Wann genau wusste der Finanzdezernent der Stadt Mainz eigentlich, dass die Stadt wegen dramatisch wegbrechender Gewerbesteuereinnahmen wieder ins Minus rutschen würde? Die Frage birgt eine hohe Brisanz, denn neue Unterlagen zeigen inzwischen: Der Einbruch der Steuereinnahmen war schon im September 2023 absehbar, die Prognosen für die Folgejahre wurden dennoch in den städtischen Vorlagen für den Stadtrat nicht angepasst. Und das hatte die ADD bereits im Dezember 2023 deutlich gerügt. Die FDP fordert nun mehr Zahlentransparenz in den anstehenden Haushalts-Verhandlungen, die Freien Wähler fordern gar den Rücktritt von Finanzdezernent Günter Beck (Grüne).
Am 6. Juni 2024 hatte der Mainzer Stadtrat – ganze drei Tage vor der Kommunalwahl – den 2. Nachtragshaushalt für das Jahr 2024 verabschiedet, in einer kurzen Sondersitzung. Der neue Haushaltsplan korrigierte die Steuereinnahmen der Stadt um rund 300 Millionen Euro nach unten – nach nur zwei Jahren des Überflusses fiel Mainz auf einmal wieder mit rund 223 Millionen Euro ins Minus. Was der Nachtragshaushalt aber nicht enthielt: angepasste Prognosen für die Jahre 2025 und 2026.
Denn neben dem neuen Minus wies die Vorlage für die städtischen Gremien und eben auch den Stadtrat für die Jahre 2025 und 2026 weiter ein Prognoseplus in der Stadtkasse auf – und zwar von rund 25 Millionen Euro für 2025 und von 15 Millionen Euro für 2026. Die Wirklichkeit sah indes anders aus: Die Stadt Mainz hatte schon im April 2024 der Dienstaufsicht ADD neue Prognosen für 2025 und 2026 gemeldet, und zwar Minusbeträge von rund 251 Millionen Euro für 2025 und von rund 159 Millionen Euro für 2026.
Nach ADD-Rüge: FDP kritisiert „mangelhafte“ Infos im Haushalt
Die ADD kippte denn auch prompt im August 2024 wegen des neuen Haushaltsdefizits von rund 89 Millionen Euro den Nachtragshaushalt, genehmigte die angedachten neuen Kredite nicht – und warf der Stadtverwaltung gravierende Rechtsverstöße samt einer Schönfärbung der städtischen Finanzen vor: Die Stadt hätte die Prognosen für die Folgejahre im Nachtragshaushalt anpassen müssen, kritisierte die ADD scharf, das Unterlassen sei sogar „ein Rechtsverstoß“. Denn der Nachtragshaushaltsplan 2023/2024 zeichne „ein völlig unzutreffendes und geradezu gegensätzliches Bild“ der künftigen Finanzlage – und dieses positive Bild wurde dem Stadtrat und der Öffentlichkeit vorgelegt, die Minusprognosen jedoch nicht.
Seither ist die Aufregung in der Mainzer Kommunalpolitik groß, die Stadt muss binnen zweier Monate der ADD ein neues Finanzwerk vorlegen – mit erheblichen Einsparungen. Die FDP-Fraktion im Stadtrat mahnt nun als Konsequenz dringend bessere Finanzgrundlagen für diese Beratungen an: „Die mehr als mangelhafte Informationsgrundlage des ersten Nachtragshaushalts hätte alle Alarmglocken des Stadtvorstands schrillen lassen müssen“, kritisierten nun Fraktionschefin Susanne Glahn und FDP-Finanzexperte David Dietz.
Vor allem aber hätte das Debakel um den gekippten Nachtragshaushalt und die nicht-angepassten Prognosen „einer den Namen verdienenden Informationspolitik vor den nun anstehenden Haushaltsberatungen den Weg weisen müssen“, betonen Glahn und Dietz, und kritisieren klar: „Leider erleben wir bislang eher das Gegenteil.“ Denn in der sogenannten „Konsolidierungsrunde“, in der Stadtvorstand und Stadtratsfraktionen gemeinsam über Kürzungen beraten sollten, seien lediglich einige „dürre Folien“ gezeigt worden: „Dies kann nicht die Grundlage für eine politische und ökonomische Haushaltsdebatte sein“, kritisiert die FDP. Man vermisse konkretere Vorschläge und Zahlen für Einsparvorschläge.
Schreiben an OB Haase: Mehr Finanz-Transparenz gefordert
In der Runde hätten „Oberbürgermeister und Finanzdezernent wieder einmal ihre offenkundig völlig unterschiedlichen Vorstellungen zur Schau gestellt“, ätzend die Liberalen weiter – das habe aber „mehr Fragezeichen hinterlassen, als Antworten geliefert.“ Man fordere deshalb eine breitere Entscheidungsgrundlage für Ratsmitglieder mit detaillierteren Kalkulationen der städtischen Einnahmen – so, wie man das bereits in einem Schreiben an Oberbürgermeister Nino Haase (parteilos) und Finanzdezernent Beck Mitte September getan habe, auf das es bislang aber kein Antwort gebe.
Insbesondere bei Überlegungen zu Steuer- oder Abgabenerhöhungen wolle man Einblick in die Kalkulation der Verwaltung, fordern die FDPler – das sei in der Wirtschaft „gängige Praxis“ und geltende Rechtsprechung. „Auch wir Stadträte brauchen im Grunde die Kalkulationen der Verwaltung zu den einzelnen Haushaltsposten, um eine seriöse Entscheidung treffen zu können“, fordern Glahn und Dietz.
Ähnliches hatten bereits vor der Stadtratssitzung Anfang September die Freien Wähler gefordert: Man bitte um größtmögliche Transparenz und eine Liste der vom Stadtvorstand priorisierten Haushaltskonsolidierungsmaßnahmen auf der Einnahmen- und Ausgabenseite, hieß es damals. Und die Freien Wähler wollten auch wissen, seit wann der Finanzverwaltung denn die Negativprognosen zur Finanzentwicklung der Stadt vorlagen und warum diese nicht zeitnah an die Fraktionen im Stadtrat weitergegeben wurden „bzw. ob diese Weitergabe gegebenenfalls behindert wurde.“
ÖDP: „Warum lagen Prognosedaten dem Stadtrat im Juni nicht vor?“
Gleiches wollte auch die ÖDP wissen, die fragte: „Warum hat der Mainzer Stadtrat in seiner Sitzung am 06. Juni 2024 nicht alle Prognosedaten vollständig und wahrheitsgemäß durch die Finanzverwaltung erhalten? Wie konnte es zu dieser ‚fehlerhaften Vorlage‘ kommen?“ Die Antwort von Finanzdezernent Günter Beck (Grüne) daraufhin: „Prognosedaten gehören nicht zu den Bestandteilen eines Nachtragshaushalts“, so die schriftliche Antwort: „Eine Anpassung oder Fortschreibung der Planansätze der Folgejahre wurde seit Einführung der kommunalen Doppik 2009 von der ADD noch nicht gefordert und deshalb bisher auch im städtischen IT-System nicht eingerichtet.“
Das aber stimmt zumindest für das Jahr 2023 so nicht: Denn die ADD rügte schon beim 1. Nachtragshaushalt der Stadt für die Jahre 2023 und 2024, dass hier „die Auswirkungen auf die Haushaltsansätze für das Haushaltsjahr 2024 und auf die Planungsdaten für die Haushaltsjahre 2025 und 2026 nicht berücksichtigt“ worden seien.
Der 1. Nachtragshaushaltsplan 2023/2024 war vom Mainzer Stadtrat am 11. Oktober 2023 beschlossen worden, schon bei diesem Zahlenwerk hatte die ADD der Stadt vorgehalten: Die Nicht-Anpassung der Planungsdaten für die Folgejahre sei ein Verstoß gegen die Gemeindehaushaltsverordnung und das Gebot der Haushaltsgenauigkeit.
ADD rügte schon 2023 fehlende Anpassung der Zukunftsprognosen
Die ADD hatte also sehr wohl schon früher die fehlende Anpassung der Zukunftsprognosen gerügt. Mainz& liegt das Schreiben der ADD vom 15. Dezember 2023 vor – und schon darin wundert sich die kommunale Dienstaufsicht über die Argumentation der Stadt, man könne die Zahlen aus EDV-Gründen nicht anpassen. „Hinzu kommt nach Ihren weiteren Angaben, dass es Ihnen IT-technisch überhaupt nicht möglich ist, in einen Nachtragshaushaltsplan (…) auch Änderungen hinsichtlich der Folgejahre vorzunehmen“, heißt es dort wörtlich.
Und dann schreibt die ADD noch: Es sei eine „unbefriedigende Situation, dass es Ihnen bis heute EDV-technisch überhaupt nicht möglich ist, im Rahmen eines Nachtragshaushaltsplans auch die Mittelansätze für die folgenden Haushaltsjahre anzupassen und fortzuschreiben.“ Die Verwendung des Ausdrucks „bis heute“ wirft dabei Fragen auf: Hatte die ADD die mangelhafte EDV vielleicht schon früher gerügt? Und wie vertragen sich diese Sätze mit der Aussage Becks, Prognosedaten gehörten „nicht zu den Bestandteilen eines Nachtragshaushalts“ – und die ADD habe das auch nie angemahnt?
Für die Zukunft wird die ADD dann im Dezember 2023 ebenfalls deutlich: „Ich bitte Sie jedoch, alsbald die technischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass künftig in Nachtragshaushaltsplänen auch Anpassungen und Fortschreibungen hinsichtlich der Haushaltsfolgejahre vorgenommen werden können“, heißt es wörtlich, und weiter: „Der dabei anfallende Verwaltungsaufwand stellt regelmäßig keinen Rechtfertigungsgrund dafür dar, die gesetzlichen Mindestanforderungen für Nachtragshaushaltspläne einfach zu ignorieren.“
ADD warnte bereits 2023: Positive Haushaltsprognose gefährdet
Offenbar also sieht die ADD in den angepassten Prognosen für die Folgejahre nicht nur eine Rechtspflicht, sondern sogar eine „gesetzliche Mindestanforderung“ – und das wusste die Stadt spätestens seit Ende 2023. Trotzdem legte Finanzdezernent Beck im Februar 2024 dem Stadtrat einen neuen Nachtragshaushalt für 2024 vor, in dem weiter positive Prognosen für die Jahre 2025 und 2026 ausgewiesen waren. Und diese positiven Prognosen finden sich unverändert auch in dem Nachtragshaushalt wieder, der im Juni 2024 vom Stadtrat verabschiedet wurde – ungeachtet der neuesten Negativprognosen, die das Finanzdezernat im April selbst an die ADD übermittelt hatte.
Dabei warnte die ADD in ihrem Dezember-Schreiben auch bereits: Die unverändert positiv prognostizierten Jahresergebnisse für die kommenden drei Jahre könne man „nicht mehr als belastbar und wirklichkeitsnah ansehen“. Denn schon das Jahresergebnis 2023 habe sich um rund 188,22 Millionen Euro verschlechtert – und das vor allem wegen Mindererträgen aus der Gewerbesteuer
in Höhe von rund 254,5 Millionen Euro. „Die Einhaltung des gesetzlich verlangten Haushaltsausgleichs in den kommenden Haushaltsjahren bei der Landeshauptstadt
Mainz ist stark gefährdet“, warnte die ADD.
Und dann gibt das ADD-Schreiben auch noch einen Hinweis darauf, warum das Finanzdezernat die positiven Prognosen womöglich eben nicht änderte: Insgesamt sei Stand Dezember 2023 „eine dauernde finanzielle Leistungsfähigkeit der Landeshauptstadt Mainz noch als gegeben anzusehen“, schreibt die ADD – wobei sie die Worte „noch als gegeben“ ausdrücklich unterstreicht. Das heißt, die ADD bescheinigte im Dezember 2023 der Stadt Mainz weiter eine positive Finanzlage für die Zukunft – obwohl sie daran bereits begründete Zweifel hatte.
Bei negativen Zahlen wohl keine Positivprognose der ADD mehr
Doch die ADD konnte gar nicht anders, denn: „Eine negative Beurteilung der dauernden finanziellen Leistungsfähigkeit einer Gemeinde setzt nämlich vereinfacht ausgedrückt eine Prognosebewertung voraus, nach der die Gemeinde voraussichtlich dauerhaft, also über mehrere Haushaltsjahre hinweg, nicht in der Lage sein wird, ihre Auszahlungen zu decken.“ Anders ausgedrückt: Hätte die Stadtverwaltung eine Prognose vorgelegt, bei der in den kommenden drei Jahren ein Minus zu erwarten gewesen wäre – das Urteil der ADD über die Finanzlage wäre nicht mehr uneingeschränkt positiv ausgefallen.
So aber bescheinigte die ADD der Stadt: „Dennoch erscheint es mir heute sachgerecht und vertretbar, die Landeshauptstadt Mainz noch als dauernd finanziell leistungsfähig einzustufen.“ Die derzeit vorhandene Liquidität der Stadt „reicht mithin planmäßig über das letzte Finanzplanungsjahr 2026 hinaus“, bilanziert die ADD – eine echte Fehleinschätzung: Die Liquiditätsreserven der Stadt waren bereits im Juni 2024 aufgebraucht, wie Oberbürgermeister Haase im Mainz&-Interview bestätigte.
Haase hatte dabei betont, es habe „Mängel“ gegeben, aber „keine Täuschung“ durch die Finanzverwaltung, sagte aber auch: „Mein Wissen ist, dass die Finanzverwaltung in diesen unsteten Zeiten einen anderen Zeitpunkt berechnet hatte, bis zu dem die Liquidität der Stadt ausgehen würde – und dieser scheint aber aufgrund der anderen Einnahmesituation früher gekommen zu sein“, hatte Haase dabei angegeben, und hinzugefügt: „Ob man dann den Vorschlag der Finanzverwaltung anders gemacht hätte, wenn man schon gewusst hätte, dass im Juni etwa die Liquidität weg ist, das weiß ich nicht, das muss man die Finanzverwaltung fragen.“
Stufler: Debatten über städtische Finanzen vor Wahl vermieden?
Damit also stellt sich erneut die Frage: Wann genau wusste man in der Finanzverwaltung, dass der städtische Finanzplan ins Minus kippen würde? Der Einbruch bei den Gewerbesteuereinnahmen zeichnete sich bereits Mitte 2023 ab, so weist der Finanzcontrollingbericht der Stadt Mainz mit Datum vom 30. September 2023 einen Steuerrückgang von 32,7 Prozent auf – ein Gewerbesteuerminus von rund 280,67 Millionen Euro, heißt es in dem Zahlenwerk.
Die Freien Wähler hatten Finanzdezernent Beck schon Ende August vorgeworfen, mit dem fehlerhaften Nachtragshaushalt Stadtrat und Öffentlichkeit getäuscht zu haben, dieser hatte das in der September-Sitzung empört zurückgewiesen: „Ich lasse mir von niemand in diesem Stadtrat unterstellen, dass ich mit falschen Zahlen gearbeitet habe oder Fehlinformationen gelegt habe“, wetterte Beck: „Sie können mir nicht unterstellen, dass ich das mit Vorsatz gemacht habe.“
Warum aber der Finanzdezernent dann nach der Rüge der ADD im Dezember 2023 exakt so weiter gemacht, und weder die EDV geändert, noch die Prognosezahlen auch im neuen Nachtragshaushalt angepasst hatte, ist völlig unklar. Spätestens im September 2023 „wäre der Finanzdezernent in der Pflicht gewesen, die Fortschreibung für die drei Folgejahre anpassen zu lassen und dies dem Stadtrat und der Öffentlichkeit mitzuteilen“, kritisierte FW-Stadtrat Erwin Stufler nun: „Dies wäre die Chance gewesen, noch deutlich vor den Kommunalwahlen politisch über den richtigen Weg aus dieser Situation zu streiten, und deutlich früher auch Ausgabenkürzungen und Einnahmeverbesserungen auf den Weg zu bringen.“
Geschehen sei indes nichts, kritisiert Stufler weiter: „Auch nicht, nachdem die ADD im Februar 2024 in einem anderen Kontext die Anpassung der Übersicht über die Entwicklung des Eigenkapitals nochmals angemahnt hatte.“ Stattdessen habe Beck „nichts anderes lässt dieses Verhalten vermuten, weiter auf Zeit gespielt“, wirft Stufler dem Dezernenten vor, und „dem Stadtrat wenige Tage vor der Wahl einen Nachtragshaushalt präsentiert, der für die Haushaltsjahre 2025 und 2026 noch immer Werte enthielt, die mit der tatsächlichen Lage nichts zu tun hatten.“ Stufler forderte: Beck müsse „die Verantwortung für dieses Chaos übernehmen und den Weg frei machen für einen wirklichen Neuanfang,“
Info& auf Mainz&: Die Finanzwerke der Stadt Mainz samt Controllingbericht und Nachtragshaushalten findet Ihr im Ratsinformationssystem der Stadt, öffentlich zugänglich. Mehr zu dem, was die ADD im August 2024 kritisiert hatte, könnt Ihr noch einmal hier nachlesen, mehr zu den bohrenden Fragen der Opposition findet Ihr hier bei Mainz&.