auch explizit mit diesem Thema beschäftigen: Zeugen sollen dann Auskunft geben, ob und wann Gewässerschauen an der Ahr und der Kyll stattgefunden haben, ob die Kreisverwaltungen vor Ort die zuständigen Fachbehörden des Landes im Vorfeld der Flutkatastrophe über kritische Gefahrenpunkte informierten, und welche Maßnahmen zur Sicherung des Wasserabflusses sowie zur Gefahrenabwehr durch Totholz am Ufer und Verklausungen von Brücken unternommen wurden – insbesondere ob es Räumungsmaßnahmen gab.

Ein von den Fluten mitgerissener Campingwagen vor einer Wand aus Treibholz wenige Tage nach der Flutkatastrophe an der Ahr. - Foto: gik
Ein von den Fluten mitgerissener Campingwagen vor einer Wand aus Treibholz wenige Tage nach der Flutkatastrophe an der Ahr. – Foto: gik

Dabei rückt nun auch explizit wieder das Mainzer Umweltministerium in den Fokus: Es gehe „auch um die Frage, welche Kenntnisse dem Ministerium in der Flutnacht über konkrete Maßnahmen zur Sicherung des Wasserabflusses sowie zur Gefahrenabwehr vorlagen, die von den zuständigen Behörden getroffen wurden“, heißt es von Seiten des U-Ausschusses. Das dürfte auch die Staatsanwaltschaft interessieren: Die Verklausungen an zahlreichen Brücken hätten lokale und punktuelle Rückstaus zur Folge gehabt, die als die Brücken brachen lokale schwallartige Wellen ausgelöst hätten, heißt es in der Auswertung des Gutachtens weiter.

Dabei betont die Staatsanwaltschaft zugleich, dass eine solche Sturzflut ein „Ereignis hoher Komplexität“ darstelle, die „im Vorfeld nicht abzusehen war“ und sich auch nicht durch Modellierungen habe prognostizieren lassen. Das ist aber keine Entlastung für die zuständigen Ämter und politischen Handelnden, denn zugleich unterstreicht die Staatsanwaltschaft auch: Die vom Deutschen Wetterdienst prognostizierten Regenmengen seien nahezu genau so eingetroffen wie vorhergesagt, die Vorhersagen teilweise sogar noch höher gelegen.

 

Behörden hätten mindestens vor Flut wie 2016 warnen müssen

„Selbst wenn sich die tatsächlich gefallene Niederschlagsmenge nur im unteren Bereich des durch den Deutschen Wetterdienst prognostizierten Spektrums bewegt hätte, wäre dennoch ein Hochwasser der Größenordnung des 02.06.2016 zu erwarten gewesen“, betont die Staatsanwaltschaft. Damit stellen die Ermittler auch klar: Die zu erwartenden Regenmengen waren im Vorfeld abzusehen, die Behörden hätten mindestens von einem Hochwasser wie 2016 ausgehen müssen.

Die von der Flut zerstörte Nepomukbrücke in Rech. - Foto: gik
Die von der Flut zerstörte Nepomukbrücke in Rech. – Foto: gik

Schon 2016 war die Ahr auf den damaligen Rekordstand von 3,69 Metern gestiegen, hatten Orte unter Wasser gestanden und 19 Menschen von Dächern auf Campingplätzen gerettet werden müssen. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft hätten die Behörden 2021 vor so einem Jahrhunderthochwasser warnen müssen – und taten es viel zu spät. Konkrete Hochwasserwarnungen und durch das Landesamt für Umwelt prognostizierte Pegelstände seien „erst drei Tage später erfolgt“, schreibt die Staatsanwaltschaft nun explizit.

Eine Gefahrenwarnung vor einem schweren Hochwasser sei „erst am 14.07.2021 um 17.17 Uhr erfolgt“, schon am Morgen des 14. um 11.22 Uhr hätten die Hochwasserstellen aber „angedeutet, dass ein Hochwasser der Größenordnung vom Juni 2016 zu erwarten sei.“ Eine realistischere Prognose der zu erwartenden Pegelständen sei von Seiten des Landes aus jedoch erst ab 20.22 Uhr, „und damit erst nach Eintritt des Hochwassers am Oberlauf der Ahr erfolgt.“

 

Lösen verspätete Warnungen neue Ermittlungen aus?

Die Staatsanwaltschaft betont zudem explizit, dass diese Erkenntnisse sowie die Ergebnisse des hydrologischen Gutachtens „im Rahmen der Frage, wie mit im Vorfeld der Katastrophe ergangenen Warnungen umgegangen worden ist, zu berücksichtigen sein.“ Man wolle das Gutachten auch in Hinblick auf den konkreten Ablauf der Katastrophennacht auswerten – gerade auf die Frage hin, „ob frühere Warnungen zu einer Vermeidung von Todesfällen geführt hätten.“ Denn am Unterlauf der Ahr sei das Hochwasser erst später eingetreten, konstatieren die Ermittler: „Und zwar in Bad Neuenahr zwischen 23.00 Uhr und 23.30 Uhr,  und in Sinzig ab 02.00 Uhr.“

Der Einsturz von Häusern markiert laut Staatsanwaltschaft einen markanten Unterschied zu 2016, hier beschädigte Häuser in Schuld nach der Flut. - Foto: Screenshot gik via SWR
Der Einsturz von Häusern markiert laut Staatsanwaltschaft einen markanten Unterschied zu 2016, hier beschädigte Häuser in Schuld nach der Flut. – Foto: Screenshot gik via SWR

Die prognostizierten Pegelstände hätten aber „ab 14.22 Uhr gereicht, um von einem Hochwasser größer als 2016 auszugehen“, ab 20.22 Uhr habe sogar „ein nochmals deutlich größeres Hochwasser als 2016 angenommen werden müssen“, betont die Staatsanwaltschaft. Da wäre also noch mindestens drei Stunden Zeit gewesen, Menschen zu warnen und Menschenleben zu retten: Ab diesem Zeitpunkt habe sich nach den derzeitigen Erkenntnissen „das tatsächliche Hochwassergeschehen prognostizieren lassen.“

Und gleichzeitig hätten die Handelnden auch Hinweise gehabt, dass sich im Ahrtal 2021 etwas noch weit Schlimmeres anbahnte als 2016: Damals hätten die Scheitelabflüsse nur etwa 20 bis 25 Prozent von dem betragen, was im Juli 2021 erreicht worden sei, dazu habe es 2021 deutlich höhere Mengen an Treibgut und damit auch an Blockierungen an den Brücken gegeben, konstatiert die Staatsanwaltschaft, und betont explizit: Zwar seien auch 2016 etwa 800 beschädigte Häuser registriert worden – eine Einsturzgefahr von Häusern habe damals aber nicht bestanden.

 

Einsturz von Häusern in Schuld maßgeblicher Unterschied zu 2016

Damit stellt die Staatsanwaltschaft den Einsturz von Häusern wie in der Gemeinde Schuld am Oberlauf der Ahr als einen entscheidenden Unterschied heraus, an dem Behörden und Verantwortliche das ungeheure Ausmaß der sich anbahnenden Katastrophe zumindest hätten erahnen können – eine der entscheidenden Fragen könnte deshalb nun werden: Ab wann war bekannt, dass in der Ortsgemeinde Schuld die ersten Häuser von den Fluten der Ahr weggerissen worden waren?

Musste mit ansehen, wie insgesamt sechs Häuser in den Fluten versanken: Helmut LKussi, Bürgermeister von Schuld., dvor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal . - Foto: gik
Musste mit ansehen, wie insgesamt sechs Häuser in den Fluten versanken: Helmut LKussi, Bürgermeister von Schuld., dvor dem Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal . – Foto: gik

So hatte der Bürgermeister von Schuld, Helmut Lussi, dem U-Ausschuss bei seiner Vernehmung berichtet, wie er auf einer Anhöhe oberhalb des Ortes zusehen musste, wie Häuser in Schuld in den Fluten versanken – den Zeitpunkt gab Lussi mit frühem Abend an.

Und auch vergangenen Donnerstag hatten sich im Untersuchungsausschuss die Hinweise verdichtet, dass die Behörden und womöglich auch Innenminister Roger Lewentz (SPD) bereits zu diesem Zeitpunkt von den einstürzenden Häusern wussten: Der Journalist Willi Willig sagte aus, Lewentz habe bereits in einem Telefonat mit ihm gegen 19.45 Uhr von einem eingestürzten Haus in Schuld gesprochen.

Und so schließt die Staatsanwaltschaft offenbar eine Ausweitung ihrer Ermittlungen inzwischen nicht mehr aus: Man prüfe „routinemäßig und ihren gesetzlichen Verpflichtungen entsprechend weiterhin, ob Anlass besteht, auch gegen andere als die bisher beschuldigten Personen Ermittlungen einzuleiten“, heißt es weiter. Bisher sei dies nicht der Fall, man werde aber den U-Ausschuss „um die Übermittlung weiterer dort anfallender Unterlagen bitten.“ Es sei zudem „nach wie vor nicht auszuschließen, dass es nach der Sichtung des vorliegenden und sehr umfangreichen Materials noch einzelner Nachermittlungen bedarf.“ Wann die Ermittlungen zur Flutkatastrophe abgeschlossen seien, könne daher auch weiter nicht gesagt werden.

Info& auf Mainz&: Mehr zum Thema Schuld, eingestürzte Häuser und wann Innenminister Roger Lewentz davon wusste, lest Ihr am Wochenende auf Mainz&. Die Aussagen von Bürgermeister Lussi zu den einstürzenden Häusern in Schuld könnt Ihr noch einmal hier bei Mainz& nachlesen.